Jürgen Overhoff: "Vom Glück, lernen zu dürfen"

Für eine zweckfreie Bildung


Zweckfreies fröhliches Lernen

Das vorliegende Buch möchte ein Plädoyer sein "Für eine zweckfreie Bildung" (Untertitel) - Lernen kann nicht allein unter den Zwängen wirtschaftlicher Notwendigkeit gesehen werden, es sollte wieder als Zeichen der menschlichen Würde und Freiheit begriffen werden, wie dies die führenden Aufklärer des 18. Jahrhunderts propagierten. "Lebenslanges Lernen" steht als Grundsatz deutscher und europäischer Bildungspolitik in allen Programmen - allerdings, so beklagt es Overhoff, wird immer nur ein eindimensionales Lernen unter ökonomischer Orientierung angestrebt. Unter diesem Aspekt gerät das Lernen zum zwanghaften Überlebenstraining, um sich im Wettbewerb zu behaupten. Wie im Zeitalter der Aufklärung möchte Overhoff das Lernen wieder als "Verheißung" verstehen, als "einen vielversprechenden Weg zur Entfaltung der in uns allen angelegten intellektuellen und emotionalen Möglichkeiten". Er möchte ein "glückliches Lernen" neu entdecken, welches mit Freude und Lust praktiziert wird. Dass dieses Lernen auch von großem "Nutzen für das bürgerliche Leben" sei, war schon den Aufklärern bewusst. Overhoff möchte nun eine Art "Kanon der wichtigsten pädagogischen Schriften des 18. Jahrhunderts" vorlegen, indem er elf Aufklärer mit ihren Ideen genauer vorstellt.

Als "Urquelle aller Erziehungsentwürfe und Lernprogramme" wird John Lockes Schrift "Some thoughts concerning education" (1693) angesehen. Er möchte die natürliche "Wissbegierde" der Kinder pflegen und die "Lust am Lernen", welche er sich spielerisch und fröhlich entfalten lässt, um die Schüler zu "selbstständig lernenden und glücklichen Menschen" mit "geistiger Frische und mentaler Beweglichkeit" heranzubilden. Lernen solle Spiel und Erholung sein - dann würden die Kinder regelrecht ein "desire to be taught" entwickeln.

In Deutschland versucht Reimarus die Ideen Lockes fortzuführen, indem er mit seiner Schrift "De philosphiae in re scholastica usu" (1723) die Philosophie für die Schule nutzbar machen möchte, um den Schülern beizubringen, was Vernunft ist und wie man den eigenen Verstand am besten einsetzt. Die Befähigung zur Logik führt für ihn zum menschlichen Glück, die Schüler sollen kritisch und vorurteilsfrei sein und eigenständig denken. Für Johann Jakob Bodmer sind Einbildungskraft und "politische Phantasie" wichtig, damit sich die Schüler später auch als Erwachsene für eine freiheitliche Gesellschaft einsetzen. Seine Gedanken legt er zusammen mit Breitinger in dem Traktat "Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Kraft" (1727) nieder. Auch ihm liegt an "vergnüglichem Wissenszuwachs", indem man durch fantasievoll vorgetragene "Erzehlungen" die Schüler "ergetzet".

Während es Christian Fürchtegott Gellert um die "Reinheit des Lernwillens" ging, indem mit Lust und Verstand die Unterscheidung von Gut und Böse unternommen wird, stand für Benjamin Franklin die "Gemeinnützigkeit" im Mittelpunkt. Dem gegenüber pflegte Jean-Jacques Rousseau das "Mitgefühl" als zentrale Kategorie. In seiner Erziehungsschrift "Emile" (1762) möchte er vorführen, wie junge Menschen den "Gebrauch ihrer Freiheit" erlernen können. Dabei lesen sich viele Passagen des "Emile" wie Paraphrasen von Lockes "Some thoughts concerning education". Die Kenntnis "erhabener Gefühle" solle auch die Urteilsfähigkeit sowie das Verstehen des Schönen und der "moralischen Bezüge der Wesen untereinander" fördern.

