Mikołaj Łozínski: "Reisefieber"


Kostbare Zeit ohne Leben
Ein überraschend reifer Debütroman eines polnischen Autors


Von einem komplizierten Mutter-Sohn-Verhältnis erzählt Mikołaj Łoziński in "Reisefieber". Dessen Held macht sich auf den Weg von New York nach Paris, um die verlorene Zeit seines kindlichen Vertrauens zu suchen.

Männern fällt es im Allgemeinen nicht leicht, Gefühle zu zeigen, geschweige denn, über sie zu reden. Die us-amerikanische Neuropsychologin Louann Brizendine verglich in ihrem Buch "Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer" die emotionale Ebene der Geschlechter treffend mit Verkehrswegen. "Frauen haben einen achtspurigen Highway um ihre Gefühle auszudrücken, Männer nur eine Landstraße", ist ihre Auffassung. Ein holpriger Feldweg scheint der des Ich-Erzählers Daniel zu sein. Zudem kommt bei dem bisher erfolglosen Schriftsteller schwedischer Nationalität, der in New York lebt und in Paris aufgewachsen ist, noch eine ausgeprägte zwischenmenschliche Unsensibilität hinzu.

Zu Beginn des Romans erreicht Daniel die Nachricht vom Tod seiner Mutter Astrid. "Er konnte doch so viele Sprachen, Millionen von Wörtern. Wieso kam er jetzt nicht auf ein einziges? Wie fühlt sich ein Mensch, der die Mutter verloren hat? Wie fühle ich mich?, grübelte er. Ich fühle mich wie ein Mensch, der die Mutter verloren hat. Sinnlos. Anders kann ich es nicht sagen." Seit Jahren distanziert er sich von ihr und hat den Kontakt vollständig abgebrochen. Um die letzten Angelegenheiten zu regeln, fliegt er nach Paris.

Tiefenpsychologische Therapie
Die Stadt seiner Kindheit und Jugend offenbart noch viele Spuren Astrids, die Daniel nach und nach entdeckt und verfolgt, um den "Code für all das abzulesen, was in den achtunddreißig Jahren mit ihm geschehen war." Er besucht Menschen, die im Leben der Mutter zuletzt eine Rolle gespielt haben. Und so lassen die Gespräche mit dem Liebhaber, der Psychotherapeutin oder der Halbschwester seiner Mutter sowie dem Arzt der letzten Stunden zum ersten Mal echtes Interesse an Astrids Person entstehen.

Sein Aufenthalt gleicht mehr und mehr einer tiefenpsychologischen Therapie für sein gestörtes Emotionsempfinden. Er holt die Räume seiner Vergangenheit in die Gegenwart und versucht, sein Leben zu rekonstruieren und zu analysieren. "Bruchstücke von Erinnerungen tauchen vor seinen Augen auf, er nahm vergessen geglaubte Gerüche wahr, hörte Musik von einer kratzenden Schallplatte, dann war ihm, als zöge es ihm den Boden unter den Füßen weg und als würde er gleich salziges Meerwasser schmecken." Immer wieder treten schemenhafte, bedrohliche Bezüge eines Griechenlandurlaubs zu Tage und führen ihn letztendlich zu einem schrecklichen Familiengeheimnis.

Der Leser erfährt schon am Anfang des Romans eine suggestive Reizübertragung, die der polnische Autor nahezu perfekt beherrscht. So wird er bereits während des Fluges mit den idiosynkratischen Eigenarten des jungen Mannes konfrontiert. Daniel hat einen geradezu manischen Zwang, sich in exakt abgestimmten Abständen die Fingernägel zu schneiden. Während der gesamten Romanhandlung wird sich sein innerer Zustand nahezu perfekt an ihrem Längengrad abmessen lassen. Gleichzeitig sind sie sein Zeitmesser.

Fesselnde Spurensuche
Das stetig wiederkehrende Motiv der zu langen Nägel ist charakteristisch für Łozińskis Gespür für Kleinigkeiten, aus denen er seine Erzählung zusammensetzt. Gekonnt verwebt er ein scheinbar chaotisches Sammelsurium von Bruchstücken zu einer ausgewogenen Melange aus Gedanken, Erinnerungsfetzen und Wunschvorstellungen. Dabei flicht der Autor kontrapunktorisch eine zweite und dritte, ausnahmslos im Präsens angesiedelte Erzählebene ein, in der er Daniels Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Anna beleuchtet und vor allem Astrid selbst zu Wort kommen lässt. Alle Begebenheiten stehen in einem engen Kontext symbiotischer Abhängigkeiten. Kleine Andeutungen, vage Hinweise und plötzliches Abschwenken halten zudem durchweg die Spannung.

