Daniel Kehlmann: "Ruhm"

Ein Roman in neun Geschichten


Traum und Wirklichkeit oder verdoppeltes Leben

Wenn man durch die Straßen geht, sieht man immer mehr (zumeist) jugendliche Menschen, die sich verkabelt haben, um Musik zu hören oder zumindest mit dem Mobiltelefon hantieren. Dabei wird die Anzahl der Anwender von Jahr zu Jahr größer und das Alter der Nutzer immer jünger. Was der älteren Generation zumeist nur ein Kopfschütteln entlockt, ist für die Jüngeren ein unbedingtes "Muss". Viele Besitzer von Mobiltelefonen können sich ein Leben ohne diese Geräte nicht mehr vorstellen.

Ähnlich geht es Ebeling, dem Protagonisten der ersten Geschichte in Daniel Kehlmanns "Roman in neun Geschichten". Er, der sich jahrelang geweigert hat, ein Mobiltelefon zu kaufen, ist auf einmal süchtig danach, ja fühlt zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie innere Zufriedenheit. Warum? Durch die offensichtlich doppelte Vergabe seiner Rufnummer bekommt er auf einmal Anrufe von verschiedensten Personen, die ein so völlig anderes - aufregenderes - Leben führen, als das bis dato eher unscheinbare und langweilige eigene. Auch wenn er nicht der Ralf ist, für den man ihn am Telefon hält, so spielt er ziemlich schnell das Spiel mit. Denn jener scheint eine bekannte, allem Anschein nach berühmte Person zu sein. Und diesen "Ruhm" - so auch der Titel des Buches - genießt nun Ebeling. Er flieht aus seinem kleinen Leben hinüber in ein genialistisches. "Womöglich war Ralfs Dasein ja immer schon für ihn bestimmt gewesen, vielleicht hatte nur ein Zufall ihrer beider Schicksale vertauscht."

Wechselbad der Gefühle
In neun mehr oder weniger verknüpften Geschichten spielt Daniel Kehlmann virtuos und raffiniert mit diesem Thema. "Voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz" erzählt er u. a. von einem Autor mit Namen Leo Richter, der stets die Identität seiner Geliebten in seinen Romanen unterbringt und dessen neueste "Flamme" dies nahezu als Albtraum empfindet. Wiederum in einer anderen Geschichte vergisst man eine berühmte Krimiautorin in einem leeren Hotel irgendwo in der mongolischen Steppe. Auch das Mobiltelefon kann nicht mehr zu ihrer Rettung beitragen, denn der Akku ist zusammengebrochen. Oder Kehlmann berichtet von einer alten, sterbenskranken Dame, die in der Schweiz mit professioneller Hilfe ihrem Leben vorzeitig ein Ende setzen möchte, letztendlich jedoch mit dem Autor ihrer Geschichte ob des unrühmlichen Ausgangs hadert. Diesem machen andererseits ganz existenzielle Probleme zu schaffen. Er empfindet sich und sein Dasein als Nichts ohne die Aufmerksamkeit eines Anderen und dass seine "bloß halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von [ihm] nimmt."

In ein Wechselbad der Gefühle wirft Daniel Kehlmann seine Leser. Er spielt mit fremden Wirklichkeiten, mehreren Bewusstseins- und Daseinsebenen. Meint man gerade jemanden kennengelernt zu haben, verwandelt er sich schon im nächsten Moment in einen Anderen. Oder scheint dies vielleicht nur so? Schlägt die virtuelle Welt, zu der das Internet und in gewisser Weise eben auch Mobiltelefone gehören, dem realen Leben ein Schnippchen? Nimmt sie die Wirklichkeit aus allem? Was ist echt, was nur vorgetäuscht? Wahre Kommunikation geht immer mehr verloren. Man befindet sich in einem "paradoxen Schwebezustand desinteressierter Anspannung", so wie ein weiterer Protagonist, der Esoterik-Guru Miguel Auristos Blancos (Paulo Coelho lässt grüßen), der sich in seiner Villa mit einer Pistole das Leben nehmen will, feststellt.

Besonders beeindruckend gelingt Kehlmann die Darstellung der Problematik des Wirklichkeitsverlustes durch die zunehmende Technisierung und Virtualisierung in der Erzählung "Wie ich log und starb". Hier lässt er den Abteilungsleiter eines Mobilfunkkonzerns über sein Doppelleben zwischen zwei Frauen jeglichen Bezug zur Realität verlieren. Die Technik hat ihn in eine Welt ohne feste Orte versetzt. "Man spricht aus dem Nirgendwo, man kann überall sein, und da sich nichts überprüfen lässt, ist alles, was man sich vorstellt, im Grunde auch wahr. Wenn niemand mir nachweisen kann, wo ich bin, ja wenn selbst ich mir darüber nicht vollkommen und absolut im Klaren bin, wo wäre die Instanz, die entscheidet? Wirkliche und festgesteckte Plätze im Raum, die gab es, bevor wir kleine Funkgeräte hatten und Briefe schrieben, die in der Sekunde des Abschickens schon am Ziel sind. "

Geschichten in Geschichten in Geschichten
Kehlmanns Stil, sein Spiel mit Strukturen - der Leser wird durchgängige Konstanz und Homogenität vermissen - gibt den virtuellen Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Traum beeindruckend wieder. Er wechselt Ton, Perspektiven und Erzählweisen. Gerade noch fabuliert er voller "Melancholie, ausbalanciert durch Humor", doch schon in der nächsten Geschichte offenbart er eine "in der Schwebe gehaltene Brutalität" oder gar philosophische Betrachtungsweisen des Lebens und des Seins an sich.

Auch die Anordnung seiner Geschichten vermittelt dieses Verwirrspiel auf formidable Art und Weise. "Wir sind immer in Geschichten", ist in der letzten Erzählung "In Gefahr" zu lesen. "Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt." Auf Kehlmanns Buch scheint dies nur auf den ersten Blick zuzutreffen. Stehen seine Begebenheiten anfänglich noch völlig losgelöst nebeneinander, obwohl hier und da die Protagonisten - wenn auch ohne klar zu erkennenden Zusammenhang - mehrfach auftauchen und einigen Situationen eine gewisse Duplizität anhaftet, fügt sich indessen mit fortschreitender Seitenzahl sukzessive alles zum großen Ganzen zusammen. Denn alles "zielt darauf, eins zu sein. Mit sich, mit allem."

Letztendlich findet der Leser aus dem Irrgarten, in dem er sich zeitweise verloren glaubt, wohlbehalten und erstaunt heraus. Doch alle Geheimnisse gibt Daniel Kehlmann nicht preis bzw. es kostet - zugegeben ausgesprochen angenehme - literarische Anstrengung, sie zwischen den Zeilen zu entdecken. Aber vielleicht ist dies vom Autor auch gar nicht gewollt, "weil völlige Offenheit der Tod ist", wie er einen Protagonisten sagen lässt, "und ein einziges Dasein für den Menschen nicht reicht."

Fazit:
Daniel Kehlmann öffnet und schließt Türen, schiebt die eine Person in dieses, die andere in jenes Zimmer, "ja manövriert veritable Gruppen von Leuten in kleinsten Räumen hin und her, ohne dass einer dem anderen begegnet." "Ruhm" entpuppt sich als hochwertige und anspruchsvolle Publikation, die einen ganz anderen Duktus als sein Erfolgstitel "Die Vermessung der Welt" aufweist. Doch insbesondere diese Andersartigkeit zeigt, über welch vielfältige literarisch-stilistische Qualitäten der Autor verfügt.

(Heike Geilen; 01/2009)


Daniel Kehlmann: "Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt Reinbek, 2009. 203 Seiten.
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Hörbuch:
Universal Music, 2009.
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Weitere Lektüretipps:

Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): "Daniel Kehlmann"

Daniel Kehlmann hat vom Beginn seines Schreibens an Anschluss an große Vorbilder der literarischen Moderne gesucht. Seine sich stets durch besondere Talente und Fähigkeiten auszeichnenden Charaktere und ihre Geschichten haben daher nichts gemein mit der damals aktuellen Popliteratur und dem jugendlichen Erzählen über eigene Gefühls- und Problemlagen. Seine vordergründig realistischen Texte sind durchzogen von subtilen Brechungen: "Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit", sagt er selbst. Mit der Satire auf den Kunstbetrieb "Ich und Kaminski" (2003) wurde Daniel Kehlmann einer größeren Leserschaft bekannt, seit dem viel übersetzten Erfolgstitel "Die Vermessung der Welt" (2005) ist er weltberühmt.
"TEXT+KRITIK" widmet sich u.a. Kehlmanns erzählerischem und essayistischem Werk, seinen literarischen und wissenschaftlichen Wurzeln und Bezügen sowie seiner Poetologie des "Gebrochenen Realismus". Das Heft enthält Beiträge von Thorsten Ahrend, Mark M. Anderson, Markus Gasser, Helmut Krausser, Martin Lüdke, Friederike Mayröcker, Heinz-Peter Preußer, Robert Menasse und Klaus Zeyringer. (Text+Kritik, Heft 177)
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Markus Gasser: "Das Königreich im Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis"
Die erste Monografie über Daniel Kehlmann stellt dessen Werk in einen weltliterarischen Kontext: brillant und überaus lesbar geschrieben.
Wenn Daniel Kehlmann attestiert wird, er schreibe klug, charmant und fast unverschämt unterhaltsam, so ist das in Deutschland ein Lob mit Haken, hinter dem Skepsis lauert, ob man "ganz große Literatur" nennen könne, was derart angenehm zu lesen sei. Keineswegs bestreitet Gasser diese Kehlmannsche Leichtigkeit, wohl aber die Berechtigung der skeptischen Folgerung. Entscheidend ist, was dahinter oder besser darunter sichtbar werde: "Bei keinem anderen Autor der deutschen Gegenwartsliteratur wird so viel, so quälend ungern und oft drastisch gestorben. (...) So sind alle Geschöpfe Kehlmanns schon von Geburt halbe Schatten - Grenzgänger zwischen der diesseitigen Welt und dem Jenseits." Für sich genommen, wäre diese Düsternis kaum aushaltbar, aber gerade im Zusammenspiel mit der Grazie des Erzählens sieht Gasser die literarische Bedeutung Kehlmanns, den er in Bezug zu weltliterarischen Größen von Henry James bis Vladimir Nabokov und Jorge Luis Borges stellt.
Gasser waren auch unveröffentlichte, nicht zu Ende geschriebene, verworfene Texte Kehlmanns zugänglich. Sein mit Leichtigkeit und nicht nur für Literaturwissenschaftler geschriebenes Buch verfolgt so polemisch wie tiefgründig die Entwicklungslinien des Autors von seinem Debüt "Beerholms Vorstellung" (und noch davor) bis zu "Ruhm" (und noch danach). (Wallstein)
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