Einen viel umfassenderen Ansatz wagt Immanuel Kant, der die Französische Revolution als ein "eminent pädagogisches Experiment allergrößten gesellschaftlichen Maßstabs" sieht. Erziehung soll dem Menschen helfen, "in Freiheit das Gute aus sich selbst herauszubringen." In der geistigen Nachfolge von Reimarus möchte er schon seinen Studenten das selbstständige Denken schmackhaft machen, sie sollen ihr Wissen "forschend" erwerben und nicht "dogmatisch": "Sie werden bei mir nicht Philosophie lernen, aber - philosophieren!" In seiner Schrift "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784) kommt er sowohl auf die Freuden als auch auf die Pflichten des Lernens zu sprechen. Auch zum fröhlichen Lernen bedürfe es immer wieder der Überwindung der eigenen Lethargie. In seiner Schrift "Über Pädagogik" (1803) plädiert Kant für das exemplarische Lernen - es genüge, in der Schule Weniges gründlich zu lernen, um sich später als Autodidakt weiterzubilden. Das Lernen sei insofern eine Pflicht des Menschen, als er "seine Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln" habe. Kant sieht das Ziel darin, dass das Lernen, auch ohne einem beruflichen Zweck zu dienen, glücklich macht - eine "mit Freuden erworbene Weisheit" macht uns glücklich.

Nun stellt sich freilich die Frage, was uns Overhoff damit sagen will, dass er uns diese aufklärerischen Erziehungsideen neuerlich referiert und sie auch aus ihrem jeweiligen sozialen und historischen Kontext heraus bewertet. Das heutige Bildungswesen soll wohl eher fürs Geldverdienen qualifizieren - und der heutige Schüler ist zwar orientiert auf "Spaß", dies aber aus Freizeitmentalität anstelle von "natürlicher Wissbegier". John Locke, der "große Pionier der Aufklärungspädagogik" hat zwar viele Theoretiker inspiriert - aber die Bildungspolitiker scheinen sich zu verweigern, und die Lehrer an der Klassenfront resignieren zusehends in einem Umfeld, wo ihnen überehrgeizige Eltern überforderte Kinder aufbürden - und sich als neue Qualität einer Parallelgesellschaft die sogenannten "bildungsfernen Schichten" aufbauen. Heutzutage geht es wohl kaum noch um das Vergnügen am oder das Glück durch Lernen - es geht um "Job", "Karriere", "Standort behaupten" und sich "gut aufstellen". Es geht scheinbar nur noch um einen "Wettbewerbsvorsprung in globaler Hinsicht", im Zuge dessen die geistigen Ressourcen der jungen Menschen ausgebeutet werden sollen.

Freilich gilt es zu berücksichtigen, dass die im vorliegenden Buch besprochenen Aufklärer "pädagogisch und politisch wirksame Gesellschaftsreformer" waren, die sich für die Verwirklichung von persönlicher Freiheit und Menschenrechten einsetzten. Somit waren sie Sympathisanten gesellschaftlicher Veränderungen - was man von unseren heutigen Bildungspolitikern sicherlich nicht behaupten darf. Lernen muss wieder als gesellschaftliches Bedürfnis entdeckt werden, um sich kritisch und engagiert am öffentlichen Leben beteiligen zu können. Und so ist Overhoffs Buch als ein Plädoyer zu verstehen in der Nachfolge der Aufklärer, die "das Lernen, den umfassenden und beständigen Wissenszuwachs, das unablässige Streben nach geschichtlicher, naturwissenschaftlicher und moralischer Erkenntnis mit glühenden Worten als tiefen Sinn des Lebens beschrieben" haben. Was in unserer ökonomisch bestimmten Welt so altmodisch und praxisfern klingen mag, wird im Kern wohl die einzige Überlebenschance einer humanen Zukunftsgesellschaft sein. Insofern gilt die Rückbesinnung in diesem Buch wieder einmal im Sinne der Erkenntnis: wer größere Sprünge (nach vorne) machen will, muss vorher Anlauf (von weiter hinten) nehmen, damit er genügend Schwung bekommt.

(KS; 03/2009)


Jürgen Overhoff: "Vom Glück, lernen zu dürfen. Für eine zweckfreie Bildung"
Klett-Cotta, 2009. 272 Seiten.
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Jürgen Overhoff, geboren 1967 in Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Politologie. Zwischen 1999 und 2007 war er am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam tätig. Er lehrt an der Universität Hamburg Historische Pädagogik und Neuere Geschichte.

