Peter Schneider: "Rebellion und Wahn"

Mein '68


Eine autobiografische Erzählung

Unter den zahlreichen Büchern von Zeitzeugen, Historikern und an den einstigen Auseinandersetzungen direkt beteiligten "Führungsfiguren", die im Frühjahr 2008, vierzig Jahre nach "1968", erschienen sind, ragt das vorliegende von Peter Schneider in mehrfacher Hinsicht besonders positiv heraus. Geschrieben hat Schneider es als "autobiografische Erzählung". Er stützt sich dabei auf seine damaligen Tagebuchaufzeichnungen, die er neben den sehr viel später veröffentlichten und von etlichen, unter anderen auch von Jutta Ditfurth regelrecht für ihre Interessen ausgeschlachteten, Tagebüchern von Rudi Dutschke als wohl Einziger systematisch verfasst und vor allen Dingen aufgehoben hat. Immer wieder werden Passagen aus diesem Tagebuch kursiv in seinem Buch abgedruckt, wodurch dem heutigen Leser auch sprachlich ein Eindruck von den damaligen Geschehnissen und davon, wie Peter Schneider diese höchstpersönlich erlebte und teilweise mitgestaltete, vermittelt wird.

Neben der rasanten politischen Entwicklung und der sich immer mehr zuspitzenden Situation infolge des Attentats auf Rudi Dutschke und vieles Andere, worauf an dieser Stelle nicht eingegangen wird, beschäftigt den Autor damals eine Amour Fou, die ihn nicht weniger aufwühlte als seine revolutionären Leidenschaften.

Peter Schneiders Buch ist kein nostalgischer Rückblick, es ist die Dokumentation des inneren Streits des nunmehr 68-jährigen mit dem "68’er" von damals. Er macht dabei mit dem damaligen Anspruch radikal ernst, das Politische sei privat und das Private politisch. Bei keinem anderen Autor hat der Rezensent im Frühjahr 2008 eine ernsthaftere sowie intellektuell und für ihn als Autor auch künstlerisch anspruchsvollere und selbstkritischere Darstellung der damaligen Ereignisse gelesen als bei Schneider.
Während Jutta Ditfurth nach wie vor die Revolution und die revolutionäre Gewalt verklärt, und Götz Aly sich vor allem an seinem Vorwurf abarbeitet, 1939 und 1968 seinen sozusagen geistige Geschwister gewesen, während Thomas Schmid in einem persönlichen Editorial in der "Welt am Sonntag" erläutert, warum er das geworden ist, was er ist, nämlich Chefredakteur im damals heftig bekämpften "Springer"-Konzern, erzählt Peter Schneider einfach, wie er diese bewegte Zeit selbst erlebt hat. Dabei mischt sich der 68-jährige immer wieder skeptisch in die Erinnerungen des "68'ers", wobei er sowohl die glorifizierende als auch die radikal verdammende Ex-Post-Betrachtung wohltuend vermeidet.
Schneider erzählt von Begebenheiten, über die der Rezensent in keinem der bisher auch schon anno 1978, 1988 und 1998 erschienenen Bücher über 1968 gelesen hat. "Rebellion und Wahn" kann sowohl für die Jahrgänge ab etwa 1954, die wie der Rezensent die Nachwirkungen der 68-er Bewegung an der Universität und auch im privaten Bereich erlebt haben, aber auch für die jungen Leser, die schon in einer durch 1968 mitveränderten Kultur und Gesellschaft aufgewachsen sind, als hervorragende Lektüre bezeichnet werden. Man muss einfach wissen, was damals geschehen ist, sonst begreift man vieles nachfolgend Geschehene nicht.

