Juan Rulfo: "Pedro Páramo"


Drama eines lateinamerikanischen Dorfes in äußerst klarer intensiver Prosa

Ich bin nach Comala gekommen, weil mir gesagt wurde, dass hier mein Vater lebt, ein gewisser Pedro Páramo.
Meine Mutter hat mir das gesagt. Und ich habe ihr versprochen, ihn gleich nach ihrem Tod aufzusuchen. Ich habe ihr die Hände gedrückt, um das zu bekräftigen, denn sie lag im Sterben und ich hätte alles versprochen.
"Versäume nicht, ihn zu besuchen", trug sie mir auf, "er heißt so und so. Ich bin mir sicher, dass es ihn freuen wird, dich kennenzulernen."
Und da konnte ich nicht anders, ich sagte, ja, das würde ich tun, und ich sagte es so oft, dass ich es auch dann noch sagte, als ich meine Hände nur mit Mühe aus ihren toten Händen befreien konnte.
Davor hatte sie noch gesagt: "Bettle ihn ja nicht an. Fordere, was uns zusteht. Das, was er mir schuldig war und mir nie gegeben hat ... Lass ihn teuer bezahlen, dass er uns im Stich gelassen hat, mein Sohn."
"Das werde ich tun, Mutter."
Aber ich dachte nicht daran, mein Versprechen zu halten. Bis ich auf einmal voller Träume war und die Illusionen mit mir durchgingen. Und so entstand in mir eine Welt rund um diese Hoffnung namens Pedro Páramo, den Mann meiner Mutter. Deshalb bin ich nach Comala gekommen.
(Beginn des Romans)

Als Juan Rulfos nun in einer Neuübersetzung vorliegender Klassiker 1955 in Mexiko erschien, wurde er zunächst noch mehr ignoriert als verrissen und erlebte erst etliche Jahre später, als Schriftstellergrößen wie Carlos Fuentes, Octavio Paz oder Carlos Blanco Aquinaga auf das Buch gestoßen waren und vehement auf seine Bedeutung hinwiesen, den Durchbruch; das literarische Mexiko seiner Zeit stand Rulfos Neuheit zunächst ratlos gegenüber, wozu gewiss auch der Umstand beitrug, dass der Schriftsteller den ohnehin schweren, etwa dreihundert Seiten umfassenden Urtext noch einmal um die Hälfte kürzte.

Obwohl er die meiste Zeit seines Lebens in Großstädten (vor allem Mexiko-Stadt) verbrachte, sah sich Rulfo als Schriftsteller des ländlichen Raumes, der sich Geschichten "ausgehend von dem, was ich in meinem Dorf und bei meinen Leuten gesehen und gehört hatte, ausdachte". Um einen prototypischen Dorfroman handelt es sich bei "Pedro Páramo", wobei der Titel des Buches nicht der Dorfname, sondern der seines mächtigsten, es als Großgrundbesitzer beinahe unumschränkt dominierenden Bewohners ist (um das Allgemeine, wenn auch insbesondere sehr Lateinamerikanische, dieses Missverhältnisses zu betonen, wird kein bestimmtes Land als Ort der Handlung genannt).

Nur der Beginn des Romans schlägt eine konventionelle Tonart an - ein junger Mann auf der Suche nach seinem unbekannten Vater. Rasch setzen unerwartete Wendungen ein, nach und nach gesellen sich dem Suchenden andere Stimmen bei, und es offenbart sich die kühne formelle und atmosfärische Struktur des Kunstwerks: allesamt sind es im Jenseits nicht zur Ruhe kommende Tote, die da sprechen, in Erinnerungsfetzen, teils auch miteinander kommunizierend, von wichtigen persönlichen Ereignissen und ihrem mühseligen Dasein in dem Dorf berichten und so in ihrer Gesamtheit auch eine Art Dorfchronik ergeben.

Rulfo ist dabei die Schaffung eines beeindruckenden genius loci gelungen: durch Häuser, Wege und Felder streifen nur die toten Seelen und die Echos, ungehindert durch Raum und Zeit, um es in seinen eigenen Worten zu sagen. Die Grenze zwischen Tod und Leben ist faktisch aufgehoben, in dem verfallenden Dorf ausharrende Menschen wirken weniger lebendig als die Toten, die zu ihnen flüstern, sie peinigen oder zu Fürbitten für ihre Seelen bewegen wollen. Die Erdung dieser gespenstischen Vision bewerkstelligt Rulfo mit einer äußerst klaren, auf moralische Zeigefinger verzichtenden intensiven Prosa, in der das ganze Drama des lebenden und sterbenden Dorfes auf die unbarmherzige Art geschildert wird, die den Unmenschlichkeiten des Vorgangs angemessen ist, den tristen materiellen und klimatischen Verhältnissen, dem Versagen der Kirche, der häufigen Zuflucht zur Gewalt, dem Abhängigsein von den Befindlichkeiten und Leidenschaften eines einzelnen Mächtigen. Letzterem, Pedro Páramo also, überträgt Juan Rulfo als letzten Antrieb für dessen irregeleitetes Tun sogar eine eigene große Sehnsucht: ein Mädchen, das er gekannt hat, als er drei Jahre alt war, verwandelt er in die große, unglückliche Liebe des Großgrundbesitzers, deren Bild diesem in seinem Sterbemoment den Weg erhellen soll.

(fritz; 12/2009)


Juan Rulfo: "Pedro Páramo"
(Originaltitel "Pedro Páramo")
Aus dem Spanischen neu übersetzt von Dagmar Ploetz.
Mit einer Nachbemerkung des Autors und einem Nachwort von Gabriel García Márquez.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2008. 176 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2010.
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Hörbuchausgabe:
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Der mexikanische Schriftsteller Juan Rulfo wurde 1917 in Sayulo geboren. Schon im Alter von zehn Jahren wurde er Vollwaise und verbrachte seine restliche Kindheit in einem Internat in Guadalajara.
Nach zahlreichen Reisen durch Mexiko und kleinen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften erschien 1953 sein Erzählband "Der Llano in Flammen" und bald darauf sein Roman "Pedro Páramo", der seinen Ruhm als einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas begründete. Der Roman gilt als ein Schlüsseltext der lateinamerikanischen Literatur.
Nach seinen Veröffentlichungen zog sich Rulfo vom Schreiben zurück und arbeitete bis zu seinem Tod als Fotograf und als Herausgeber verschiedener Forschungsbände am "Instituto Nacional Indigenista de México" in Mexiko-Stadt, wo er am 7. Jänner 1986 verstarb.

Weitere Bücher des Autors:

"Der goldene Hahn"

In knappen, eindringlichen Bildern schildert Rulfo die Geschichte eines hochmütigen Emporkömmlings, der alle Reichtümer gewinnt und doch nur dahinvegetiert. Sein Untergang geht einher mit dem der Frau, die er vernichtet hat und die im Tode ihn vernichtet. (Hanser)
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"Der Llano in Flammen"
Die sechzehn Erzählungen handeln von den Grunderlebnissen der Menschen, die den Llano bevölkern. Scheinbar emotionslos beschreibt Rulfo ihr von Gewalt und Ohnmacht bestimmtes Leben und Sterben, verwandelt das mündliche Erzählen in einen wortkarg nach innen gekehrten Monolog. In seiner Kunst, die das Wirkliche der mexikanischen Lebenswelt nicht überhöht, sondern nüchtern einfängt, gewinnt das Schicksal seiner Figuren überzeitliche Bedeutung. (Suhrkamp)
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"Wind in den Bergen. Liebesbriefe an Clara"
"Wind in den Bergen", so nennt der junge Schriftsteller Juan Rulfo das sechzehnjährige Mädchen, in das er sich mit der Hoffnung und Heftigkeit des einsamen Wanderers verliebt, der endlich das Ziel gefunden hat. Doch ein Stück Weg muss er noch gehen: drei Jahre Wartezeit verlangt sie von ihm. Eine harte Probe der Geduld, die uns eindringliche Liebesbriefe von großer Vielfalt schenkt. Seine Briefe aus den Jahren 1944 bis 1950 - verzweifelt werbend, spielerisch, zärtlich - sind zugleich die lebendigste Biografie dieses scheuen Autors. "Einstweilen habe ich mich damit beschäftigt, das Ausmaß meiner Liebe zu berechnen, und dabei kamen 685 Kilometer auf der Landstraße heraus." Rulfo muss sich in Mexiko-Stadt eine Existenz schaffen, doch sein Herz hat er bei Clara in Guadalajara gelassen. Der zurückhaltende Rulfo, der für seine knappe, prägnante Prosa bekannt werden soll, wirbt um sie mit Worten, in denen er seinen Gefühlen freien Lauf lässt, entfesselt sich in virtuosen Briefen, verbirgt ihr neben seiner Hingabe auch nicht die Abgründe seiner Verlorenheit und Einsamkeit. Gerade mit dieser Mischung aus Ernst, Humor und überwältigender Zärtlichkeit gewinnt er die junge Clara. So überschwänglich spielerisch sein Ton meistens ist, es melden sich früh die materiellen Sorgen. Spricht er davon, nennt er seine Briefe scherzhaft "Geschäftsbriefe", doch gerade sie sind farbige Zeugnisse des Lebens in Mexiko-Stadt, der Literaten- und Künstlerkreise, des Existenzkampfs: das Ambiente, in dem Rulfos große Prosawerke entstehen, bevor er als Autor so überraschend verstummen sollte. (Suhrkamp)
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"Mexiko - wunderbare Wirklichkeit"
Als Schriftsteller ist Juan Rulfo weltweit bekannt. Dass er über einen Zeitraum von zehn Jahren auch fotografierte - nämlich auf seinen Reisen ins Innere Mexikos, die er als Handlungsreisender zu unternehmen hatte - ist weit weniger bekannt. Es ist ein in sich geschlossenes fotografisches Werk, das auf diesen Reisen entstand. Rulfo fotografierte sein Land und seine Bewohner mit einem geradezu magischen Einfühlungsvermögen. In seinen Fotografien walten eine Stille und eine Melancholie, die den Beschauer ergreifen und denen er sich nicht entziehen kann. Carlos Fuentes hat das Vorwort zu diesem Bildband geschrieben, und mehrere mexikanische Autoren führen in das Werk ein. (Benteli)
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