Gerald Groß: "Wir kommunizieren uns zu Tode"

Überleben im digitalen Dschungel


Über die Schattenseiten der digitalen Medien

Eine Welt ohne Mobiltelefon, E-Mail und die unterschiedlichsten Internetangebote wird zunehmend undenkbar. Für viele ist sie es bereits; diesbezügliche Süchte haben einen durchaus nicht unerheblichen Anteil vor allem der jungen Leute erfasst.

Der Journalist Gerald Groß, selbstverständlich ein Nutzer der digitalen Medien, untersucht in seinem Buch "Wir kommunizieren uns zu Tode" kritisch das Überangebot an Informationen, dem der moderne Mensch ausgesetzt ist, die Abhängigkeit von der digitalen Technik und ihren Geräten und die Gefahren, die aus dieser Entwicklung resultieren.

Die Einleitung, passend "Water, water, everywhere" betitelt, gibt einen kurzen Überblick über die zentrale Themenstellung des Buchs, die Überflutung mit Informationen, deren schiere Fülle paradoxerweise zur Desinformation des Einzelnen führt. Im ersten Kapitel befasst sich der Autor mit dem Problem der Überfütterung des Einzelnen mit E-Mails. Er umreißt die Geschichte der E-Mail, die, wie so viele Geniestreiche, zunächst gar nicht ihr späteres Potenzial erkennen ließ, und vollzieht nach, wie die elektronischen Nachrichten von einem nützlichen Werkzeug mehr und mehr zu einer Belastung wurden, die Unmengen an Arbeits- und Freizeit frisst: nicht nur aufgrund der Unmengen an Spam, sondern auch, weil - oft in guter Absicht - in Arbeitsgruppen oder im Freundeskreis so viele im Grunde völlig sinnlose E-Mails in Umlauf gebracht werden.

Noch frappierender präsentiert sich die Fülle an nutzlosen Nachrichten im Kapitel über das Mobiltelefon. Die zwanghaften, ständigen Blicke von echten oder Möchtegern-Erfolgsmenschen auf das Anzeigefeld von Handy oder Blackberry, vor allem aber die SMS-Sucht von Kindern und Jugendlichen lassen auf eine durchaus Besorgnis erregende Abhängigkeit schließen. Nicht zuletzt gilt derjenige, der möglichst viele SMS erhält, als beliebt und somit erfolgreich. Der Autor weist auch auf Initiativen hin, beispielsweise in Kommunen, die mobiltelefonfreie Zonen zum Ziel haben.

Der Abschnitt "Blogs und Social Web. Neue Spielwiesen fürs (Alter) Ego" befasst sich mit besonders brisantem Material. Es ist nicht nur die Fülle an zumeist sinnentleerten Blogs und ähnlichen Angeboten, die Anlass zur Kritik gibt, sondern auch der Missbrauch, denn vielfach landen Daten, die Nutzer naiv bei Diensten wie "Facebook" eingeben, bei Unbefugten, Blogs werden zur Verbreitung illegaler Inhalte benutzt und unbescholtene Menschen verleumdet. Ähnliches gilt auch für "YouTube" und ähnliche Angebote, denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, und die nicht nur ganze Industrien einbrechen lassen, sondern auch als äußerst wirksames Mittel zur Diffamierung Einzelner eingesetzt werden können.

Im letzten Kapitel geht es um die "Klick-Klick-Gesellschaft" mit dem Schwerpunkt Süchte, so unter anderem, nicht unerwartet, um Pornografie im Internet, die, im Gegensatz zu früher, nicht nur bei vielen Anbietern kostenlos zu haben, sondern auch wesentlich "härter" geworden ist - was vor allem deshalb Bedenken bereiten sollte, weil Kinder und Jugendliche im Allgemeinen problemlos an solche Inhalte herankommen und diese, je öfter sie ihnen begegnen, für Normalität halten.

Auch die verbreitete Sucht nach Online-Spielen, keineswegs harmloser als die Glücksspielsucht früherer Zeiten, wird in diesem Kapitel betrachtet. Und ebenso beleuchtet der Autor kritisch Nutzen und Risiko von Angeboten wie "Wikipedia".
Zum Abschluss zeigt Gerald Groß einige Lösungsansätze auf.

Ein rückwärtsgewandter Technikverweigerer ist der Autor keineswegs, das könnte er sich in seinem Beruf auch gar nicht erlauben. Auf unmittelbar Betroffene, also Menschen, die dem digitalen Informationsrausch verfallen sind, dürften die Ausführungen in diesem Buch drastisch, wenn nicht überzogen wirken und die Lösungsansätze mit dem Ziel einer Befreiung von der Bit-Flut Entsetzen hervorrufen. Wer sich jedoch regelmäßig über eine Flut an unerwünschten SMS, regelrechte "Berge" an Spam und dutzendweise bedeutungslose Mails ärgert, die über irgendwelche Verteiler eintreffen, und wer vom ständigen Mobiltelefongeklingel und sich anschließenden banalen Geplapper in öffentlichen Räumen wie Bahn und Restaurant genervt ist, wird den Inhalten hingegen offen gegenüberstehen.

Gerald Groß stützt seine Argumentation auf bekannte Fälle und nachvollziehbare Studien und Statistiken und weiß seine Kritik immer logisch zu begründen. Sein Stil ist trotz der gebotenen Sachlichkeit kurzweilig, sodass es sich nicht um trockene Lektüre in "nölendem", moralisierendem Tonfall handelt, sondern um ein so informatives wie angenehm lesbares Buch. Natürlich greift er Extremfälle besonders heraus, und das Gros der Leser droht vermutlich nicht in totale Abhängigkeit von Internet und Handy zu geraten oder auf "YouTube" mittels von Dritten eingestellter privater Sexvideos unfreiwillig groß herauszukommen. Die aufgezeigten Tendenzen kann jedoch praktisch jeder an sich beobachten - und vor allem an seinen Kindern, falls vorhanden. Für die Gesellschaft als Ganzes sind sie sicherlich nicht unbedenklich.

Außer dem Einfluss auf das tägliche Leben des Einzelnen ist auch die Degenerierung des Internets zu einer Plattform für meist nur drittklassige Selbstdarsteller und Dilettanten im denkbar schlechtesten Sinne ein Thema, ähnlich wie in Andrew Keens "Die Stunde der Stümper". Groß befasst sich jedoch vor allem mit der Entwicklung im deutschsprachigen Raum und bietet ein breiteres Spektrum an Inhalten.

Ob man nun Verfechter oder Kritiker der digitalen Medien ist: Bei "Wir kommunizieren uns zu Tode" handelt es sich um ein sehr lesenswertes Buch mit Inhalten, die alle Nutzer dieser Medien bewegen - oder, wenn der Autor Recht hat, bewegen sollten.

(Regina Károlyi; 12/2008)


Gerald Groß: "Wir kommunizieren uns zu Tode. Überleben im digitalen Dschungel"
Ueberreuter, 2008. 208 Seiten.
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