Franziska Augstein: "Von Treue und Verrat"

Jorge Semprún und sein Jahrhundert


Biografie oder ...? Jorge Semprúns Leben wird das nicht gerecht

Jorge Semprún gehört zu den interessantesten Personen der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Er entstammt einer großbürgerlichen und linksliberalen Familie aus Madrid. Einer seiner Großväter war insgesamt fünfmal spanischer Ministerpräsident gewesen, der Vater ein strenger, aber antifaschistischer Katholik und Präfekt von Toledo, später republikanischer Botschafter Spaniens in Den Haag und beim Heiligen Stuhl. Bei Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs 1936 ging der damals dreizehnjährige Jorge mit seiner Familie ins Exil. Nach dem Besuch des renommierten Gymnasiums Henri IV begann Semprún, an der Pariser Universität Sorbonne Philosophie zu studieren.

Er trat 1941 der Résistance bei und wurde ein Jahr später Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Nach der Verhaftung durch die Gestapo, nach Verhören und Folter wurde er 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Auch dort beteiligte er sich am lagerinternen, von den Kommunisten aufgebauten Widerstand. Nach der Befreiung des KZ Buchenwald kehrte er nach Paris zurück und reiste in den 50er-Jahren unter falschen Namen mehrmals für die kommunistische Partei nach Spanien.

Nach einer steilen Parteikarriere wurde er 1964 wegen "parteischädigenden Verhaltens" aus der Exil-PCE ausgeschlossen. Semprún hatte damals seine Hoffnungen in den Kommunismus als politische Alternative bereits verloren. Anfang der 60er-Jahre begann Semprún seine Karriere als Schriftsteller und Publizist.

Von der sozialistischen Regierung Felipe González wurde er 1988 zum Kulturminister berufen; als Parteiloser übte er das Amt bis zum Jahr 1991 aus. Er lebt in Paris.

Wer in Franziska Augsteins fast vierhundertseitigem Werk eine Langversion der vorangegangenen knappen Lebensbeschreibung vermutet, wird enttäuscht sein. Freilich geht es um diesen spanischen Politiker und Literaten, doch nicht nur. Die Autorin bläht die Biografie auf, liebt es, lange Passagen aus anderen Werken einzubauen, auch aus den Werken ihres Vaters Rudolf Augstein, dem langjährigen "Spiegel"-Herausgeber. Darin geht es aber nicht um Semprún, nein, sondern darum, dass der durchschnittliche Deutsche über die Konzentrationslager nichts wissen konnte. Warum? Um von ihres Vaters Ruhm zu profitieren? Um einen deutschen Zeitzeugen in einer für Semprúns Leben eher unbedeutenden Frage Stellung nehmen zu lassen?

Bei Jorge Semprúns theoretischer Auseinandersetzung mit der kommunistischen Lehre im Paris der Nachkriegsjahre scheint Franziska Augstein beweisen zu wollen, dass sie sich als Historikerin mindestens ebenso gut in der marxistischen Philosophie auskennt, wie ihr mehrjähriger Gesprächspartner.

Dennoch wird nicht recht klar, welche Teile des Buches aus den Interviews, was von Augstein und was aus anderer Quelle stammt, obwohl das Quellenverzeichnis beeindruckend lang ist.

Man könnte wohlmeinend sagen, dass Franziska Augstein versuchte, das ungewöhnliche, fast ungeheuerliche Leben dieses spanischen Paradeintellektuellen nachzuformen, aus verschiedenen historischen Quellen geistig zu erfassen. Der Vorwurf, sich selbst und ihren Vater (auch andere Familienmitglieder, die Semprún nie kennen gelernt haben, denen jedoch lange Seiten gewidmet sind) damit ein beträchtliches Stück weiter in den Mittelpunkt des publizistischen Interesses gerückt zu haben, bleibt bestehen.

(Wolfgang Moser; 12/2008)


Franziska Augstein: "Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert"
C.H. Beck, 2008. 368 Seiten.
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Dr. Franziska Augstein ist studierte Historikerin. Im Jahr 2000 erhielt sie den "Theodor-Wolff-Preis" in der Kategorie "Essayistischer Journalismus".