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Peter Struck: "Lernen lernen. Bildung und Erziehung nach PISA"
Im Jahr 2000 ereilte Deutschland der berühmt-berüchtigte "PISA"-Schock. Doch schon zuvor und auch danach haben internationale Vergleichsstudien den Deutschen bescheinigt, dass sie keine guten Schulen hätten. Die Folge war, dass in keinem Land der Welt so viel über Erziehung und Bildung geredet wurde wie in Deutschland, in keinem anderen sich aber auch so wenig bewegte. Inzwischen ist das allerdings anders: Die deutschen Schulen haben sich gewandelt in Richtung von mehr Erziehungs- und Bildungseffizienz. Klar ist aber auch, dass eine Schule keine "pädagogische Insel" ist, sondern dass sie sich im Umfeld des gesellschaftlichen und des familiären Wandels behaupten muss. Bildung ist also nicht unabhängig vom erzieherischen Rahmen zu sehen.
Der renommierte Erziehungswissenschaftler Peter Struck bezieht in diesem Buch Stellung zu wichtigen aktuellen Fragen und Tendenzen der Erziehungs- und Bildungsdebatte in Deutschland. (Primus Verlag)
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Leseprobe:

Prolog oder Das Lernen als große Verheißung

Spätestens seit dem PISA -Schock und gerade auch im Zuge der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft wird von deutschen und europäischen Bildungspolitikern jeglicher Couleur immer häufiger und mit immer größerem Nachdruck die Forderung vorgetragen, daß lebenslanges Lernen nunmehr eines der überragenden Gebote der Stunde sei. Dabei wird das Lernen vorrangig als zentrale Aufgabe jedes gewissenhaften Bürgers definiert, der danach strebt, auf dem immer anspruchsvolleren Arbeitsmarkt der sich formierenden Wissensgesellschaft mithalten zu können. Augenscheinlich erlauben es die rasanten Veränderungen im Arbeitsleben unserer Gesellschaft kaum noch, ein Leben lang im gleichen Beschäftigungsfeld tätig zu sein. Das beständige Hinzulernen, die stetige Weiterbildung, so scheint es, ist demnach eine der ersten Bürgerpflichten geworden, die man auch schon Kindern (möglichst im Vorschulalter) beizeiten nahe bringen sollte.

An immer neuen Bildungsprogrammen, die lebenslanges Lernen als Leitlinie und offizielles Ziel europäischer und deutscher Bildungspolitik ausweisen, herrscht denn auch kein Mangel. Die meisten der aktuellen deutschen Programme sind den einschlägigen Vorgaben der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung verpflichtet, wie sie in der 2004 veröffentlichten Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland nachzulesen sind. Mit ihrer Empfehlung, "lebenslanges Lernen zu einer Selbstverständlichkeit in jeder Bildungsbiografie werden zu lassen", ist die deutsche Bund-Länder-Kommission wiederum einer entsprechenden Entschließung des Rates der Europäischen Union aus dem Jahr 2002 gefolgt, in der sämtliche Mitglieder der Staatengemeinschaft ausdrücklich ersucht werden, "umfassende und kohärente Strategien" zur Förderung des lebenslangen Lernens auszuarbeiten. Denn erst wenn alle ständig lernen, so der Europäische Rat, wird "die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" werden können, der allein "ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen" garantiert.

Das Urdokument und zugleich der gemeinsame Bezugspunkt all dieser Bestrebungen ist jedoch das bereits im Jahr 2000 von der Europäischen Kommission verabschiedete Memorandum über Lebenslanges Lernen. In dieser Denkschrift sind erstmals jene bildungspolitischen Leitvorstellungen und Standards in verbindlicher Form definiert worden, die seither "richtungsweisend für die künftige Politik und Aktionen der Europäischen Union" sind. Wer immer heute im nationalen, europäischen oder auch regionalen Rahmen öffentliche Gelder zur Finanzierung von Förderprogrammen beantragt, die dem lebenslangen Lernen gewidmet sind, wird deshalb kaum umhin kommen, in seinen Projektvorschlägen Geist und Gehalt des Memorandums genau zu beachten und grundsätzlich zu bejahen.

