Ian Kershaw: "Wendepunkte"

Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg


Wie wenige Entschlüsse den Lauf der Welt beeinflussten

Der Zweite Weltkrieg stellte die führenden Politiker in den mächtigsten Staaten der Welt vor Schwierigkeiten und Herausforderungen, wie es sie zuvor wohl niemals gegeben hatte. Demokratischen Staatsführern, die auf Parlamente und Öffentlichkeit Rücksicht nehmen mussten, standen schwer berechenbare Diktatoren mit psychopathischen Zügen gegenüber, die praktisch beliebig agieren konnten. Häufig überschlugen sich die Ereignisse. In dieser Situation wurden 1940/41 einige Entscheidungen getroffen, die im wahrsten Sinne des Wortes die Welt veränderten.

Der Historiker Ian Kershaw, unter anderem bekannt durch seine Standardwerke zu Hitler, hat die zehn Ereignisse ausgewählt, die seiner Ansicht nach als Schlüsselentscheidungen zu betrachten sind, und sie selbst, ihre Vorgeschichte und Folgen in seinem Werk "Wendepunkte" beleuchtet. Es handelt sich um folgende Entschlüsse (nachfolgend die Kapitelüberschriften):

Im ersten Kapitel geht es um die Entscheidung von englischer Seite, trotz der eklatanten französischen Niederlage und der eigenen militärischen Defizite kein Friedensangebot zu machen oder anzunehmen: eine Entscheidung, die Hitler anzeigte, dass es möglicherweise lange eine Front im Westen geben würde.
Nicht zuletzt aus dieser Entscheidung wurde wiederum Hitlers im zweiten Kapitel thematisierter, für Abermillionen Menschen fataler Entschluss geboren, die Sowjetunion anzugreifen, bevor sie voll aufgerüstet wäre und sich möglicherweise mit Großbritannien zusammenschlösse.
Im dritten Kapitel analysiert Kershaw die japanische Entscheidung, eine Expansion in Südostasien voranzutreiben. Damit machten sich die Japaner die USA endgültig zu Gegnern und riskierten nicht minder den Konflikt mit England.
Mussolinis Griechenlandfeldzug schließlich, ein einziges Fiasko, band andernorts dringend benötigte Truppen zu einem wichtigen Zeitpunkt an einem im Grunde unbedeutenden Ort.
Das fünfte und das siebte Kapitel spiegeln Roosevelts schwierige Position zwischen den Isolationisten und den "Falken" wider: Die Erstgenannten wollten kein neuerliches Abschlachten "amerikanischer" Jungs in Europa riskieren wie im Ersten Weltkrieg, die anderen sahen ein, dass der Achse nur durch militärische Intervention beizukommen war und England dringend unterstützt werden musste.
Stalins Entschluss, präzise Hinweise von Diplomaten und Spionen, darunter einige deutsche, zu ignorieren und keine Vorsorge gegen einen deutschen Überfall zu treffen, mag unter Umständen Millionen von Menschenleben gekostet haben.

Japans Überfall auf Pearl Harbor schließlich ermöglichte es den USA, offen in den Krieg einzutreten und ihr mittlerweile beträchtliches militärisches Potenzial auszuspielen. Hitlers sich anschließende Kriegserklärung an die USA wirkt unnötig, lässt sich jedoch, wie Kershaw aufzeigt, logisch begründen - bewirkt hat sie indes wohl wenig, vielleicht die Ereignisse etwas beschleunigt.

Der Entschluss zur "Endlösung der Judenfrage" freilich hat die Welt auf entsetzliche Weise geändert und zuvor undenkbare Gräuel in Gang gesetzt. Auch in diesem Kapitel untersucht der Autor detailliert, wie es zu der entsprechenden Entscheidung kommen konnte.

Liest man als Laie Standardwerke zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs, so bleiben viele Entschlüsse rätselhaft: Die Kette der Ereignisse dieses schrecklichen Höhepunktes der Weltgeschichte ist alles Andere als selbst erklärend, und wer sich für die neuere Geschichte interessiert, dürfte so manches richtungsweisende Ereignis bereits hinterfragt haben.

Ian Kershaw bietet hochinteressante Antworten auf die Frage, warum und in welchem Kontext gewisse Entscheidungen getroffen wurden, die den Kriegsverlauf oder auch, wenn man so will, die Geschichte der Menschheit an sich derart massiv beeinflussten.

