Alexander Kissler: "Dummgeglotzt"

Wie das Fernsehen uns verblödet


Ordnung, Übersichtlichkeit und Zufallslosigkeit - Die Angelhaken im Bilderteich

Eine Expedition in die Untiefen deutscher Fernsehkultur

Fernsehen ist mittlerweile die unangefochten wichtigste Freizeitbeschäftigung der Deutschen. 208 Minuten, also täglich 3 Stunden und 28 Minuten verbrachte 2008 durchschnittlich jeder Bürger in Deutschland vor dem Fernseher. Und der Durchschnitt erfasst hierbei auch jene, die kaum oder gar nicht den Fingerdruck auf der Fernbedienung ausüben. Ergo liegt der Schnitt des Fernsehkonsums noch deutlich höher.

In den 1960er-Jahren begann das Fernsehen seinen Siegeszug, wurde Lebensmittelpunkt vieler Familien. Seine Anschaffung war meist wichtiger als die einer Waschmaschine. Seither steht der Flimmerkasten im Zentrum und strahlt pure Zuverlässigkeit aus, ein klar durchschaubares Reich im sonst so ungewissen Leben. "Jede Sendung ist ein Hinabtauchen an genau berechneten Stellen in einen nur scheinbar unauslotbaren Teich", stellt der Kulturjournalist, Medien- und Literaturwissenschaftler Alexander Kissler fest. Und der treue Betrachter glaubt, was das Fernsehen normal vorführt, sei auch normal, und echte Probleme von echten Menschen würden verhandelt. "Wer das Fernsehen also wahrnimmt, wie es wahrgenommen werden will", so der Autor, "der kriecht ihm auf den Leim; der lässt es zu, dass das Fernsehen den Rahmen setzt für das, was normal oder real sein soll; der gibt, weil die Freude am Schauen zum Glauben an das Geschaute führt, sein Recht auf Selbstbestimmung schleichend aus der Hand. Wer den vom Fernsehen rund um die Uhr hinaus posaunten Katalog der Werte und der Haltungen akzeptiert, der lässt sich verblöden. Er tritt die Gabe der Unterscheidung ab an das Fernsehen."

Das Erschreckende daran ist, dass auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten in den Quotenkrieg um das "höchste Erregungspotenzial" eingetreten sind. Deren Sendungen unterscheiden sich immer weniger von denen der Privaten. So haben sie zum Beispiel ihre ehemalige Nachrichtenkompetenz eindeutig dem Trend zur Gefühligkeit und Sucht nach Zerstreuung geopfert. "Weder das 'heute-journal' noch die angeblich politische Debatte bei 'Anne Will' sind vom Boulevard der Privaten zu trennen. Hier wie dort sollen bunte Filmchen über bekannte Gesichter das politische oder auch nur eigenständige Urteil ersetzen", stellt Kissler fest.

Dumpfheit, Grellheit, Dummheit
Alexander Kissler teilt die "großen Erzählungen" des Fernsehens in kleine Geschichten und nimmt den Leser mit in die Hölle der stöckelnden "Topmodels", der schwitzenden Dschungelhelden oder krächzenden "Superstars". Er berichtet aus Schönheitsoperationssälen von wegoperierten "Fettschürzen", den glorreichen Hilfeleistungen bei sogenannten "Unterschichtenfamilien" aus dem "Hartz-IV-Sumpf" oder aber von der kaum zu entziehenden Kochschwemme jedweder couleur. Er offeriert das kitschige Schmalzangebot und die Metamorphose von Journalismus in Gefühlsmanagement (so geschehen z.B. nach dem Amoklauf in Winnenden) der mit jährlich über sieben Milliarden Euro subventionierten Öffentlich-Rechtlichen. Auch die Dritten kommen bei ihm wenig schmeichelhaft weg.

Kissler kredenzt eine amüsante, manchmal schockierende, dann wieder zum Schmunzeln oder Lachen verführende kleine Chronik der jüngsten Fernsehgeschichte. "Schaut man [...] in den Unterhaltungsmüll, den die Überzeugungstäter zusammenscharren, dann erschrickt man vor so viel Dumpfheit, Grellheit, Dummheit", zitiert er den Literatur- und Musikkritiker Joachim Kaiser. Die Wutrede Marcel Reich-Ranickis bei der Verleihung des "Deutschen Fernsehpreises" und das Beipflichten Elke Heidenreichs untermauerten diese Aussage öffentlich. "Dummgeglotzt" fungiert als weitere Bestätigung.

Gelegentlich ist man versucht, die Fernbedienung zur Hand zu nehmen und Kisslers Ausführungen einfach wegzuzappen, so haarsträubend detailliert walzt er bestimmte Sendungen aus. Ob diese Ausführlichkeit, dieser mitunter allzu intime Blick, dieses Vorführen in extenso sein muss, mag bezweifelt werden. Für den Fernsehverweigerer ist Kissler einmal mehr Bestätigung. Ob der Dauerkonsument erreicht wird und sein Fernsehverhalten vielleicht überdenkt oder gar reduziert, ist fraglich. Einen Denkanstoß jedoch, sein eigenes Verhalten fortwährend zu reflektieren und somit einen Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu finden, vermag dieses Buch durchaus zu geben.

"Wer denken will, der muss aussteigen aus dem Audienceflow, der die Bilder aneinander kettet und in dem der Betrachter sich verfangen soll, naschsüchtigen Kindern gleich", so Alexander Kissler.

(Heike Geilen; 07/2009)


Alexander Kissler: "Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet"
Gütersloher Verlagshaus, 2009. 192 Seiten.
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