Auf zwei Hinweise Peter Schneiders sei hier näher eingegangen, weil der Rezensent diese so vorher noch nie beschrieben las.
Zum Einen befasst sich der Autor immer wieder mit der Rolle Hans-Magnus Enzensbergers und seinem Einfluss auf die "Bewegung":
"Es war Enzensbergers Pech, dass jedes, auch jedes unbedachte Wort von ihm kraft seiner enormen Autorität Folgen hatte. Man würde gern einen glitzernden Essay von Enzensberger über seine Einlassungen in der Spät- und Verfallszeit der antiautoritären Bewegung lesen, eine Abrechnung mit seinen eigenen ideologischen Verrennungen. Er fand nie etwas dabei, eine alte, inzwischen überlebte Erkenntnis durch eine neue zu ersetzen. Rückbesinnung und Selbsterforschung gehören nicht zu seinen Stärken. Sobald eine alte Überzeugung Risse zeigte, ist er, ohne sich noch einmal umzudrehen, zu neuen Ufern aufgebrochen. Im 'Nouvel Observateur' hat Enzensberger sich kürzlich - am 26. September 2007 - als einen 'Beobachter' der revolutionären Wirren jener Jahre bezeichnet. Ich halte diese Selbsteinschätzung - mit Verlaub - für ein Understatement. Nein, ein Beobachter ist Enzensberger nicht gewesen, sondern ein mutiger, manchmal tollkühner Antizipator der revolutionären Ideen jener Zeit. Wie andere, weniger berühmte Intellektuelle hat er sich dabei verirrt und Konzepte vertreten, die nicht mehr in sein Selbstbild passen. Aber was ist eigentlich so schlimm an seinen Irrungen und Wirrungen? Nächst den Erkenntnissen gehören eingestandene und intelligent analysierte Irrtümer zum besten, was Intellektuelle zum Fortschritt beizutragen haben."
Ja, denkt der Rezensent, das würde man sich wohl bei dem Einen oder Anderen wünschen. Mit Bloßstellungen öffentlicher Art, wie sie Götz Aly in seinem Buch "Unser Kampf" besonders am Anfang präsentiert, ist dieser Sache aber nicht gedient; im Gegenteil.

Zum Anderen sei auf eine Begebenheit mit Rudi Dutschke hingewiesen, die Peter Schneider schildert, und in der es um den Holocaust geht, den die "68'er" nun überhaupt nicht auf ihrer Agenda hatten.
"Tilman Fichter, der durch das Buch 'Aufstieg und Fall des Dritten Reiches' von William Shirer früh auf das Nazithema gestoßen war, erinnert sich eines denkwürdigen Gesprächs mit Rudi Dutschke. Der lesebegierige Dutschke, der damals wie Fichter im SDS-Zentrum wohnte, habe eifersüchtig auf den 1000-Seiten-Wälzer von Shirer geblickt und gefragt, was Fichter denn da lese. Fichter habe mit einer Gegenfrage geantwortet: Ob es nicht einmal an der Zeit sei, 'vom SDS aus etwas über den Judenmord zu machen', statt immer nur über Afrika und Vietnam. Nach einer Pause, nach langem Überlegen habe Dutschke geantwortet: Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr heraus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen.
Vierzig Jahre später darf man - ohne gleich den von der
'political correctness' gestreckten Zeigefinger zu erheben - fragen, ob Dutschkes Einschätzung nicht ziemlich realistisch war.
Sicher: Hätten die 68'er ihre Kräfte auf die Erforschung und Aufarbeitung der Naziverbrechen konzentriert, so wären die Al-Fatah-Schals, die Dieter Kunzelmann und viele Linke nach dem Sechstagekrieg trugen, wohl nicht so schick gewesen; der vom Genossen Henryk M. Broder früh bemerkte 'linke Antisemitismus' und die falsche Unschuld, mit der sich Berliner Revoluzzer als 'neue Juden' stilisierten, hätten sich nicht so leicht entfalten können; der Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin im Herbst 1969, die von Ulrike Meinhof gebilligte Mordaktion gegen israelische Sportler in München 1972, die Selbstverständlichkeit, mit der sich die RAF von arabischen Terroristen und geschworenen Judenfeinden in Jordanien ausbilden und finanzieren ließ, wären wohl auch von der radikalen Linken als ungeheuerlich  empfunden worden und hätten die Sympathien für die RAF von Anfang an gestoppt. All diese unverzeihlichen Verirrungen hätte es so nicht geben können. Aber auch nicht den Traum, eine neuen Gesellschaft nach neuen Regeln aufzubauen."


Die letzten Sätze dieses seiner grundsätzlichen Bedeutung wegen langen Zitats sind absolut typisch für das gesamte Buch Schneiders. Ehrlich und teilweise betroffen über soviel historischen und politischen Unverstand, verteidigt er dennoch immer wieder den Versuch so vieler Menschen, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Man möchte so manchem Vertreter der neuen "linken Szene" im Umfeld von "Attac" "Rebellion und Wahn" ans Herz legen; der bisweilen dort um sich greifende Antisemitismus und sowie die Verklärung der Palästinenser und ihres Terrors ist besorgniserregend.