Leider zeugt der Wortlaut des Memorandums von einer sehr eindimensionalen Lesart des Lernens, da er nahezu ausschließlich die ökonomische Bedeutung des Lernens betont, was sich auch in den auf ihn bezogenen und bereits zitierten deutschen Bildungsprogrammen in aller Eindeutigkeit widerspiegelt. Darüber hinaus ist der Text der Denkschrift von einer derartigen Krisenrhetorik geprägt, daß den Leser notgedrungen das beklemmende Gefühl beschleicht, mit einer unvergleichlich schwierigen, ja gefährlichen historischen Situation konfrontiert zu sein. Tatsächlich weist das Memorandum unentwegt darauf hin, daß die Art und Weise, wie moderne Volkswirtschaften "den Wettbewerb untereinander austragen", heute sehr viel "größere Risiken und Unsicherheiten" für den einzelnen Bürger mit sich bringt, als die wirtschaftlichen Gepflogenheiten früherer Jahre.

So erlebten die europäischen Nationen momentan einen noch nie dagewesenen, "tiefgreifenden Wande[l] der Produktionsverfahren, der Handelsströme und der Investitionsmuster", der die eingefahrenen und zur Gewohnheit gewordenen Lebens- und Arbeitsmuster zwangsläufig zu Auslaufmodellen degradiere. Vor allem die "digitale Technik", die fundamentale "Änderungen in sämtlichen Bereichen des Lebens der Menschen herbeiführe", mache völlig neue Kenntnisse erforderlich. Verstärkt gefragt sei daher die Tugend der raschen "Anpassungsfähigkeit", um den sich wandelnden gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen zu entsprechen und damit die eigene Arbeitsfähigkeit erhalten zu können. Die möglichst zügige und flächendeckende Implementierung lebenslangen Lernens sei daher auch eine "unabdingbare Voraussetzung" für "die Beschäftigungsfähigkeit im Europa des 21. Jahrhunderts". Sie sei geradezu der "Schlüssel" zum persönlichen Erfolg in der »wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft« der Zukunft. Denn nur der permanent lernwillige, "von der Wiege bis zum Grab" täglich hinzulernende Mensch werde verläßlich dazu befähigt, in der "Informationsgesellschaft" überhaupt bestehen und flexibel auf die sich rasant verändernden Umweltbedingungen reagieren zu können. Wer nicht lernt, nicht lernen will, nicht lernen kann, bleibt also - wie es im Memorandum resümierend und ohne Ironie in bewußt drastischen Worten heißt - "auf der Strecke".

Nun ist diese (Über-)betonung der ökonomischen Bedeutung eines lebenslangen Lernens möglicherweise sachlich nicht ganz falsch, doch klingt sie wenig verheißungsvoll. Denn durch den suggestiven Verweis auf machtvolle wirtschaftliche Zwänge wird die Aufforderung zum beständigen Lernen doch eher als eine bedrückende Botschaft empfunden. Im Vordergrund steht eine neue Beschwernis, die Last, nicht die Lust des Lernens. Doch geht es beim Lernen wirklich in der Hauptsache darum, sich an seinem jeweiligen (nationalen) "Standort" gut "aufzustellen", um dann aufdringliche Wettbewerber mit einer gezielt lancierten "Bildungsoffensive" auszustechen? Ist das Lernen tatsächlich seinem innersten Wesen nach eine Art Überlebenstraining, das notgedrungen absolviert werden muß, wenn man seine wirtschaftliche Existenz sichern will? Muß man wirklich gezwungenermaßen Tag für Tag aufs neue lernen, oder ist es nicht viel eher ein Zeichen der persönlichen Freiheit , also ein Privileg und ein großes Glück, lernen zu dürfen?

