Tilman Rammstedt: "Der Kaiser von China"


Unwahrscheinlich glaubhafte Flunkereien
"Bachmann"-Preisträger Tillmann Rammstedt spielt in seinem Roman "Der Kaiser von China" überzeugend mit Unwahrheiten


Die älteste Idee der chinesischen Philosophie ist die Einteilung in Yin und Yang. Diese beiden Begriffe findet man nicht nur in Kunst, Wissenschaft und Architektur, sondern sie sind überall im chinesischen Denken manifestiert und durchdringen nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens. Yin und Yang entstehen aus dem einen Ursprung und bringen dann ihrerseits die enorme Vielfalt der Erscheinungen hervor. Für die Beseitigung von Hindernissen, die dem Glück im Wege stehen, für die Harmonisierung der familiären Verhältnisse und für die Wiederherstellung der Gesundheit und müssen sich Yin und Yang im Gleichgewicht befinden.

Allerdings helfen Rekonvaleszenz oder Gesundheitsprophylaxe in Tilman Rammstedts Roman auch nicht mehr. "Der Kaiser von China" ist tot. Doch nicht den wahren, 1967 verstorbenen Aisin Gioro Pu Yi, hat Rammstedt zum Helden seines wunderbar komischen Romans gemacht. Sein "Kaiser" ist der Großvater von Keith Stapperpfennig, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. In China war er jedenfalls noch nie, "fast nirgendwo war er schon gewesen, wie sich herausstellte, er hatte den europäischen Kontinent niemals verlassen, Deutschland niemals verlassen, war nur einmal der holländischen Grenze recht nahe gekommen und einmal, wohlwollend betrachtet, der dänischen." Nun liegt er tot im Westerwald, obwohl er eigentlich im "Reich der Mitte" sein müsste. Und er, Keith, bei ihm. Aber gewissermaßen auch wieder nicht, denn er sitzt schon seit Tagen unter seinem Schreibtisch und verleugnet sich.

Wie jetzt? China hin und Westerwald her, wer ist denn nun wo? Und warum eigentlich immerzu nur China? Die Balance von Yin und Yang scheint gehörig instabil. Was ist passiert?
Die fünf Enkel eben besagten Kaisers, nein Großvaters, der gleichzeitig den Mutter- und Vater-Part in der mehr als eigenartigen Familie einnimmt, wollen ihm zum achtzigsten Geburtstag eine Reise schenken. Das Ziel kann er selbst wählen. Und da sich Großvater noch bestens fühlt, auch wenn ihm ein Arm fehlt, will er nach China. Keith - als ausgemachter Lieblingsenkel des alten Herrn - wird dazu auserkoren, ihn zu begleiten.

Doch der will nicht. Viel lieber möchte er Franziska heiraten, seine letzte und jüngste Großmutter, oder besser: ehemalige Stiefgroßmutter. Denn die ist nun seine Geliebte, nachdem ihm der Großvater in der Vergangenheit mit konstanter Regelmäßigkeit die Freundinnen ausgespannt hat. Da zieht auch nicht Opas Universaltrick: "Ich sterbe!". Trotz derartiger Androhungen hat er schon oft alle vom lächerlichen Gegenteil überzeugt. "Sein Ehrgeiz, nicht zu sterben, wurde nach und nach zu einer ausgewachsenen Obsession. Alle paar Tage mussten wir mit ihm zum Friedhof, wo er dann Grab um Grab abschritt und triumphierend 'Jünger', 'Viel jünger', 'Fast gleich alt' rief." Der rüstige Rentner ist im wahrsten Sinn des Wortes nicht unter- und totzukriegen.

Jedenfalls verjubelt Keith mit seiner Holden das Reisegeld in einem Spielcasino und lässt seinen Opa alleine ziehen. Doch der scheint offensichtlich nicht weit gekommen zu sein und liegt nun in einem Kühlfach der westerwäldischen Pathologie. Nur wie verklickert er das seinen Geschwistern glaubhaft, die da immer noch meinen, er betrachtet mit Opa die Chinesische Mauer? Er zaubert sich eine Geschichte aus dem Hut und erfindet sein eigenes China, das er den Daheimgebliebenen in täglichen Briefen zu schildern versucht. "Wenn ich um Erklärungen schon nicht herumkam", überlegt sich Keith, "dann konnten es genauso gut welche sein, mit denen am Ende alle zufrieden waren." Letztendlich beseitigt Keith Stapperpfennig alle störenden Hindernisse, lässt Großvater glücklich in China zurück.

Dem "Ingeborg-Bachmann"-Preisträger, der für die ersten sechzehn Manuskriptseiten dieses Buches neben dem Preis der Jury auch noch den Publikumspreis erhielt, ist ein nahezu überwältigender Roman gelungen. Auf der einen Seite sprüht er geradezu vor rasanter Komik, irrwitzigen Lügen und einer Unmenge Absurditäten und Fantasien, auf der anderen offenbart er große Melancholie, Liebe und Menschlichkeit. Dabei spielt der Autor meisterhaft mit den beiden fernöstlichen philosophischen Begriffen.

Der Leser reist mit Keith durch das konfuse fiktionale China und merkt kaum, wie aus der anfänglich erfundenen Reiseerzählung seines Protagonisten mit zunehmendem Handlungsverlauf selbst eine Geschichte, ja eine romaneske, nachdenkenswert-tiefgründige Erzählung wird, die schlussendlich in einem eher stillen als furiosen Finale endet. Yin und Yang, der Anfang und das Ende, die Wurzeln von Leben und Tod, befinden sich zu guter Letzt wieder im harmonischen Gleichklang.

"Als Schriftsteller und als Leser traue ich den Geschichten mehr, die mit Humor geschrieben sind", sagte Rammstedt in einem Interview. "In total ernster Prosa erkennt man die Effekte oft zu schnell, die Rührung oder Trauer erzeugen sollen. Hinter Humor kann man solche Effekte besser verstecken, und auf die ernsten, tiefgründigen Seiten kommt es mir genauso an."
"Der Kaiser von China" lebt nicht nur von seinen kraftvoll-subtil gezeichneten Charakteren und seinem sprühend-klugen, bizarr-komischen Humor, sondern auch durch seine rezeptive, feinsinnige und ideenreiche Sprache, unter deren vordergründiger Unbeschwertheit eine unerwartete Ernsthaftigkeit und Dramatik liegt.

(Heike Geilen; 11/2008)


Tilman Rammstedt: "Der Kaiser von China"
Gebundene Ausgabe:
DuMont Buchverlag, 2008. 192 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2010.
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