Herta Müller: "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet"


Mit zerzauster Angst oder Das hier kann nicht immer mein Leben sein

"Ich hatte mir abgewöhnt, vor dem Schlafen zu fragen, wie man den Kopf halten soll, damit er die Tage erträgt, weil ich es nicht wusste. Dass man das Schlafen verlernen kann, wenn man sich diese Frage stellt, war mir bekannt. Die erste Woche nach den Zetteln, als ich drei Tage hintereinander bestellt wurde, ging mir nachts kein Auge zu. Die Nerven, die wurden Glitzerdraht. Keine Schwere mehr, die das Fleisch zu wiegen hätte, nur gestreckte Haut, und Luft in den Knochen. Ich musste in der Stadt auf der Hut sein, mir nicht zu entwischen wie im Winter der Atem, oder mich beim Gähnen nicht selber zu schlucken. Ich konnte den Mund nicht so weit öffnen, wie ich innen fror. Ich fing an, mich von etwas Leichterem als mir getragen zu fühlen und Gefallen daran zu finden, je mehr ich innerlich taub war. Andererseits hatte ich Angst, dass die Gespensterei noch schöner wird, und dass ich keinen Finger rühren werde gegen sie und für die Umkehr."

So kunstvoll und lyrisch vermag Herta Müller, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, zu schreiben. In "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet", welches bereits 1999 erschien, zeigt die Autorin in Erinnerungsfragmenten und Episodenreihen, wie das Handeln, Denken und Empfinden der jungen Erzählerin vollkommen von den Ereignissen der "Bestellung" beherrscht wird. Die Angst beherrscht ihren Tagesablauf, und in der Nacht findet sie keine Erholung. In regelmäßig stattfindenden Verhören bei der berühmt-berüchtigten Securitate wird ihr Demütigung beigebracht: "Demütigung, wie soll man es anders sagen, wenn sich am ganzen Körper barfuß fühlt. Nur was dann, wenn sich mit dem Wort nicht viel sagen lässt, wenn das beste Wort schlecht ist."

Was ist vorgefallen?
Die Protagonistin arbeitet in einer Bekleidungsfabrik. Als eines Tages die Lieferung von Herrenanzügen nach Italien vorbereitet wird, begeht sie einen "sozialistischen" Fauxpas: "Ich hatte mir vorgenommen, in den Westen zu heiraten und steckte in zehn Gesäßtaschen je einen kleinen Zettel: Ti aspetto, mein Name und meine Adresse. Der erstbeste Italiener, der sich meldet, sollte es sein. (...) Statt einen Italiener bekam ich den Major. Meine Dummheit schrie mich von innen an, Selbstvorwürfe wie Ohrfeigen, ich war ausgestopft mit Stroh." Major Albu heißt ihr seelischer Peiniger, der sie psychisch besetzt hält: "Durch dein Verhalten werden alle Frauen unseres Landes im Ausland zu Huren gemacht. Was nehme ich dem Land, wenn ich in ein anderes gehe, fragte ich. (...) Wer seine Heimat nicht liebt, der begreift das nicht. Und wer nicht denken kann, muss fühlen."

Müllers Protagonistin fühlt Höhen und Tiefen. Auf ihrer mehr als einstündigen Straßenbahnfahrt vom äußersten Randbezirk der Stadt ins Zentrum, ins Büro des Geheimdienstes, denkt sie nach. Diese Fahrt stellt zugleich die Rahmenhandlung des Romans dar. Sie fungiert als Reise in die Vergangenheit, ins eigene Ich. Neben den gegenwärtigen scharfsichtigen Beobachtungen der Menschen um sie herum werden zwei weitere Stränge aufgerollt. Zum Einen die trostlose Biografie der Erzählerin und zum Anderen die Darstellung der gesellschaftlichen Zustände unter der Diktatur Ceausescus in einem autoritären Staatssystem.

Alles verwebt Herta Müller zu einem deprimierenden, poetisch-surrealen, mit Lakonie durchzogenen Flickenteppich, der sich unweigerlich über dem Leser ausbreitet und sein Emotionszentrum umwickelt. Die Autorin imaginiert Bilder tiefer Verstörung in einer unglaublich beklemmenden Dichte, die schockieren, aber gleichzeitig auch verzaubern. Denn trotz des dunklen Bewusstseinsstroms setzt sie winzige, matte, aber wirkungsvolle Glanzlichter - Augenblicke des kleinen, armen, immer gefährdeten Glücks ihrer Protagonistin. So zum Beispiel deren traurige Liebe zu dem Alkoholiker Paul: "Seitdem ich bestellt werde, trenn ich das Leben vom Glück. Wenn ich zum Verhör gehe, muss ich das Glück von vornherein zu Hause lassen. Ich lass es in Pauls Gesicht, um seine Augen, um seinen Mund, an seinen Bartstoppeln." Oder: "Ich wüsste gern, ob bei anderen Leuten das Hirn für den Verstand und für das Glück ist. Bei mir reicht das Hirn nur, um ein Glück zu machen. Um ein Leben zu machen, reicht es nicht. Jedenfalls nicht, um meines zu machen. Mit dem Glück habe ich mich abgefunden, auch wenn Paul sagt, dass es keines ist. Alle paar Tage sage ich: Es geht mir gut."

Aber die Ich-Erzählerin kann der psychischen Gewalt nicht entkommen. "Das Misslingen des Glücks läuft fehlerfrei und hat uns gebeugt. Glück ist eine Zumutung geworden, und mein verkehrtes ein Hinterhalt." Der Roman endet, als die Erzählerin die Straßenbahn verlässt. In ihrem Handgepäck befinden sich zum ersten Mal Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste. Hat sie eine Vorahnung, dieses Mal nicht von Major Albu entlassen zu werden? Steuert Herta Müller ihre Heldin unerbittlich in die Ausweglosigkeit?

Fazit:
"Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" ist ein schockierendes, ein nachhaltiges Buch, das für die Grausamkeit schöne Worte findet.
"Seit den Zetteln für Italien hab ich keinem Menschen mehr geschrieben. Nur hie und da einem was erzählt, reden muss man, schreiben nicht." Herta Müller hat es trotzdem getan. Zum Glück!

(Heike Geilen; 11/2009)


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