Ulrich Kutschera: "Tatsache Evolution"

Was Darwin nicht wissen konnte


Der "Newtonsche Mozart" der Biologie

"Neben der Bibel hatte im christlichen Kulturkreis bisher kaum ein Buch eine derartige Wirkung wie Charles Darwins 'Origin of Species' (1859, 6. Auflage 1872). Das vor 150 Jahren erstmals veröffentlichte, schwer verständliche Werk wird zwar häufig zitiert, aber im Gegensatz zur 'Heiligen Schrift' selten im Detail studiert", so beginnt Ulrich Kutschera, Professor für Pflanzenphysiologie an der Universität Kassel mit Forschungsprojekten und Zweit-Arbeitsplatz an der Carnegie Institution for Science (Stanford University, USA) sein Buch "Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte".

Der Autor, der zudem noch Vorsitzender der "AG Evolutionsbiologie" im Verband deutscher Biologen ist, hat Darwins Werk offensichtlich verinnerlicht. Denn sein mehr als 300 Seiten starkes eng bedrucktes Buch, zeigt auf verständliche Art und Weise "was Darwin wirklich sagte, wo er sich geirrt hat und welche seiner fünf Theorien zum Artenwandel durch nachfolgende Forschungen bestätigt werden konnten." Seinen zehn Kapiteln hat er Darwins englischsprachiges Originalwerk zu Grunde gelegt und dieses auch mehrfach zitiert.

Kutschera legt nach einem einleitenden biografischen Teil, in dem er auf das Leben und das wissenschaftliche Gesamtwerk des großen englischen Naturforschers eingeht, dar, welche Rolle der Zufall in der etwa 3,5 Milliarden Jahre andauernden Evolution gespielt hat. Gleichzeitig begründet er umfassend, warum die Evolutionsforscher das Andersartigwerden der Organismen im Verlauf der Jahrmillionen seit langem als Tatsache akzeptiert haben.

Zudem gibt er einen wunderbaren Ein- und Überblick zu den Theorien des Biologen und Geologen Charles Darwin. Hier wird ersichtlich, welch ein vielseitiger und genialer Naturforscher der britische Privatgelehrte eigentlich war. "Seine Werke zu anderen Fragen der 'Lebens- und Erdwissenschaften' sind derart gehaltvoll und originell, dass dem Autor bereits zu Lebzeiten ein Ehrenplatz im Kreise der größten Naturforscher seiner Zeit zuteil geworden ist", erklärt Kutschera.

Darwin, so der Autor, war der Urvater vieler heutiger Wissenschaftszweige. So unter Anderem:
- der Biogenese-Theorie zur Entstehung der ersten Zellen: Er äußerte die Vermutung, dass in kleinen, warmen Tümpeln der Urzeit auf chemischem Wege die ersten Zellen entstanden sein könnten,
- der Soziobiologie: Darwin entwickelte eine Theorie zum Ursprung tierischer und menschlicher Emotionen,
- der Anthropologie (Afrika-Ursprung des modernen Menschen),
- der Entwicklungsphysiologie der Pflanzen, der Pflanzenhormonforschung und der Forschung zur Pflanzenintelligenz (Wuchsstoff-Hypothese, Wurzelspitzen-Hirn-Theorie),
- der Blütenbiologie (Prinzip der Orchideen-Bestäubung),
- der Bodenbiologie: Mit seinem letzten, nur sechs Monate vor seinem Tod erschienenen Werk "Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Regenwürmer" kurierte er die Gärtner von dem Irrtum, Regenwürmer seien Schädlinge, die entfernt werden müssten.

Gleichzeitig war er auch noch Spezialist für Käfer und Rankenfußkrebse und beschäftigte sich mit der Meeresboden-Absenk-Theorie zur Entstehung tropischer Korallenriffe.
Darwin war zweifelsohne ein Universal-Zoologe und -Botaniker und "daher einer der vielseitigsten und genialsten Biologen des 19. Jahrhunderts", bemerkt der Autor.

Ulrich Kutschera schildert die Weiterentwicklung von Darwins klassischer Deszendenztheorie über den Neo-Darwinismus bis zur modernen Evolutionsbiologie, die heute ein System verschiedener Theorien aus den Lebens- und Erdwissenschaften darstellt. Hierbei stellt der Autor auch die Biografien und Werke einiger anderer bedeutender Evolutionsforscher, die zu Unrecht im Schatten von Darwin stehen, vor.

Letztendlich schließt er mit einer neuen integrativen Theorie vom Verlauf und den Antriebskräften der Evolution in allen fünf Organismen-Reichen der Erde, die zwar weit über Darwins klassische Theorien hinausführt, jedoch ohne dessen Grundprinzipien zu widersprechen. "Dieses Synade-Modell der Makroevolution basiert auf der Symbiogenese, die für den Ursprung der ersten Mehrzeller verantwortlich war, der natürlichen Selektion und der Dynamischen Erde", erläutert Kutschera.

Dass das Buch auf einer Lehrveranstaltung, die der Autor über mehrere Jahre hinweg an der Universität Kassel durchführte, basiert, merkt man dem Werk zuweilen an. Es wirkt an manchen Stellen etwas unstrukturiert und fragmentarisch. Auch der sogenannte rote Faden geht mitunter verloren. Das macht es dem Leser, der sich aufgrund des nicht ganz einfachen Duktus des Autors und der vielfältigen Fachtermini zumindest schon einmal mit den Grundlagen der Biologie beschäftigt haben sollte, nicht immer einfach, den durchaus spannenden Fakten und Gedankengängen des Kasseler Pflanzenphysiologen und Evolutionsbiologen zu folgen.

Fazit:
Eine Einführung in das Thema der Evolutionsbiologie hat Ulrich Kutschera nicht geschrieben, aber eine durchaus interessante Ergänzung und Konkretisierung zum bisherigen allgemeinen Wissen zur Evolution. "Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte" zeigt auf interessante Art und Weise, wie aktuell Charles Darwins Erkenntnisse für die Wissenschaft heute noch sind. Gleichzeitig verschweigt es aber auch nicht die zum Teil marginalen Fehldeutungen und Mängel der Theorien des großen Briten, dessen 200. Geburtstag am 12. Februar 2009 begangen wurde.

"Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Lichte der Evolution." (Theodosius Dobzhansky, 1900-1975, us-amerikanischer Zoologe russischer Herkunft)

(Heike Geilen; 03/2009)


Ulrich Kutschera: "Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte"
dtv, 2009. 320 Seiten.
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Geistes- und Kulturwissenschaften spielen jedoch ebenfalls eine bedeutende Rolle beim Bemühen, die Entwicklungsgeschichte zu verstehen. Die Evolution beschränkt sich nicht nur auf die Optimierung von morphologischen und molekularen Merkmalen, sondern sie schließt auch die Entwicklung sozialer, politischer, kultureller, moralischer und religiöser Strukturen ein.
Aus dem Inhalt:
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