Vielleicht könnten europäische und deutsche Bildungspolitiker ein größeres Maß an Gelassenheit zurückerobern und bessere, weil menschenwürdigere Begründungen für die Bedeutung des lebenslangen Lernens liefern, wenn sie dafür zu gewinnen wären, den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel mit durchaus ähnlichen Entwicklungen der europäischen Geschichte zu vergleichen. Vielleicht ließe sich ja aus der Geschichte lernen, könnten frühere Erfahrungen neu bedacht werden, zum Nutzen und Vorteil auch der jetzt lebenden Generation. Denn daß die heutigen sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse möglicherweise doch nicht so ganz ohne historische Parallelen sind, wie es vielfach unterstellt wird, scheinen selbst die Verfasser des europäischen Memorandums zu erahnen: Ohne diesen Zusammenhang näher zu illustrieren oder zu erklären, wird dort nämlich beiläufig behauptet, daß Europa heute einen Wandel erlebe, dessen "Ausmaß" allenfalls mit dem der - Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden - "industriellen Revolution" zu vergleichen sei.

Tatsächlich schlägt dieser nur vage angedeutete Vergleich zwischen unserer Zeit und dem 18. Jahrhundert eine sehr hilfreiche Brücke vom 21. Jahrhundert ins Zeitalter der Aufklärung - und eröffnet damit höchst interessante Perspektiven. Denn, so kurios es zunächst klingen mag, die heutigen Aufrufe zum lebenslangen Lernen mit ihrer effektvoll vorgetragenen Begleitmusik immer neuer Bildungsprogramme sind so neuartig nicht: Schon vor 300 Jahren, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, begannen die führenden Pädagogen und hellsichtigsten Lehrer Europas ihre Regierungen und Mitbürger mit einer derartigen Vehemenz und mit einem solchen Erfolg auf die gesellschaftliche Bedeutung des Lernens, der Bildung und der Erziehung aufmerksam zu machen, daß dieses Säkulum schon von den Zeitgenossen als "unser pädagogisches Jahrhundert" tituliert und gefeiert wurde.

Wohl ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß in der uns bekannten Geschichte der Menschheit kaum eine Epoche so sehr von der Bedeutung des Lernens erfüllt war wie das Zeitalter der Aufklärung. Viele der bildungspolitischen Ziele dieses lernbesessenen Jahrhunderts entsprachen den heutigen Forderungen nach einer größtmöglichen Stärkung der gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit bereits voll und ganz. Denn der Wunsch, effektiv, flexibel, wettbewerbsfähig und wirtschaftlich erfolgreich zu sein, war dem 18. Jahrhundert keineswegs fremd. Immerhin veröffentlichte Adam Smith, der Wegbereiter des Kapitalismus und Begründer der Theorie der Marktwirtschaft, sein wirtschaftswissenschaftliches Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen schon 1776. Er selbst konnte zu diesem frühen Zeitpunkt auf etliche moderne, von ihm favorisierte ökonomische Praktiken verweisen, die bereits seit der Wende zum 18. Jahrhundert in der Ausbreitung begriffen waren.

Allerdings argumentierten die überzeugendsten und kompetentesten Verfechter eines gesteigerten gesellschaftlichen Lernwillens damals im Grunde völlig anders als die Mehrheit der heutigen Bildungspolitiker. Denn gerade den pädagogisch ambitioniertesten und einflußreichsten Aufklärern ging es zuerst und wesentlich darum, das Lernen als eine große Verheißung darzustellen: Verheißungsvoll schien ihnen die Aktivität des Lernens deswegen zu sein, weil, wie sie feierlich postulierten, der Mensch nur durch seine beständige Weiterbildung dazu befähigt würde, die in ihm angelegten intellektuellen und emotionalen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, sein Leben sinnvoll zu meistern und damit seiner Bestimmung gerecht zu werden: Erst als ein sich über seine Welt immer neu verständigender Lernender würde sich der Mensch seines Daseins so recht erfreuen können.

Freude, dazu auch Lust, Verlangen und Liebe: Das sind die wichtigsten Stichworte, mit denen jene im 18. Jahrhundert so lebhaft geführte Debatte über die Bedeutung des Lernens angestoßen wurde - und zwar zuerst und vor allem durch die Schriften des großen englischen Philosophen, Arztes und Hauslehrers John Locke. In seinem bereits 1693, also an der Schwelle zum neuen Säkulum veröffentlichten Buch Some thoughts concerning education sprach zwar auch er davon, daß ein stetes Lernen von großem Nutzen für das bürgerliche Leben sei. Doch in der Hauptsache hob Locke hervor, daß das Lernen - ganz ungeachtet seines möglichen Nutzens für die Sicherstellung des beruflichen Fortkommens und des persönlichen Wohlstandes - bereits an und für sich ein unendliches Vergnügen und ein unvergleichlicher Genuß sei. Lernen bedeutete für Locke vor allem, zweckfrei nach beglückender Erkenntnis und nach persönlicher Erfüllung zu streben.