Das Debüt des 1980 geborenen Polen ist in einer angenehm klaren, leicht und flüssig zu lesenden Sprache gehalten, geprägt von einem sanften, melancholisch-hypnotischen Sprachrhythmus. Nichts Ungestümes, Drängendes oder gar Konstruiertes offenbaren die Zeilen. So erweist sich "Reisefieber", im Gegensatz zum Leben seiner Protagonisten, keineswegs als "Scherbenhaufen" oder "abstraktes Müll-Museum", sondern als ein harmonisch-unauffällig strukturierter Roman, der ein nahezu fachmännisches, dezent-psychologisches Profil seiner Protagonisten entwirft und sich durch eine großartige Visualisierung auszeichnet, die sich keineswegs nur auf Schwarz und Weiß beschränkt, sondern über vielfältige Farbnuancen verfügt. Die Übersetzerin Roswitha Matwin-Buschmann hat diese sorgfältig aufgenommen und wunderbar ins Deutsche übertragen.

Fazit:

Dieses stille, unprätentiöse Buch einer fesselnden Spurensuche nach eigener Identität und verlorener Zeit, mit vielfältigen Reflexionen über Verantwortung, Liebe, Tod, Einsamkeit und der Möglichkeit einer "Lebenskorrektur", hinterlässt einen wundervollen Nachhall. Es zeugt von einer ungewöhnlichen Reife seines jungen Autors.

(Heike Geilen; 09/2008)


Mikołaj Łozínski: "Reisefieber"
Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann.
DVA, 2008. 208 Seiten.
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Mikołaj Łozínski wurde 1980 als Sohn des bekannten polnischen Dokumentarfilmers Marcel Łozínski geboren. Er studierte Soziologie an der Pariser Sorbonne, wohnte einige Zeit in Berlin, publizierte Kurzgeschichten in polnischen Literaturzeitschriften und hatte bereits einige Ausstellungen seiner fotografischen Arbeiten. Łozínski lebt und arbeitet heute in Warschau.

Noch ein Buchtipp:

Marta Kijowska: "Polen, das heißt nirgendwo. Ein Streifzug durch Polens literarische Landschaften"

Für kaum eine andere europäische Nation war das 20. Jahrhundert eine solche Herausforderung wie für die Polen: Der Kampf um die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität, der Erste Weltkrieg, die unruhigen Zwischenkriegsjahre, in denen der Aufbau des neuen Staates mit dem Heraufziehen des Faschismus in Europa einherging, der Zweite Weltkrieg, der das Land völlig verwüstete, die 45-jährige Ära des Kommunismus, die seinen wirtschaftlichen Ruin mit sich brachte, und schließlich die Zeit nach der Wende, in der es galt, moderne Strukturen des öffentlichen Lebens zu schaffen - all das setzte sich zu einem sehr bewegten Kapitel der polnischen Geschichte zusammen und fand freilich auch seinen Niederschlag in der Literatur: Nicht nur in der Zahl literarischer Werke und in der Themenwahl, sondern auch darin, dass die im Laufe des Jahrhunderts wechselnden Zentren des literarischen Lebens einen unterschiedlichen Charakter hatten. Einmal war er Folge der politischen Situation, einmal Ausgeburt einer Mode, einmal resultierte er aus der geografischen Eigenart des jeweiligen Hinterlandes. Und immer und überall - ob in Warschau, Krakau, Zakopane, Lemberg, Wilna, Danzig oder Paris, dem Exilmekka der Polen - wurde er von einer oder mehreren Literatenpersönlichkeiten geprägt.
Das Buch von Marta Kijowska ist eine Reise durch diese wechselnden Zentren, bei der sie die wichtigsten dieser "Literaturlandschaften" charakterisiert. Es geht ihr nicht darum, alle Erscheinungen, Richtungen, Moden und Stile zu schildern, geschweige denn eine vollständige "Geschichte der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts" zu schaffen. Sie erzählt vielmehr die mit einem Ort und einer bestimmten Zeitspanne verbundenen literarischen Ereignisse und zeigt dabei die historischen, politischen und kulturellen Zusammenhänge und Querverbindungen. (C.H. Beck)
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