Necla Kelek: "Bittersüße Heimat"

Bericht aus dem Inneren der Türkei


Woher kommt, wohin treibt die Türkei?

Nachdem sich Necla Kelek in ihren bisherigen Büchern in erster Linie mit den Lebensumständen männlicher und weiblicher Türken in der Bundesrepublik Deutschland auseinandergesetzt hat und der Möglichkeit für diese, sich dort zu integrieren, geht sie diese Thematik in "Bittersüße Heimat" sozusagen aus der Gegenrichtung an. Denn die Diskussionen über einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU wirft auch die Frage auf, inwiefern die Türkei den EU-Aufnahmekriterien entspricht - und ob die EU überhaupt hinreichend auf die Aufnahme der Türkei vorbereitet ist, die immerhin einen enormen Anwuchs der EU-Bevölkerung mit sich bringen würde.

Im Jahr 2008 beschloss die Autorin darum, nach immerhin 40 Jahren Abwesenheit, ihr Herkunftsland wieder aufzusuchen, um es näher zu erkunden. Ausgehend von Istanbul begibt sie sich begleitet von ihrem Mann in verschiedene Städte und tief ins bergig-ländliche Anatolien, um die Verfasstheit der türkischen Bevölkerung und auch der Verwaltungen genauer unter die Lupe zunehmen. Hierbei arbeitet sie mehrere große Themenbereiche ab, wobei sie zwischen ihren eigenen Kindheitserfahrungen der Türkei, Berichten Anderer, historischen Exkursen und aktuellen Beobachtungen hin und her wechselt.

Das erste wichtige Thema, dem sie sich widmet, ist die Situation der jungen Frauen in der Türkei und in Deutschland, wobei sie für Deutschland einige Fälle beschreibt, die manchen städtischen Türken geradezu unwahrscheinlich vorkommen - obwohl diese Fälle in der Türkei in einigen Regionen laut Aussage der Autorin problemlos übertroffen werden. Tatsächlich wird die Autorin vor Reiseantritt sogar von der Leiterin einer Frauenhilfsorganisation gebeten, eine junge Türkin mit deutscher Staatsbürgerschaft, die wohl von ihrer Familie in der Türkei festgehalten wird, ausfindig zu machen und ihre Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen. Das ist eine ziemlich haarsträubende Geschichte, die deutlich zeigt, wie oft sich die jeweiligen Opfer auf Grund ihrer Erziehung nach einer "Rettung" schnell immer wieder selbst gefährden. Und diese schon durchaus sehr erschreckende Geschichte wird noch übertroffen von fünf weiteren Fällen, die Necla Kelek dem Leser präsentiert. Neben der Fallbeschreibung zeigt sie aber auch einige Gegenbewegungen in der Türkei und erläutert anschaulich, wie diese Gefährdung der jungen Frauen sich historisch, kulturell und religiös herleiten lässt - was auch gleichzeitig deutlich macht, wie schwierig es sein wird, diese zu beseitigen.

Ausgehend von diesen Betrachtungen geht Necla Kelek auch auf die zunehmende Islamisierung der Türkei seit dem Wahlsieg der AKP ein und zeigt auf, wie stark diese alle Verwaltungsebenen und auch die Wirtschaft durchdrungen hat. Es ist interessant zu sehen, wie im Zuge der Verhandlungen mit der EU diese Islamisierung zum Teil aus EU-Fördermitteln mitfinanziert wird und welche Gelder auch speziell aus Deutschland dafür zur Verfügung gestellt werden. Dabei läuft die Islamisierung auch in die Gegenrichtung, wenn staatliche Stellen der Türkei anscheinend die Inhalte der Freitagsgebete in deutschen Moscheen vorschreiben und über Umwege den Bau dieser Moscheen weiter vorantreiben, oder wenn ein Deutschland besuchender türkischer Politiker seine Landsleute dazu anhält, sich nach Möglichkeit in Deutschland nicht zu integrieren.

Ebenfalls großes Gewicht wird auf den Umgang der Türken mit ihrer eigenen Geschichte gelegt, bzw. mit der Leugnung bestimmter Aspekte derselben, sowie auf den Umgang mit den verschiedenen Minderheiten im eigenen Land.

Necla Kelek hat eine Mission, und diese ist sehr deutlich gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU zum gegebenen Zeitpunkt gerichtet. Viele der Dinge, die sie beschreibt, sind an anderen Stellen nachprüfbar, und sie gibt auch Belege aus der türkischen Literatur für bestimmte Geisteshaltungen. Der Anhang des Buches ist ausgiebig mit Endnoten ausgestattet und verfügt außerdem noch über einen annehmbaren bibliografischen Apparat.

