Gerhard Seyfried: "Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer"


"Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht."

Diesen berühmt-berüchtigten Satz verkündete Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in seiner Hunnenrede, mit der er die deutsche "Schutztruppe" - ein Begriff, der auch heute noch aktuell ist - nach China entsandte, um das von Aufständischen belagerte Diplomatenviertel Pekings "aufzuräumen". "Wie vor 1000 Jahren die Hunnen sich einen Namen gemacht haben, so möge der Name Deutscher auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen." Die Soldaten nahmen Wilhelm wörtlich, und seit der "Hunnenrede" galt der Name als Synonym für deutsche Zerstörungswut.

Mitten in der Zeit der Opiumkriege, nach einer offiziellen Kriegserklärung Chinas gegen die Westmächte, bekämpfen die "Boxer" - Mitglieder des chinesischen Geheimbundes Yi-he quan ("Faust für Recht und Einigkeit") - unterstützt durch die Kaiserin-Witwe Tzu Hsi, die christliche Missionierung und gewaltsam übergestülpte Modernisierung und Industrialisierung mit ihrer einhergehenden Zerstörung von Traditionen durch die Kolonialherren: "Man hat dann angefangen, Eisenbahnen zu bauen; Webereien und Fabriken und Dampfschifffahrt eingeführt", so Gerhard Seyfried. "Es haben Abertausende von Chinesen die Arbeit dadurch verloren. Das sind alles Leute, aus denen sich die Boxerbewegung rekrutiert hat."

Gerhard Seyfried, der in den 1970er und 1980er Jahren als Cartoon-Zeichner berühmt wurde, hat daraus einen opulenten Roman gemacht, der den Leser die deutsch-chinesische Geschichte, vielleicht sogar das heutige China, besser verstehen lässt.
Der Autor beleuchtet in diesem akribisch recherchierten und detailreichen Roman die historischen Ereignisse abwechselnd aus der Sicht von vier Deutschen, einer Frau und dreier Männer: Arletta Lind, die aufgrund einer Stellenanzeige als Privatlehrerin zur Kaufmannsfamilie Lenk ins Reich der Mitte kommt, Ferdinand Roeder, ein auf der Flucht vor einer unglücklichen Liebe und gerade von seiner Opiumsucht geheilter Auslandskorrespondent, Max von Reichenow, ein junger adliger, aber verarmter Marineoffizier, und der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Janus Ballhaus.

Beschaulich und (noch) ruhig - am 3. Oktober 1899 - beginnt Seyfrieds Roman, doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse und finden, nach schon lange schwärenden Konflikten und der Ermordung des deutschen Diplomaten Freiherr Klemens von Ketteler, im Sommer 1900 zu ihrem unrühmlichen Höhepunkt.

Dem Autor gelingt mit seinem Roman ein Spagat zwischen historischem Dokument - der 55-tägigen Belagerung des Botschaftsviertels in Peking - und einer fiktiven Geschichte.
"Gelber Wind", so nennen die Chinesen übrigens den mongolischen Sandsturm, der Peking regelmäßig in eine gelbe Staubwolke einhüllt, ist ein wortreicher und detailversessener, manchmal sentimentaler, dann wieder schockierender, von Zeit zu Zeit mit wunderbarem Lokalkolorit aufwartender, im Präsens erzählter Roman, der jedoch sprachlich so manches Mal haarscharf an der Grenze der Trivialität und Kolportage vorbeischrammt.

Ergänzt wird das Buch durch ein ausführliches Glossar und eine Liste weiterführender Literatur zum Boxeraufstand, zum alten China und zur deutschen Kolonialgeschichte.

Fazit:
Gerhard Seyfried ist ein solider, spannender und lebendig erzählter sowie leicht zu lesender Historienroman gelungen, der an ein Stück deutsche (Kolonial-)Geschichte erinnert. Stilistisch spielt er jedoch keineswegs in der literarischen Oberliga.

(Heike Geilen; 07/2008)


Gerhard Seyfried: "Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer"
Eichborn Berlin, 2008. 643 Seiten.
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Gerhard Seyfried wurde am 15. März 1948 in München geboren.
Lien zu seiner Netzseite: http://www.seyfried-berlin.de/.

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"Herero"

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In seinem sprachlich furiosen Roman greift Gerhard Seyfried ein verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte auf. Mit großer Überzeugungskraft gibt er einem lebensfeindlichen Land von grandioser Schönheit, den Weißen und den Herero eine Sprache und formt eines der dunkelsten Kapitel deutscher Kolonialgeschichte zu einem beeindruckenden Stück Literatur. (Eichborn Berlin)
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"Der schwarze Stern der Tupamaros"
Gerhard Seyfrieds großer, weitgehend autobiografischer Roman aus der Zeit der deutschen Terrorismus.
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Gerhard Seyfried hat den ersten Roman aus dem Umfeld der "Bewegung 2. Juni" geschrieben. Er erzählt von einer Zeit, in der ausgelassene Lebensfreude und tödlicher Ernst näher beieinanderstanden als je in der deutschen Nachkriegsgeschichte. (Eichborn Berlin)
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