"Es war eine schöne und schreckliche Zeit", beendet Peter Schneider sein sehr empfehlenswertes Buch. "Meinen Kindern sage ich: Es ist nötig - und wird immer wieder nötig sein und Mut erfordern -, gegen selbsternannte Herren der Welt und eine feige oder übergeschnappte Obrigkeit zu rebellieren. Aber noch mehr Mut gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu sagen: 'Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden!' - wenn eben dies der Fall ist."

(Winfried Stanzick; 05/2008)


Peter Schneider: "Rebellion und Wahn. Mein '68"
Kiepenheuer & Witsch, 2008. ca. 256 Seiten.
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Peter Schneider wurde 1940 in Lübeck geboren und wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Im Bundestagswahlkampf von 1965 schrieb er Reden für SPD-Politiker. 1967/68 avancierte Schneider zu einem der Wortführer der 68er-Bewegung. Er beendete seine Ausbildung 1972 in Berlin. 1973 Berufsverbot als Referendar.
Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden, die in pointierter Weise zu den politischen und ideologischen Fragen seiner Zeit Stellung bezogen. Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Lenz", 1973; Wiederveröffentlichung im Frühjahr 2008, "Schon bist du ein Verfassungsfeind", 1975, "Der Mauerspringer", 1982, "Vati", 1987, "Paarungen", 1992, "Eduards Heimkehr", 1999, "Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen", 2001 und "Skylla", 2005. Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an us-amerikanischen Universitäten; seit 1996 lehrt er als "Writer in Residence" an der Georgetown University in Washington D.C.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Lenz"

Fünf Jahre nach Ausbruch der Studentenrevolte machte ein schmaler Band literarisch Furore: Peter Schneiders Neuerzählung von Büchners Novelle avancierte binnen kürzester Zeit zum Kultbuch einer ganzen Generation.
Lenz, Student in einer Großstadt, irrt durch sein Leben: Seine Beziehung scheitert, politische Aktivitäten erschöpfen sich in fruchtlosen Diskussionen, der Versuch, sie durch die Arbeit in einer Fabrik endlich lebendig werden zu lassen, bleibt ergebnislos.
Um der drückenden Stagnation zu entkommen, löst er eine Fahrkarte nach Italien. In Rom begeistern ihn die Farben, das Miteinander der Menschen, die Lebenskunst. Aber rasch gerät er an die Kulturschickeria, in der das Politisieren längst dem Psychologisieren Platz gemacht hat. Ein Angebot, sich selbst einem Analytiker anzuvertrauen, lehnt er ab; eine Affäre mit einer Italienerin endet schnell. Wieder bricht er auf - diesmal nach Norditalien. In Trento trifft er auf eine Gruppe linker Studenten und Arbeiter, die ihn brüderlich aufnehmen. Dieses andere Italien wird für Lenz zur Befreiung.
Peter Schneider erzählt eine beeindruckende Geschichte über den Mut zur Veränderung und die Suche nach einem authentischen Leben. Sie hat bis heute nicht an Kraft und Brisanz verloren. "Lenz" ist zu einem modernen Klassiker geworden. (Kiepenheuer & Witsch)
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Weitere Buchtipps:

Götz Aly: "Unser Kampf. 1968"