Auch wenn der Autorin gegen Ende ihrer Ausführungen ein wenig die Luft auszugehen scheint, ist dieses Buch hinsichtlich der aktuellen Debatten zur Integration sowie zur EU-Erweiterung unverzichtbarer Lese- und Diskussionsstoff.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2009)


Necla Kelek: "Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei"
Kiepenheuer & Witsch, 2008. 303 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Bücher der Autorin:

"Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland"

Eine Geschichte von Liebe und Sklaverei, von Ehre und Respekt und von dem wichtigsten Ereignis im Leben einer türkischen Familie: der Hochzeit. Dieses sehr persönliche Buch ist ein Schlüssel zum Verständnis der türkisch-islamischen Kultur und räumt mit Multi-Kulti-Illusionen auf.
Zeynep ist 28 Jahre alt, Mutter von drei Kindern und lebt seit zwölf Jahren in Hamburg. Sie versorgt den Haushalt ihrer Großfamilie und spricht kein Wort Deutsch. Die Wohnung verlässt sie nur zum Koranunterricht. Sie ist eine "Import-Gelin", eine Importbraut, eine moderne Sklavin. Tausende junger türkischer Frauen werden jedes Jahr durch arrangierte Ehen nach Deutschland gebracht. Die demokratischen Grundrechte gelten für sie nicht, und niemand interessiert sich für ihr Schicksal. Die türkisch-muslimische Gemeinde redet von kulturellen Traditionen, beruft sich auf Glaubensfreiheit und grenzt sich von der deutschen Gesellschaft ab. Und findet dafür Verständnis bei den liberalen Deutschen, die eher bereit sind, ihre Verfassung zu ignorieren als sich den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit machen zu lassen.
Necla Kelek, Türkin mit deutschem Pass, deckt die Ursachen dieses Skandals auf. Sie ist in die Moscheen gegangen und hat mit den "Importbräuten" gesprochen, sie forscht den Traditionen nach und zeigt, wie sich die Parallelgesellschaft verfestigt, an der die Integration immer wieder scheitert. Sie erzählt von ihrem Urgroßvater, einem Tscherkessen, der mit dem Verkauf von Sklavinnen an den Harem des Sultans zu Reichtum kam. Ihr Großvater raubte als Partisan seine junge Frau; der Vater kaufte seine Frau für zwei Ochsen und wurde als einer der ersten Türken "Gastarbeiter" in Deutschland. Und sie erzählt von ihrem eigenen Weg in die Freiheit. (Goldmann)
Buch bei amazon.de bestellen

"Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes"
Warum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum sitzen so viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind nur soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursache dafür? Oder auch die türkisch-muslimische Erziehung und die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden Parallelgesellschaft? Mit ihrem Buch "Die fremde Braut", das lange auf der Verkaufsbestenliste stand, hat Necla Kelek eine heftige Debatte über Zwangsheirat und die gescheiterte Integration der Türken in Deutschland entfacht. In "Die verlorenen Söhne" wendet sie sich der anderen Hälfte der türkisch-muslimischen Gesellschaft zu: den Vätern, die als Patriarchen das Leben der Familie bestimmen, den Söhnen, die sich von den Müttern vorschreiben lassen, wen sie zu heiraten haben, und den Brüdern, die ihre Schwestern kontrollieren und bestrafen - bis hin zum "Ehrenmord", dem die junge Türkin Hatan Sürücü zum Opfer fiel.
Necla Kelek untersucht anhand von Lebensgeschichten muslimischer Männer - vom Mörder bis zum Vorbeter einer Moschee - das auf Ehre, Schande und Respekt, tatsächlich aber auf Gehorsam und Gewalt aufgebaute System der türkisch-muslimischen Erziehung. Sie schildert die exemplarische Sozialisation türkischer Jungen - von der Wiege über die Beschneidung bis zu den Aufgaben als Vater.
Vehement kritisiert die Autorin den mangelnden Willen zur Integration bei vielen Muslimen, deren Vertreter den Dialog mit den Deutschen oft nur als Einladung zur Bekehrung zum Islam verstehen. Sie fordert die Ächtung der Scharia, des islamischen Vergeltungsrechts, das Frauen die Gleichberechtigung verweigert, und appelliert an Anwälte, Lehrer, Politiker, sich nicht zu Komplizen skandalöser Ungleichheit machen zu lassen. (Goldmann)
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Buchtipps:

Seyran Ateş: "Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können"

Seyran Ateş, Tochter von Migranten der ersten Generation, kämpft an vorderster Front gegen Zwangsheirat und Ehrenmorde, für Frauenrechte und Integration. Die Thesen der mutigen Juristin provozieren.
Vor vielen Jahren kam Seyran Ateş mit ihrer Familie nach Deutschland. "Gastarbeiter", so nannte man ihre Eltern. Weder Türken noch Deutsche wollten damals, dass diese Gäste hier heimisch werden. Doch Seyran Ateş erkämpft sich einen Platz in einer noch längst nicht multikulturellen Gesellschaft. Die Juristin setzt sich vor allem für die Rechte von Migrantinnen ein. Das erfordert enorme Zivilcourage, denn durch ihren Kampf gegen Ignoranz und Gewalt macht sie sich viele Feinde - sie wird angeschossen, bedroht und erpresst. Seyran Ateş vertritt unbequeme Positionen: "Multikulti, so wie es bisher gelebt wurde, ist organisierte Verantwortungslosigkeit." In diesem Buch führt sie aus, wie eine verfehlte Integrationspolitik und eine als Toleranz verkleidete Gleichgültigkeit zu Parallelgesellschaften, Gettoisierung und Gewalt geführt haben. Und sie erläutert, wie es gelingen kann, die Migranten langfristig in unsere Gesellschaft einzubinden. Wer in Deutschland lebt, so die Autorin, muss sich an die Werte der dortigen Gesellschaft halten. (Ullstein)
Buch bei amazon.de bestellen

Serap Çileli: "Eure Ehre - unser Leid. Ich kämpfe gegen Zwangsehe und Ehrenmord"
Zwangsheirat und Familienrache gehören auch in Deutschland zum Alltag. Serap Çileli weiß, wovon sie spricht, denn sie hat deren Folgen am eigenen Leib erlitten. Ihre Zwangsehe in der Türkei dauerte sieben Jahre, und nur durch ihren Willen zur Freiheit und den Mut derer, die ihr geholfen haben, ist sie diesem Gefängnis lebend entkommen. Heute unterstützt sie selbst muslimische Mädchen, die in Not geraten sind. Immer ist Serap Çileli für sie erreichbar, und sie scheut keine Gefahr, um die jungen Frauen vor ihren Familien zu schützen. In ihrem Buch verleiht sie ihnen eine eindringliche Stimme und schreibt ihre eigene Lebensgeschichte fort.
Serap Çileli hat die Wahrnehmung dafür geschärft, dass eine Multikulti-Gesellschaft in Deutschland nicht existiert, sondern dass viele Migranten in einer hermetisch abgeschlossenen Parallelgesellschaft leben, die von den Traditionen des Herkunftslandes bestimmt wird. Nach vielen Jahren eindringlichen persönlichen und politischen Engagements ist Serap Çileli davon überzeugt, dass ein Miteinander dennoch möglich ist. Ihr eigener Lebensweg ist das beste Beispiel für gelungene Integration. (Blanvalet)
Buch bei amazon.de bestellen

Inci Y.: "Erzähl mir nix von Unterschicht. Die Geschichte einer Türkin in Deutschland"
Inci Y., 37, ist ein typisches Gastarbeiterkind: Sie hat zwei arrangierte Ehen überstanden, sich endlich aus dem Gefängnis ihrer türkischen Familie befreit und geschworen, in Deutschland den Kampf um ihre Existenz aufzunehmen. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete: die Behörden, die Miethaie, die Billiglohn- und Schwarzarbeitgeber, ein 18-Stunden-Tag mit vier Stellen an der Schwelle zur Prostitution, die Schul- und Sprachprobleme ihrer Kinder, der Rassismus, die Angst. Ein Leben an der Armutsgrenze. Fast alle Gastarbeiter aus der Türkei waren in den 1960er-Jahren Unterschicht und blieben schlecht ausgebildet. Sie hatten ja Arbeit. Heute besucht jeder zweite 15-jährige Deutschtürke die Hauptschule, jeder fünfte schafft keinen Abschluss, jeder dritte hat keine Ausbildung. Die Arbeitslosigkeit beträgt 25 Prozent. Das sind die Zahlen. Dahinter stehen Schicksale von Hunderttausenden. (Piper)
Buch bei amazon.de bestellen