Zu Beginn jedes Kapitels erhält der Leser eine kurze Einführung in die Umstände, die zu der für das Kapitel relevanten Entscheidung führten. Anschließend arbeitet der Autor das Thema detailliert aus - allerdings verrennt er sich niemals derart in Einzelheiten, dass man Absätze überspringen möchte. Wer weniger versiert ist in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, findet Hilfe in der Übersicht handelnder Personen am Anfang des Buchs, die nach Ländern geordnet die bedeutenden Staatsmänner und Militärs jener Epoche vorstellt. Die Kapitel enden mit einer Betrachtung der Folgen des jeweiligen Beschlusses.

Ian Kershaw versteht es nicht nur, die zehn von ihm untersuchten Entscheidungen in den politischen und militärischen Kontext des Zweiten Weltkriegs einzuordnen, dem Leser die Protagonisten näher zu bringen und die Entschlüsse präzise zu begründen. Inhaltliche Überschneidungen bezüglich der Abläufe, jedoch je nach Kapitel aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln, ermöglichen zudem eine von durch die Nationalität des Lesers oder dessen politische Einstellung bedingten Vorbehalten praktisch freie Betrachtung der Vorgänge und somit eine bemerkenswert objektive Sicht auf den Zweiten Weltkrieg. Diese Chance, den Krieg von allen bedeutenden Orten aus zu betrachten, ist in der einschlägigen Literatur wohl einmalig.

Der Autor schreibt für ein breites Publikum. Historiker vermögen seinem Werk wohl durchaus interessante Impulse zu entnehmen, Laien finden darin einen wertvollen Schlüssel zum Verständnis des Zweiten Weltkriegs, ohne dass sie Vorkenntnisse über den schulischen Geschichtsunterricht hinaus mitbringen müssten. Zudem ermöglicht der angenehme Stil eine kurzweilige, wenn nicht spannende Lektüre.

Zwei Seitenblöcke mit Fotos illustrieren den Text; sie zeigen wesentliche Situationen sowie die Protagonisten des Zweiten Weltkrieges.

"Wendepunkte" ist ein äußerst empfehlenswertes Buch für alle, die sich für Zeitgeschichte und insbesondere den Zweiten Weltkrieg interessieren. Auch wenn es lediglich die Ereignisse bis Ende 1941 abdeckt, bietet es die Möglichkeit, diesen in der Geschichte bislang allein stehenden Krieg im Großen und Ganzen zu verstehen und nachzuvollziehen, inwiefern wenige in dieser Zeit getroffene Entscheidungen Entwicklungen einleiteten, die bis heute spürbar sind.

(Regina Károlyi; 10/2008)


Ian Kershaw: "Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg"
(Originaltitel "Fateful Choices. Ten Decisions that changed the World")
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt.
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2008. 735 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Pantheon, 2010.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45"

Das "Dritte Reich" kämpfte nicht nur bis zum bitteren Ende, bis zur totalen Niederlage, es funktionierte auch bis zum Schluss. Bis die Rote Armee vor den Pforten der Reichskanzlei stand, wurde die öffentliche Ordnung in Deutschland, das täglich ein Stück mehr unter alliierte Besatzung geriet, weitgehend aufrechterhalten. Löhne wurden bezahlt und die Verwaltung lief - wenngleich unter großen Schwierigkeiten - weiter. Die Gründe dafür, warum Hitlers Deutschland militärisch zusammenbrach, sind bekannt, die Frage, wie und warum das "Dritte Reich" bis zum Schluss funktionierte, ist dagegen bis heute nicht beantwortet. Zentral bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das Regime bis zum Ende durchhalten konnte, so der renommierte NS-Historiker Ian Kershaw, ist Hitlers Art der charismatischen Herrschaft. (DVA)
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"Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg"
"Sie und Deutschland erinnern mich an die Schöpfungsgeschichte in der Bibel. Nichts sonst beschreibt den Eindruck richtig", schreibt Lady Londonderry an Hitler. Wie war es möglich, dass die Spitzen der englischen Gesellschaft derartige Briefe schrieben? Und woraus speiste sich die krasse Fehleinschätzung der wahren Ziele Hitlers?
Ian Kershaws Buch ist eine exzellente Darstellung Englands ambivalenter Beziehungen zu Deutschland in den 1930er-Jahren und der fatalen Versuche einiger seiner hochrangigsten Vertreter, Freundschaft mit Hitler und seinem Regime schließen zu wollen. In Lord Londonderry, Cousin Churchills und zeitweise Mitglied des englischen Kabinetts, finden sich wie in einem Brennglas Motive und Hintergründe für die britische Appeasementpolitik versammelt. Ein differenziertes und gleichzeitig beklemmendes Porträt von Hitlers Freunden in England und ihrem Verkennen der nahenden Katastrophe. (DVA)
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Noch ein Buchtipp:

Mark Mazower: "Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus"

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Ein viel gelobtes Werk, das nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf Europa ein neues Licht wirft. (C.H. Beck)
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