Jørn Riel: "Gesang des Lebens"

Die Grönland-Saga


Gewaltige Erzählung

Grönland und die Inuit sind Thema etlicher Bücher des dänischen Schriftstellers Jørn Riel, der selbst sechzehn Jahre auf Grönland gelebt und sich intensiv mit der Kultur der Inuit befasst hat.
"Gesang des Lebens" ist eine Trilogie, in deren ersten beiden Teilen für die Besiedlung und weitere Erschließung Grönlands bedeutende Inuit-Persönlichkeiten und deren ähnlich abenteuerlustige und mutige Nachkommen die Hauptrollen spielen. Protagonistin des letzten Teils stellt Soré dar, eine junge Inuit in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die von den Helden der ersten beiden Trilogie-Teile abstammt und den Sagen um ihre Ahnen nachspürt.

Im ersten Buch, "HEQ", geht es um die Besiedlung Grönlands durch die auf dem Territorium des heutigen Nordkanada lebenden Inuit um das Jahr 1000 n. Chr.: Diese sehen sich vermehrt aggressiven Übergriffen der unter Nahrungsknappheit leidenden benachbarten Indianer ausgesetzt. Heq, ein Zauberer und wichtiges Mitglied seiner Gemeinschaft, nimmt eine gefangene Indianerin zur Frau. Mit ihr und wenigen Familien zieht er nach Nordosten und gelangt schließlich nach Grönland.

Seinem Nachfahr Arluk, Protagonist des zweiten, gleichnamigen Buchs, ist vorherbestimmt, dass er eine Reise um die ganze Welt antreten wird - womit in der Tradition der Inuit nur Grönland gemeint sein kann. In der Tat umrundet er allen Widrigkeiten zum Trotz die riesige Insel. Auf dieser Reise findet er auch seine große Liebe, eine Wikingerfrau, einzige Überlebende einer von Inuit vernichteten Siedlung ihres Volkes.

Von diesen beiden stammt die bereits erwähnte Soré ab, deren graue Augen auf ihre Ahnin aus dem Wikingervolk verweisen. Soré hat mehrere traumatische Erlebnisse hinter sich, als sie ihre Begabung zum Erzählen entdeckt und im Zuge ihrer Recherchen Orte aufsucht, die für ihre Vorfahren von Bedeutung waren. Bis nach Kanada führen ihre Reisen. Letztlich aber begreift sie, dass ihre Suche nach ihren Ahnen vor allem eine Reise zu sich selbst ist.

Der Autor kennt aus seinen eigenen Erfahrungen in Grönland Mitte des 20. Jahrhunderts und aus Erzählungen der Inuit deren Welt sehr genau. Sein tiefer Respekt vor ihrer Kultur und Lebensweise fließt auf ganz natürliche Weise in seine Erzählungen ein und verleiht ihnen Brillanz und Authentizität; besser kann wohl kaum ein Europäer über die in Grönland in vielen Jahrhunderten gewachsene Inuit-Kultur und deren halb historische, halb mythische Vergangenheit berichten.

Völlig fiktiv sind weder seine Figuren noch deren Reisen und Lebenswelten, zumal die Besiedlung Grönlands von Kanada aus ebenso belegt ist wie die Klimaschwankungen, die, veranlasst durch um Nahrung konkurrierende Indianerstämme, zum Ausweichen der Inuit nach Nordosten und somit Grönland führten. Riel fühlt sich in die mythischen und mystischen Vorstellungen seiner Protagonisten ein und schildert sie so kraftvoll und glaubwürdig, dass beim Leser nie ein Eindruck in der Art von kitschiger Folklore oder modischem Ethno-Getue aufkommt. In seiner Saga treten Menschen auf, die ganz im Sinne ihrer religiösen Vorstellungen und an ihre Umwelt angepasst agieren. Manche verhalten sich zögerlich, andere setzen ihre Visionen um und stecken, wie Arluk, andere damit an.

Jørn Riels Stil wirkt schlicht und besticht doch durch seine Anschaulichkeit und Eleganz. Ob es um lebensgefährliche Abenteuer, zwischenmenschliche Konflikte, Aggression, Erotik oder Landschaftsschilderungen geht: der Autor verleiht jeder Situation Dramatik und Leben. So werden die fünfhundert Seiten an keiner Stelle langweilig.

Ein Glossar am Ende von "Gesang des Lebens" erläutert die im Buch verwendeten Wörter aus der Inuit-Sprache.
Für Freunde von Jørn Riels Werken ist diese Trilogie selbstverständlich ein Muss. Doch sie wird auch Leser in ihren Bann ziehen, die ein erstklassiges Erzähltalent zu schätzen wissen und sich für fremde Kulturen interessieren.

(Regina Károlyi; 03/2008)


Jørn Riel: "Gesang des Lebens. Die Grönland-Saga"
(Originaltitel "Sangen for livet")
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel
Unionsverlag, 2008. 505 Seiten.
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