Michael Wersin: "Bach hören"

Eine Anleitung


Tief in barocker Anschauung verwurzelt und dennoch zeitlos erscheint uns die Musik Johann Sebastian Bachs. Eine allgemeinverständlich gehaltene Annäherung an diese faszinierende Musik und an den Menschen, der sie einst geschaffen hat, versucht das vorliegende Buch zu leisten. Dies ist vom Standpunkt unserer heutigen Zeit aus gesehen, der ja einen völlig anderen Blickwinkel bietet als das Barockzeitalter, ein gar nicht einmal so leichtes Unterfangen, das vom Autor aber souverän gemeistert wurde.

Gewiss kann man Bachs Musik aus einer rein hedonistischen Haltung heraus genießen, aus purer Freude am Klang, sie nur um ihrer Schönheit willen hören, ohne dabei tiefer in Bachs musikalischen Kosmos einzudringen. Und doch kann ein weitergehendes Verständnis dieser Musik dem Hörer nicht nur immensen Gewinn eintragen, es kann ihm eine ganz neue Welt eröffnen. Dazu ist es laut Michael Wersin nötig, sowohl in die Tiefe der Musik als auch in die Weite ihres Umfeldes vorzudringen. Zum Umfeld der Musik kommen wir später, zunächst wollen wir in deren Tiefe schauen.

In die Tiefe der Musik vorzudringen definiert unser Autor als "die Struktur der Musik zu durchschauen". Sein Ansatz ist der, dass sowohl der musikinteressierte Laie als auch "der den Anfangsgründen längst entwachsene Leser" von seinem Buch profitieren sollte. Besonders den musiktheoretisch wenig vorgebildeten Leser aber möchte der Autor durch seine Ausführungen in die Lage versetzen, die den Kompositionen Bachs zugrunde liegende Musiktheorie zu verstehen. Das wird nicht immer ganz einfach sein, doch mit ein wenig Mühe, die sich am Ende gewiss lohnen wird, sollte es auch dem Laien gelingen, die polyphonen Strukturen der Bachschen Musik einigermaßen zu durchschauen, denn in Michael Wersin steht ihm ein kundiger und einfühlsamer Führer zur Seite.

Ausgehend von den als Unterrichtsliteratur konzipierten Inventionen und Sinfonien über diverse Vokal-, Orgel- und Orchesterwerke bis hin zu den pianistische Virtuosität erfordernden "Goldberg-Variationen" und der "Kunst der Fuge" spannt Wersin den Bogen seiner Betrachtungen, die er stets passgerecht in den kulturgeschichtlichen Zusammenhang einzubetten versteht. Einige exemplarische Werke Johann Sebastian Bachs werden vom Autor einer eingehenderen Analyse unterzogen. Das beginnt mit der ersten Invention in C-Dur, die im Anschluss der Erläuterungen mit ihrem kompletten Notentext abgedruckt ist. Es folgt eine Besprechung des Choralvorspiels "Vom Himmel kam der Engel Schar", das ebenso wie übrigens auch die meisten der in diesem Band ausführlicher behandelten Werke im vollen Notentext abgedruckt wurde. Bei dem darauf folgenden Exkurs in die Physik geht es um Schwingungsverhältnisse und Intervalle, um die temperierte Stimmung. Dieser Exkurs dient somit auch als Einführung beziehungsweise Überleitung zum "Wohltemperierten Klavier", das dann Gegenstand des folgenden Kapitels ist. Im Detail vorgestellt werden hier Präludium und Fuge in d-moll aus dem ersten Teil des "Wohltemperierten Klaviers".

Wurde im Exkurs über Stimmungen und Intervalle bereits das physikalische Umfeld der Bachschen Musik erkundet, so befasst sich das nächste Kapitel mit der wohl wichtigsten aller Nachbardisziplinen: dem christlichen Glauben und hier in besonderem Maße der lutherischen Theologie. Für Michael Wersin kann kein Zweifel daran bestehen, dass Bach nicht nur seine rein klerikalen Werke, sondern vielmehr sein komplettes Oeuvre aus einer tief religiösen Haltung heraus komponiert hat und sich mit seiner Musik ganz in den Dienst Gottes stellen wollte. Nicht alle Autoren gehen konform mit dieser Meinung und leugnen eine tiefer gehende religiöse Affinität Bachs sowie den theologischen Aussagegehalt seiner Musik. So zum Beispiel Carl Friedrich Zelter als Vorreiter dieser kritischen Position, oder wie in neuerer Zeit Friedrich Blume und Wolfgang Hildesheimer.