Dieser von Locke vorgegebene Tenor des glücklichen Lernens prägte den Diskurs und das Schrifttum über Bildung und Erziehung im Europa der Aufklärung wie kein zweiter Text. Sogar der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der das Lernen nach Ablauf des 18. Jahrhunderts als einer der letzten großen Aufklärer dieser Epoche auch als Pflicht beschrieb - und in seinem 1803 publizierten Buch Über Pädagogik betonte, daß ein gewisser Zwang bisweilen nötig sei, um den Menschen von dieser Pflicht zu überzeugen -, verstand das Lernen dennoch nicht als freudlose Angelegenheit. Im Gegenteil: Wie Locke wußte er und hielt daran fest, daß das beständige Lernen - auch wenn es in gewissen Momenten nicht ohne Einsatz einer gehörigen Portion Selbstdisziplin auskommt - ganz wesentlich als überaus köstliches Spiel des Witzes zu begreifen war, das höchsten Genuß versprach. Daß das Lernen geistige Freuden ganz besonderer Art bereithielt, stand somit selbst für Kant außer Frage. Deshalb wurde er auch nicht müde, die Lust, die durch die intellektuelle und kreative Tätigkeit des Lernens bereitet wird, in seinen pädagogischen Schriften an exponierter Stelle zu thematisieren und als ein großes Glück zu beschreiben.

Im Vergleich zu den viel zu technokratischen und immer von einem eigenartigen wirtschaftswissenschaftlichen Jargon durchzogenen Bildungsprogrammen der heutigen Zeit nahm sich das Vokabular der pädagogisch interessierten Aufklärer also allemal lustbetonter, fröhlicher und leidenschaftlicher aus. Und wenn an dieser Stelle ganz allgemein von den Aufklärern die Rede ist, dann geschieht das weder unüberlegt noch zu unrecht verallgemeinernd, sondern aus der festen Überzeugung heraus, daß alle führenden Aufklärer des 18. Jahrhunderts - trotz mancher Unterschiede im Detail - jene fundamentale, von Locke übernommene pädagogische Auffassung einte, derzufolge man Kinder und Erwachsene überhaupt nur dann für das beständige Lernen würde motivieren können, wenn man ihnen den permanenten Wissenserwerb zunächst als eine der ursprünglichsten menschlichen Freuden erfahrbar gemacht hatte. Wegen dieses einen gemeinsamen pädagogischen Bezugspunktes wurde Lockes Schrift Some thoughts concerning education auch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ganz ausdrücklich als "Urquelle" aller Erziehungsentwürfe und Lernprogramme des Zeitalters der Aufklärung verehrt und gefeiert.

Wer immer also heute ein echtes Interesse daran hat, das Lernen - und erst recht das lebenslange Lernen - als ein für alle verbindliches gesellschaftliches Ziel zu deklarieren, ist gut beraten, sich mit möglichst unbefangener Neugier den wichtigsten Aufklärern des 18. Jahrhunderts zuzuwenden, um von ihnen Rat und Weisung auch für pädagogische Fragen unserer Zeit einzuholen. Denn die von diesen Lehrern, Schulmännern, Philosophen und Publizisten im Verlauf eines pädagogisch bewegten Jahrhunderts gemachten Erfahrungen sind viel zu bedeutsam, um dem Vergessen überantwortet zu werden. Sie können somit - übrigens auch im Unterschied oder in Ergänzung zu den jetzt immer populärer werdenden neurobiologischen und kognitionspsychologischen Deutungen des effektiven Lernens - als wertvolles bildungshistorisches Korrektiv verstanden werden. Deshalb wollen sie auch sorgsam bedacht sein, wenn die heutigen Appelle an die ständige Lernbereitschaft der Menschen fruchten und eine segensreiche Wirkung entfalten sollen.