Die Achtundsechziger bekämpften den Staat und das Kapital, genannt "das herrschende System". Die Rebellen- und Gendarm-Spiele von 1968 tobten in den Puddingbergen des Wirtschaftswunderlandes. Die Angegriffenen reagierten konfus, aber weit vernünftiger, als die Legende behauptet. Anders als die gängige Veteranen-Literatur zum Thema 68 untersucht Götz Aly, wie die Gegenseite damals dachte.
Er benutzt die Akten des Bundeskanzleramts, des Innenministeriums, des Verfassungsschutzes und die Nachlässe aus der Emigration zurückgekehrter Professoren wie Richard Löwenthal und Ernst Fraenkel. Er prüft, was Zeitgenossen wie Peter Wapnewski,
Josef Ratzinger oder Joachim Fest zu der plötzlichen Unruhe in der Jugend zu sagen hatten. Er zeigt, was die damaligen Maoisten über die Verbrechen Mao Tse-tungs hätten wissen können und wie sie vor der geschichtlichen Last des Väterlands in die Verherrlichung ferner Guerilleros flohen. Gleichzeitig schreibt Aly aus eigener Erfahrung. Er gehörte selbst zu den Achtundsechzigern und findet heute: "Es ist schwer, den eigenen Töchtern und Söhnen zu erklären, was einen damals trieb."
Anhand der Quellen analysiert er die "Bewegung" von 1968 als speziell deutschen Spätausläufer des
totalitären 20. Jahrhundrts und kommt zu dem Schluss: Die revoltierenden Kinder der Dreiunddreißiger-Generation waren ihren Eltern auf elende Weise ähnlich. (S. Fischer)
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Norbert Frei: "1968. Jugendrevolte und globaler Protest"
Die Chiffre "68" steht für ein Jahrzehnt der Rebellion. Nicht nur in der Bundesrepublik, in ganz Europa und rund um den Globus war eine kritische Jugend damals auf den Straßen, einen kurzen Sommer lang sogar hinter dem Eisernen Vorhang.
Norbert Frei sieht die Anfänge der weltweiten Bewegung in den USA. Im Kampf um die Gleichberechtigung der Schwarzen entstanden dort schon seit den fünfziger Jahren die später prägenden Formen des Protests: "Sit-ins", "Go-ins", "Happenings". Doch so sehr sich die Bilder glichen - unterschiedliche Gründe speisten die Unruhe einer ganzen Generation. In Deutschland war die "unbewältigte Vergangenheit" eine wesentliche Antriebskraft, in Frankreich war es der Verdruss an den neuen Universitäten. In England stand die Pop-Kultur im Vordergrund, und überall war der Protest gegen den Vietnamkrieg ein brennendes Motiv. 1968 hatte viele Gesichter. (dtv)
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Wolfgang Kraushaar: "Achtundsechzig. Eine Bilanz"
1968 - das Jahr, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Für die einen bedeutet es Aufbruch, Revolte und Emanzipation, für die anderen "Flirt" mit dem totalitären Kommunismus, Werteverfall und Geburtsstunde des
RAF-Terrors. Was wollten die Achtundsechziger, was haben sie erreicht? Vierzig Jahre danach zieht der Historiker Wolfgang Kraushaar, einer der besten Kenner der 68er-Bewegung, kritisch Bilanz. Kraushaar, seit vielen Jahren Mitarbeiter des "Hamburger Instituts für Sozialforschung", hat sich als scharfer Kritiker der 68er-Mythen einen Namen gemacht. Ob Internationalismus, antiautoritäre Erziehung oder sexuelle Befreiung - alles stellt er auf den Prüfstand und kommt zu verblüffenden Erkenntnissen. Führenden Köpfen der Bewegung weist er eine problematische Nähe zur Gewalt, antisemitische oder nationalistische Tendenzen sowie ein unausgegorenes Verhältnis zur deutschen NS-Vergangenheit nach. Hinter revolutionär-emanzipatorischer Fassade verbargen sich tiefsitzende Ressentiments aus dem Gepäck der verachteten Vätergeneration. Wer die 68er-Bewegung in ihrer historischen Bedeutung wirklich verstehen will, kommt um dieses Buch nicht herum. (Propyläen)
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Rudolf Sievers (Hrsg.): "1968. Eine Enzyklopädie"
Diese Enzyklopädie bietet eine Sammlung der wichtigsten Bezugstexte der Bewegung sowie einen Überblick über die 365 Tage des "dichtesten Jahres der Weltgeschichte" (Sloterdijk). (edition suhrkamp)
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Franz-Maria Sonner (Hrsg.): "Was war, was bleibt. Die 68er und ihre Theoretiker"
In diesem Audiopaket kommen die wichtigsten Theoretiker zu Wort, an denen sich die so genannten 68er gemessen haben - Theodor W. Adorno, Max Horkheimer,
Herbert Marcuse, Alexander Mitscherlich und Rudi Dutschke legen in für den Rundfunk geschriebenen Essays ihre Positionen und Visionen dar. Auch wenn die Einschätzungen, inwiefern die Studentenbewegung die bundesrepublikanische Gesellschaft verändert hat, auseinandergehen - dass eine kulturelle Revolution das Land verändert hat, ist unbestritten. Zeitzeugen wie Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Ulrike Meinhof, aber auch Rainer Barzel machen in diesen legendären Tondokumenten die Faszination dieser Epoche erfahrbar. (Kunstmann)
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Ingrid Gilcher-Holtey: "1968. Eine Zeitreise"
30. Januar 1968: Beginn der Tet-Offensive; 3. April: Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt; 4. April: Mord an Martin Luther King; 6. April: Premiere von Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum"; 11. April: Schüsse auf Rudi Dutschke; 11. Mai: Generalstreik in Paris; 6. Juni: Tod Robert F. Kennedys; 20./21. August: Niederschlagung des Prager Frühlings; 18. Oktober: Bob Beamon springt Weltrekord; 22. November: Veröffentlichung des "Weißen Albums" der "Beatles"; 21. Dezember: Apollo VIII umkreist den Mond.