Mit "Theologischer Tiefgang in Bachs geistlichen Kantaten" hat Michael Wersin sein nächstes Kapitel überschrieben und zementiert hier noch einmal seinen Standpunkt in Bezug auf Johann Sebastian Bachs Haltung zu Theologie und Religion. Nach dem Cembalo-Concerto in d-moll, der Messe in h-moll, die Bach übrigens für die katholische Liturgie geschaffen hatte, folgen im Schlusskapitel des Buches zwei herausragende Werke aus Bachs letztem Lebensabschnitt: die "Goldberg-Variationen" und "Die Kunst der Fuge". Sie zählen zweifellos zu den Höhepunkten in Bachs reichem Schaffen. Und ganz nebenbei erteilt Michael Wersin seinen Lesern im Zusammenhang mit der "Kunst der Fuge" noch eine kleine Lektion in Zahlensymbolik, wo es unter Anderem heißt: "Die Zahl 14 taucht so häufig in exponierter, bedeutungsvoller Weise in Bachs Werken auf, dass ihr Symbolgehalt hier nicht verschwiegen werden soll. Wenn man die Buchstaben des Alphabets in aufsteigender Folge durchnummeriert, so erhält man für B die 2, für A die 1, für C die 3 und für H die 8.Zusammengezählt ergibt das 14. Die Umkehrung dieser Zahl, 41, steht nach diesem System exakt für J. S. Bach, wobei zu beachten ist, dass im barocken Alphabet i und j nur ein Buchstabe sind; und genau 41 Töne enthält das zweite Thema jener finalen 14. Fuge ..."

Abgesehen von diesen auf der Zahlensymbolik beruhenden Spekulationen bewegt sich der Autor aber stets auf dem festen Boden gesicherter Fakten. Sein Buch 'Bach hören' bietet eine gelungene  Einführung in die barocke Welt des Johann Sebastian Bach und ist jedem Musikliebhaber uneingeschränkt zu empfehlen

(Werner Fletcher; 08/2010)


Michael Wersin: "Bach hören. Eine Anleitung"
Reclam, 2010. 176 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Michael Wersin, geboren 1966, ist Dozent für kirchenmusikalische Fächer in St. Gallen und Luzern, tritt als Sänger und Continuo-Organist mit verschiedenen Profi-Ensembles auf und schreibt als Musikjournalist.

Noch ein Buchtipp:

Winfried Bönig, Tilmann Claus: "Einsteins Violine. Ein musikalisches Sammelsurium"

Wussten Sie, dass erst im Jahr 2639 der letzte Ton eines Orgelstückes von John Cage erklingen wird, das man seit 2001 in Halberstadt spielt? Oder dass sich Dirigenten gelegentlich beim Dirigieren schwere, ja tödliche Verletzungen zufügen, wie der unglückliche Jean-Baptiste Lully am Hof Ludwigs XIV.? Möchten Sie letzte Worte kennenlernen, die in Opern gesprochen werden - wie etwa: "Man töte dieses Weib" (Strauß, "Salome"), "Ein Aff, ein Aff, ein Aff" (Henze, "Der junge Lord")? Oder interessieren Sie sich für Musiker, die zu Mördern wurden? Vielleicht wollen Sie aber auch einfach nur Beethovens Wohnadressen wissen oder die letzten Ruhestätten von Musikern? Oder was die Lieblingsgerichte von Komponisten waren bzw. welche Komponisten einen Bart trugen? Vielleicht interessieren Sie sich für die schönsten Beschimpfungen unter Orchestermusikern oder welche Instrumente ausgestorben sind, welches Gewicht Taktstöcke haben, wie hoch die Gage der Gerühmten ist, welche Hosenrollen es gibt, welche deutschen Städte Orchester haben, welches die größten Orchester der USA sind oder gar, wo Sie selbst ein Orchester anmieten und dirigieren können?
Das alles und unendlich viel mehr erfahren Sie in dem unterhaltsamen, informativen, skurrilen, substanziellen, erhellenden, reizvollen, witzigen, überraschenden, tiefgründigen, sprühenden, bemerkenswerten, innovativen und nicht zuletzt - schrägen musikalischen Sammelsurium. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen