Wolfram Fleischhauer: "Drei Minuten mit der Wirklichkeit"


Eine Odyssee durch die sichtbare und unsichtbare Tango-Welt von Buenos Aires

Ein Mensch gerät relativ arglos in eine unerwartet bedrohliche Situation, bei deren Bewältigung er eine ganze Menge über sich selbst und die Menschen in seiner Umgebung erfährt. So oder ähnlich könnte man die Struktur vieler Romane Wolfram Fleischhauers in Kurzform darstellen. Die Frage, die dann zu stellen bleibt, ist, vor welchem Hintergrund der Autor dies geschehen lässt.

Der fragliche Charakter in "Drei Minuten Wirklichkeit" ist Giulietta Battin, eine 19 Jahre alte Balletttänzerin, die nach einer langen und harten Ausbildung auf der Suche nach einem festen Engagement ist. Bei dieser Suche unterstützt sie ihr Vater tatkräftig, während ihre Mutter Angst hat, der Druck könne zuviel für sie sein. Und es ist auch irgendetwas an der Art, wie Giulietta tanzt, das eine Festanstellung zunächst verhindert, so dass sie als Hospitantin an der Berliner Staatsoper beginnt, mit der Möglichkeit, nach einer Saison in die Reihen der Zweitbesetzungen aufzurücken. Doch dann hört sie, dass an der Deutschen Oper ein Tango-Ballett aufgeführt werden soll und beschließt, sich ein wenig in die Materie Tango einzuarbeiten, damit sie eventuell an diesem Projekt teilnehmen kann.

Sie findet einen argentinischen Tangolehrer namens Damian Alsina, der sich für einige Zeit in Berlin aufhält, und ist von seinen Bewegungen begeistert; bald auch von denen, die eher in der Horizontalen stattfinden. Nach sehr kurzer Zeit ist sie bereit, den jungen Mann ihren Eltern vorzustellen. Dies geschieht an einem Abend in überaus seltsamer Atmosphäre.

Kurz darauf kommt Giulietta vom Helfen beim Umzug einer Freundin zurück und findet ihren Vater gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl in ihrer Wohnung sitzend vor. Sie ist entsetzt, als sie hört, dass Damian ihren Vater dorthin gelockt und dann überwältigt haben soll. Aufgrund verschiedener Ungereimtheiten und auch des Schweigens ihres Vaters beschließt Giulietta, dem sehr plötzlich von der Bildfläche verschwundenen Damian nach Argentinien hinterher zu reisen, um von ihm ein paar Erklärungen für sein Verhalten zu bekommen. Und auch vielleicht für das Schweigen ihres Vaters.

Argentinien - und speziell Buenos Aires - erlebt die in politischen und historischen Dingen ein wenig unbedarfte Giulietta als ein ziemlich verwirrendes Land, besonders, da sie sich auf der Suche nach Damian in die auch für argentinische Verhältnisse sehr komplexe Tango-Szene begeben muss. Dort lernt sie sehr viel Grundlegendes über diesen Tanz und dessen Geschichte, während sie einige recht ungewöhnliche Begegnungen hat und sich gleichzeitig zunehmend verfolgt fühlt. Ganz undurchsichtig wird die Situation, als ihr Vater, der eigentlich in Berlin zu dieser Zeit unabkömmlich ist, plötzlich in Buenos Aires auftaucht und dort in einer Art und Weise agiert, die sie so nicht kennt.

Ab diesem Zeitpunkt wird die Geschichte stetig komplexer und greift immer mehr in die argentinische und auch die deutsche Geschichte hinein, bis Giulietta am Ende selbst nicht mehr genau weiß, wer sie nun eigentlich ist.

Neben diesen historischen Themen bekommt man auch einen umfassenden Einblick in die Welt des Balletts und des Tangos, sowie in die Möglichkeit, Choreografien schriftlich festzuhalten.

Leider sind die einzelnen Charaktere nicht sonderlich plastisch gezeichnet, was bei der Konzentration auf Giulietta auch irgendwie eine Leistung darstellt. Außerdem wirkt die Geschichte an sich ein wenig überkonstruiert, so dass man beim Lesen gewissermaßen die Fäden sehen kann.
Deshalb ist "Drei Minuten mit der Wirklichkeit" handwerklich nicht ganz überzeugend.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 07/2009)


Wolfram Fleischhauer: "Drei Minuten mit der Wirklichkeit"
Droemer, 2007. 560 Seiten.
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Hörbuch:
Sprecher: Dietmar Mues. Autorisierte Hörfassung mit Musik.
steinbach sprechende bücher, 2009. 5 CDs, Spieldauer 394 Minuten.
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