Bei der erwünschten Hinführung zu den zentralen pädagogischen Einsichten der Aufklärer will der nun folgende narrative Essay auf seine eigene Weise einen besonderen Beitrag leisten. Erzählt und vorgestellt werden soll das erziehungsreformerische Bemühen des Zeitalters der Aufklärung nämlich im Folgenden als Geschichte des pädagogischen Denkens und Handelns von elf bedeutenden Persönlichkeiten, die sehr entscheidende und für ihre Epoche ganz und gar repräsentative Akzente im damals leidenschaftlich geführten Diskurs über das Lernen setzten: John Locke, Joseph Addison, Hermann Samuel Reimarus, Johann Jakob Bodmer, Christian Fürchtegott Gellert, Benjamin Franklin, Jean-Jacques Rousseau, Johann Bernhard Basedow, Moses Mendelssohn, Mary Wollstonecraft und Immanuel Kant.

Sie alle, zehn Männer und eine Frau, zehn Christen und ein Jude, zehn Europäer und ein Amerikaner - die auch in diesem Zahlenverhältnis die pädagogische Avantgarde des 18. Jahrhunderts getreu repräsentieren - betätigten sich nicht nur ohne Ausnahme als Lehrer, Dozenten und in manchen Fällen sogar als Schulgründer, sondern beschrieben in ihren stilistisch meisterhaften Schriften zugleich elf für das Lernen bedeutsame Eigenschaften, die sich bis heute geradezu als Tugendkatalog des vergnüglichen und erfolgreichen Lernens lesen: Neben der immer wachzuhaltenden Lernlust, also der natürlichen Wißbegierde , sind dies das Training einer genauen Anschauung, der rechte Gebrauch der Vernunft, die Schulung der Einbildungskraft, das Beherzigen von Aufrichtigkeit, der Anspruch auf Gemeinnützigkeit, das Kultivieren von Mitgefühl, das Einfordern von Toleranz, Tröstung durch Gottvertrauen, der Kampf um Chancengleichheit und der Zwang zur Selbstdisziplin. Als gute Pädagogen wußten sie eben sehr genau, daß es beim Lernen nicht um das bloße Sammeln von Fakten geht, sondern um den Erwerb von Einstellungen und Haltungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie um Ausdauer und Freude.

Indem sowohl das allgemeine erzieherische Wirken der ausgewählten elf Aufklärer wie auch die von ihnen gesetzten besonderen pädagogischen Akzente nun in elf einzelnen, von Dekade zu Dekade fortschreitenden Kapiteln dargestellt werden, läßt sich überdies jedes Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in seiner ganzen Eigenheit auf pädagogischem, politischem und ökonomischem Gebiet ausführlich betrachten. Da jedes Kapitel zudem einen ganz bestimmten Ort vorstellt, an dem die Protagonisten dieser Erzählung entweder hauptsächlich tätig waren oder ihre wichtigsten Texte verfassten, vortrugen und veröffentlichten, kann sich der Leser zugleich ein Bild von einigen der wichtigsten Stätten der europäischen und amerikanischen Aufklärung und von den dort entwickelten Grundgedanken klassischer Pädagogik machen.

Schließlich wird in jedem Kapitel jeweils ein zentraler Text der behandelten Aufklärer in aller Ausführlichkeit gewürdigt und interpretiert, so daß sich am Ende des Buches so etwas wie ein Kanon der wichtigsten pädagogischen Schriften des 18. Jahrhunderts extrapolieren läßt. Die Kenntnis dieses Kanons - der unser unaufgebbares pädagogisches Erbe der Aufklärung ausmacht - sowie das Wissen um die historischen Umstände, die zu seiner Entstehung führten, sollte dann dazu beitragen, daß auch wir Heutigen das Lernen wieder viel stärker als große Verheißung betrachten, also als einen vielversprechenden Weg zur Entfaltung der in uns allen angelegten intellektuellen und emotionalen Möglichkeiten, den wir - ungeachtet aller ökonomischen Fragen, Problemen oder Zwängen unserer Zeit - fröhlich und guten Mutes beschreiten dürfen. (...)

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