Guillermo Martínez: "Roderers Eröffnung"


"Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält" (Faust I)

"Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. / Da steh' ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor! / Heiße Magister, heiße Doktor gar, / Und ziehe schon an der zehen Jahr' / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase herum - / Und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen."
Mit diesen Sätzen beginnt die Szene "Nacht" aus dem wohl berühmtesten Werk Johann Wolfgang Goethes. Der Gelehrte Faust hat sich alles Wissen angeeignet, das die Welt bieten konnte, und ihn erfüllt dennoch Verzweiflung. Zurückgezogen in sein Studierzimmer sucht er schließlich seine innere Erfüllung durch das Hinwenden zur Magie, um den Sinn des Lebens zu erkennen.

Parallelen zum Lebenswerk des großen deutschen Dichters sind in dem Roman "Roderers Eröffnung" des promovierten Mathematikers und Schriftstellers Guillermo Martínez durchaus zu finden: Zusammenhänge verstehen, hinter die Dinge blicken, Bildung, die einem das Fenster zur Welt öffnet. Aber manchmal liegen Genie und Wahnsinn dicht beieinander. Was, wenn man nicht mehr aufhören kann, wenn Erkenntnisgewinn zur Sucht wird? "Manchmal ... wird es unerträglich. Es wächst immer weiter an und saugt alles auf, will alles für sich. Das ist auch gut so: es muss eine gewisse Besessenheit erzeugen. Aber dann weiß ich nicht, wie ich dem Einhalt gebieten könnte, ich kann einfach nicht die Bücher schließen und mir ruhig sagen: Morgen mache ich weiter", lässt der Autor seinen titelgebenden Protagonisten Gustavo Roderer dem gleichaltrigen Ich-Erzähler, Abiturient und Klassenbester, eröffnen.

Zwei interessante, durch eine Art Hass-Liebe miteinander verbundene Charaktere
Letzterer, heimlicher Schachmeister seines Heimatortes, trifft Roderer das erste Mal in einer Bar und wird von dem Neuling in einer zunächst harmlos anmutenden Schachpartie gnadenlos an die Wand gedrückt. Das Spiel der beiden hochintelligenten jungen Menschen mit den schwarzen und weißen Figuren offeriert bereits bei diesem ersten Zusammentreffen ein Äquivalent ihrer nun folgenden eigentümlichen Beziehung. "Dieses Duell, bei dem ich der einzige Kämpfende war und nichts als Fehlschläge landete. Denn das war vielleicht das Merkwürdigste: Roderer schien keinem Gegenangriff gewillt, keine sichtbare Bedrohung schwebte über meinen Figuren, und dennoch empfand ich jedes seiner Manöver als eine dunkle Gefahr, die Ahnung ließ mich nicht los, dass sich dort subtil und unausweichlich etwas anbahnte, das es mir nicht zu greifen gelang."

Zwei interessante Charaktere hat der argentinische Autor entworfen, die durch eine Art Hass-Liebe miteinander verbunden sind. Zum Einen der Ich-Erzähler, hochintelligent, aber trotzdem im realen Leben stehend und sich der Wirklichkeit stellend. Und zum Anderen der unangepasste Sonderling, der sich in kein soziales Gefüge einordnen kann, dem Unterricht nicht folgt und stattdessen seine eigenen Bücher liest (u. a. Hegels Logik, die "Göttliche Komödie" auf Italienisch und eben jenen "Faust I" auf Deutsch). Es jagt ihn die Zeit. Er will dem wahren, dem absoluten Wissen auf die Spur kommen. "Natürlich nicht durch die vier oder fünf Gesetze, mit denen sich die Menschen die Zeit vertreiben; nicht durch das Überflüssige, die erlaubte Quote an Erkenntnis, sondern durch das wahre Wissen, den Logos, den sich Gott und der Teufel vorbehalten."

Die (Un-)Möglichkeit des absoluten menschlichen Erkenntnisvermögens
Ihr gemeinsamer Lehrer Dr. Rago klassifiziert die beiden jungen Hochintelligenten treffend in zwei divergente Grundtypen: "Da wäre zum einen [...] die assimilierende Intelligenz, die ähnlich wie ein Schwamm alles sofort in sich aufsaugt, die vertrauensvoll vorangeht und von anderen aufgestellte Beziehungen und Analogien selbstverständlich anerkennt, die im Einverständnis mit der Welt ist und sich in allen geistigen Domänen in ihrem Element fühlt." Bei Roderers Genius hingegen handelt es sich "um eine Art von Intelligenz, die die gewohnten geistigen Bahnen, die gängigen Argumente, alles Bekannte und Bewiesene als befremdlich oder häufig sogar als feindlich empfindet. Für diese Intelligenz ist nichts 'normal', sie nimmt nichts an, ohne gleichzeitig eine gewissen Ablehnung zu verspüren. [...] Doch es drohen ihm zwei noch viel schlimmere Gefahren: Wahnsinn und Selbstmord."

Während der Ich-Erzähler schlussendlich in eine andere Stadt zieht, studiert und ein eigenes Leben beginnt, zieht sich Roderer immer mehr zurück. Er verbringt Tage und Nächte in seiner "Studierstube" mit Unmengen an philosophischer Literatur und Analysen mathematischer Theoreme, nimmt nichts mehr um sich herum wahr und schließt seine Familie und die Frau, die ihn liebt, von seinem Leben aus. Genau wie Goethes Faust zerbricht er letztendlich an der (Un-)Möglichkeit des absoluten menschlichen Erkenntnisvermögens.

Bereits 1992 erschien das Buch unter dem Titel "Acerca de Roderer" im Heimatland des Autors. Guillermo Martínez feierte mit seinen Kriminalromanen "Der langsame Tod der Luciana B." und "Die Pythagoras-Morde" bereits große Erfolge.

Fazit:
Guillermo Martínez beschäftigt sich genau wie Goethe in seinem Faust mit der Frage, ob Intelligenz Fluch oder Segen, Verhängnis oder Glück ist. "Roderers Eröffnung" offeriert auf hohem literarischen Niveau einen intelligent-intellektuellen "Spaziergang" durch die "Gärten" der Mathematik, der Logik, der Philosophie und letztendlich der Literatur. Ein durchaus beeindruckendes Frühwerk des Argentiniers, das gleichfalls Parallelen zu seinem eigenen Werdegang aufweist.

"Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum." (Faust I)

(Heike Geilen; 03/2009)


Guillermo Martínez: "Roderers Eröffnung"
(Originaltitel "Acerca de Roderer")
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn Berlin, 2009. 118 Seiten.
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