In ihrer historischen Reportage sucht Ingrid Gilcher-Holtey die Orte des Geschehens auf, die Historikerin spricht mit Zeitzeugen und spürt den Verbindungen zwischen den Ereignissen nach. So entsteht ein Porträt dieses "dichtesten Jahres" der jüngeren Geschichte. (edition suhrkamp)
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Kanzleiter / Stojakovic (Hrsg.): "1968 in Jugoslawien. Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975 - Gespräche und Dokumente"
Demokratie, Selbstbestimmung und Anti-Nationalismus: Die Proteste von 1968 in Jugoslawien führten die Impulse der globalen Studentenbewegung aus Ost und West auf einmalige Weise zusammen. Dieser Band gibt Einblicke in die kulturelle und politische Blütezeit des "anderen" Jugoslawien, das nicht nur den westdeutschen Linken der Sechziger- und Siebzigerjahre als "sozialistische Oase" inmitten der realsozialistischen Tristesse des Ostblocks erschien. (Verlag J.H.W. Dietz)
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Josef Koudelka: "Invasion Prag 1968"
In den späten Abendstunden des 20. August 1968 marschieren Truppen von fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ein. Panzer rollen über die Straßen von Prag, Transportflugzeuge setzen Truppen ab. 650.000 Soldaten sollen die Ordnung im sozialistischen Bruderstaat wiederherstellen, die der "Prager Frühling" unter Dubcek und Svoboda angeblich gefährdete. Die Welt hält den Atem an, ein Krieg scheint unvermeidlich. Doch dann geschieht, was später das "Sieben-Tage-Wunder von Prag" genannt wurde: Unbewaffnete Bürger stellen sich zu Tausenden den Invasionstruppen entgegen, der zivile, gewaltlose Widerstand hat begonnen. 2008 jährte sich dieser historische Moment zum 40. Mal. Der tschechische Fotograf Josef Koudelka, 1938 geboren und seit 1971 Mitglied bei "Magnum", hat die Ereignisse miterlebt und in bewegenden Bildern festgehalten, die er rechtzeitig außer Landes bringen konnte. Sie gelangten ein Jahr später mit Hilfe von "Magnum Photos" anonym an die Öffentlichkeit. Koudelka wurde für sie - ebenfalls anonym - mit der "Robert Capa Goldmedaille" ausgezeichnet und musste wenig später sein Land verlassen. Die Bilderchronik, die er vierzig Jahre nach der Invasion aus seinem Archiv zusammenstellte, lässt die Stimmung der heroischen sieben Tage von Prag eindrucksvoll wiederaufleben. Mit Texten von Jirí Hoppe, Jirí Suk, Jaroslav Cuhra u.A. (Schirmer/Mosel)
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Jens Kastner, David Mayer: "Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive"
"Der Spiegel": 'Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ...' Adorno: 'Mir nicht.'
Die Interpretation der weltweiten Ereignisse 1968 engte den Blick in der deutschsprachigen Zeitgeschichts- und Sozialforschung lange auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen und auf nationale Rahmen ein. So wurde bislang immer von "Studentenunruhen" oder einem "Generationenkonflikt" (Norbert Elias) gesprochen.
Nach 40 Jahren bietet sich die Chance für neue Deutungen. Ausgehend von Immanuel Wallersteins These einer Weltrevolution 1968 bieten die geschichtswissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre die Gelegenheit, die Frage zu stellen: Steht das Jahr 1968 - bzw. der Zeitraum 1965-1973 - tatsächlich für eine Weltwende?
Aus globalgeschichtlicher Perspektive werden in diesem Band "Mythos, Chiffre und Zäsur" (Kraushaar) von 1968 neu diskutiert. Dabei geht es zunächst darum, den eingeschränkten Blick auf die Weltwirtschaft in dieser Zeit zu erweitern (Ende des "Fordismus"; Beginn der ersten großen Krise seit 1948; "Ölschock"). Zweitens ist es ein Anliegen, den nichtstudentischen Bewegungen - insbesondere den Kämpfen der Arbeiter und Arbeiterinnen, die um 1968 nicht nur in Frankreich und Italien geführt wurden, sowie der Neuen Frauenbewegung -, größere Beachtung zu schenken. Anschließend werden Umbrüche und Mobilisierungen in der so genannten Dritten Welt, insbesondere jedoch aber in der damals noch existierenden "Zweiten Welt" des realen Sozialismus ins Bild gerückt. (Mandelbaum Verlag)
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Bernd Guggenberger: "1968. Was bleibt und bleiben sollte"
Das magische Jahr gilt bis heute als politischkulturelle Vergleichs- und Deutungsebene. Ohne die erhellenden Erfahrungen von 1968 kann man Peymanns Theater, Wim Wenders' Filmästhetik oder Sozialtypen wie "Punk" oder "Yuppie" schwerlich verstehen. Der Geist jener Zeit des "großen Tumults" wirkt fort im zeitgenössischen Feminismus wie in den Attacken der Globalisierungsgegner und den punktgenauen Nadelstichen der "Greenpeace"-Aktivisten. Das gilt bis hin zu jüngsten Stichwort- und Vorbildgebern "linker" Theorie und Praxis, aber auch für anarchische "Politclowns" wie Michael Moore und "Borat". Nicht zu vergessen: Die 68er, die jetzt in Rente gehen, werden die erste Generation der "neuen Alten" sein. (Rotbuch)
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Andreas Pflitsch, Manuel Gogos (Hrsg.): "1968" zur Rezension ...
Kurzer Sommer - lange Wirkung.
Von Ho und Janis

