Alexandra Birkert: "Hegels Schwester"

Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800


Christiane Hegel, eine Frau, die "ihre Unabhängigkeit hat leben wollen"

"Im Oktober 1818 übernahm der gebürtige Stuttgarter Georg Wilhelm Friedrich Hegel an der Berliner Universität den Lehrstuhl für Philosophie. Nun erst - im Alter von fast fünfzig Jahren - legte er den Grundstein für seinen Weltruhm: mit seinen Vorlesungen über Logik, Rechts- und Religionsphilosophie, Philosophie der Weltgeschichte und Ästhetik. Nahezu gleichzeitig wurde seine drei Jahre jüngere und unverheiratet gebliebene Schwester Christiane Luise in die württembergische 'Staatsirrenanstalt Zwiefalten' eingeliefert. Man schrieb Mai 1820. Ein gutes Jahr später wurde Hegels Schwester als geheilt entlassen. In einem Brief, den sie kurz vor ihrer Entlassung an den Bruder geschrieben hat, machte sie ihm - das wissen wir nur aus seinem Antwortschreiben - massive Vorwürfe über das erlittene Unrecht."
So beginnt die bis dato einzige Biografie einer Frau, die sich am 2. Februar 1832 - im Alter von fast 59 Jahren - in Bad Teinach im Schwarzwald "höchstwahr. in einem Anfall von Schwermuth in den Fluss" stürzte; wenige Wochen nach dem Tod des berühmten Bruders.

Über Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist viel geschrieben worden, unzählige Biografien, Abhandlungen und Werkanalysen sind erhältlich. Über seine Schwester jedoch liest man, wenn überhaupt, dann meist nur in Randnotizen. Ihr Leben lief als große Unbekannte im Schatten des drei Jahre älteren Bruders ab. Von Christiane Hegel gibt es weder ein visuelles Abbild, noch gesicherte Überlieferungen. Lediglich ein einziges handschriftliches Zeugnis sowie einige wenige Briefabschriften sind erhalten.

Nichtsdestotrotz reizte Alexandra Birkert die Geschichte dieser offensichtlich emanzipierten Frau. In "Hegels Schwester. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800" versucht die in Stuttgart lebende promovierte Literaturwissenschaftlerin eine Annäherung an den Lebensweg der Christiane Hegel. Sie stellt sich die Fragen: "Warum wissen wir heute nur noch so wenig von der einzigen Schwester des berühmten Philosophen, deren Schicksal so tragisch endete? Warum landete sie in der württembergischen 'Staatsirrenanstalt', während ihr Bruder in Preußen Karriere machte? Warum ertränkte sie sich?"

Alexandra Birkert versucht das Unmögliche. Sie rekonstruiert Schritt für Schritt die Lebensgeschichte dieser ungewöhnlichen Frau, indem sie sich ihres "Umfelds" bedient. Dabei hat sich die Mühe offensichtlich gelohnt, denn "die Recherchen förderten auch eine ganze Reihe von Ergebnissen zu Tage, die weit über den biografischen Rahmen hinausweisen und ein Licht auf den damaligen Lebensalltag einer Generation werfen, die es wahrlich nicht leicht hatte. Die großen politischen Umbrüche jener Jahre, die sich hinter den Schlagwörtern Französische Revolution, napoleonische Kriege, Säkularisierung und Mediatisierung, Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Neuordnung Europas und Gründung des Königreiches Württemberg verbergen, haben im Leben der Menschen ganz konkrete, sichtbare Spuren hinterlassen."

Und so erhielt die Biografin bei der Spurensicherung an den Lebensstationen Christiane Hegels gleichzeitig ein relativ umfassendes Bild über den Alltag einer Frau in der damaligen Zeit. Der Leser ist nicht nur Teilhaber an der Lebensrekonstruktion von Hegels Schwester, die trotz aller gewonnenen neuesten Erkenntnisse immer noch im Konjunktiv daherkommt und nur eine mögliche Variante darstellt, sondern er erfährt gleichzeitig etwas über die Rolle der Frauen in der frühen Phase südwestdeutscher Revolutionsbegeisterung, über die Erziehung und Bildung junger Mädchen vor zweihundert Jahren, die Lese- und Gesprächszirkel, Tischgesellschaften und Wohngemeinschaften, die Bedeutung der Nachbarschaft, den Tauschhandel mit Hauslehrerstellen, Ämterkauf, Kollegialität und Rivalität im Beruf.
Birkert beleuchtet gleichfalls den Alltag in Württembergs erster staatlicher psychiatrischer Klinik oder aber "das Elend der Koalitionskriege im wechselnden Kampf gegen und mit Napoleon, Herzog Friedrichs skrupellose Okkupationspolitik sowie leere Kassen, Hungersnot und Massenarmut. Und die dunklen Wege der Konspiration und Verfolgung."

Fazit:
Christiane Hegels Leben erschöpfte sich keineswegs nur in der Rolle, die Schwester eines berühmten Philosophen zu sein. Alexandra Birkert ist es in sechsjähriger Recherchearbeit gelungen, aus wenig viel zu machen. Spannend und lesefreundlich stellt sie das Leben dieser Frau auf beeindruckende Art und Weise in einen geschichtlichen Gesamtzusammenhang. Dabei ist wohltuend zu vermerken, dass die Autorin an keiner Stelle des Buches ihr immer noch vorhandenes Unwissen über viele Lebensstationen dieser ungewöhnlichen Frau zu vertuschen versucht, sondern stets klar formuliert, was belegt und was mögliche Annahme ist.

(Heike Geilen; 01/2009)


Alexandra Birkert: "Hegels Schwester. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800"
Jan Thorbecke Verlag, 2008. 352 Seiten.
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