Leseprobe:

Frühjahr 1967... Das Spektakel während einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude in Moabit. Zwei berittene Polizisten stürmen auf Pferden in die vordere Reihe der Demonstranten und hauen mit langen Stöcken auf sie los. Die Demonstranten stieben und stürzen auseinander, Angst- und Protestgeschrei. Einer, ein untersetzter Kerl mit rabenschwarzen Haaren, löst sich aus der Gruppe der Flüchtenden, geht den beiden Reitern unerschrocken entgegen, weicht ihren Schlägen wie ein Boxer mit gelassenen Schwüngen seines Körpers aus und krallt sich nach einem Sprung am Schweif eines Polizeipferdes fest. Der Reiter gibt dem Pferd die Sporen, aber der Angreifer läßt sich nicht abschütteln. Halb mitrennend, halb sich schleifen lassend, hält er sich an dem Schweif fest und läßt erst ab, als das Pferd steigt und den Reiter abwirft. Danach geht er lässig zur Seite, als wäre nichts geschehen. Erst im Weggehen, kurz bevor er von Demonstranten schützend umringt wird, erkenne ich in dem tollkühnen Kerl Rudi Dutschke. Der große Redner und Stratege - gleichzeitig ein Draufgänger mit Stuntman-Qualitäten?
Das Bild des in Panik steigenden Pferdes, des zur Seite abstürzenden Reiters und des zwischen den Hinterbeinen hin- und hergerissenen Rudi Dutschke setzte sich in meinem Gedächtnis fest. Meine Bewunderung war grenzenlos. So etwas würde ich nie und nimmer schaffen - oder am Ende doch, wenn ich meine Angst durch Schulung überwunden hätte?
Wenig später stand ich unter einer Gruppe von Aktivisten, von denen einige auf dem Boden knieten und mit Taschenmessern Pflastersteine aus dem Trottoir wühlten. Als ich genauer hinschaute, entdeckte ich mehrere quadratische Aussparungen im Kopfsteinpflaster, in denen nur noch schwarze Erde zu sehen war. Eine schmalschultrige Blondine mit Kurzhaarschnitt blickte zu mir hoch und bot mir einen Pflasterstein an. Unschlüssig blieb ich mit dem Stein in der Hand stehen. Als wolle sie mir ein Beispiel geben, richtete sie sich auf und schleuderte einen Wacker in die Kette der Polizisten. Im Gedränge konnte ich nicht verfolgen, wo ihr Geschoß landete, aber ihrem Fluch entnahm ich, daß der Wurf zu kurz gewesen war. Ich blickte auf die Polizisten - in der Mehrzahl schlecht ausgerüstete Zwanzigjährige mit Schirmmützen auf dem Kopf und kurzen Knüppeln. Die Vorstellung, daß der scharfkantige Stein in meiner Hand das Gesicht eines Menschen treffen könnte, bereitete mir Unbehagen. Die Werferin drehte sich zu mir um. "Was ist los mit dir, Ladehemmung?"
Ich ließ den Stein fallen und ging weiter. "Feigling!" rief sie mir nach.

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