Jewgenij Grischkowez: "Das Hemd"


Ein Mann, ein Tag, ein Kleidungsstück

Als Alexander, genannt Sascha, eines Morgens ein frisches Hemd anzieht - nicht irgendeines, sondern sein Lieblingshemd -, beginnt für ihn ein ganz gewöhnlicher Tag, auch wenn sich einiges recht unverhofft entwickelt.

Sascha fährt zum Flughafen und holt seinen Jugendfreund Max ab, der noch in ihrem gemeinsamen Heimatort irgendwo tief in der Provinz lebt. Begeistert ist Sascha nicht von dem spontanen Besuch, hat er sich doch gerade frisch und leidenschaftlich verliebt und wähnt sich an einem entscheidenden Punkt der aufkeimenden Beziehung.

Nachfolgend begleitet der Leser Ich-Erzähler Sascha durch den Tag. Da tritt etwa ein französischer Freund Saschas auf den Plan, auch er Architekt, der ziemlich naiv in äußerst zwielichtige Kreise abzugleiten droht. Sascha sucht später eine seiner "eigenen" Baustellen auf, wo er erst einmal mit harter Hand Ordnung schaffen muss, was ihm zu seinem eigenen Erstaunen trotz des verrückten Tages umgehend gelingt.

Denn er führt nicht nur sehr beunruhigende Telefonate mit IHR, die in diesem Buch immer nur schattenhaft und indirekt in Großbuchstaben auftritt: SIE; schon früh erkennt er zudem, dass ihn auf Schritt und Tritt ein großer schwarzer Mercedes verfolgt, dessen Fahrer sich später in der Nacht als sehr hilfsbereiter und kooperativer Beschatter erweisen wird. Und immer wieder trifft er im Verlauf des Tages auf Max und trinkt mit ihm, bis die beiden abends, nachdem Sascha von IHR versetzt wurde, endgültig gemeinsam zu einer Sauftour starten, wie es sich für alte Freunde gehört.

Nach fast vierundzwanzig Stunden zieht Sascha das Hemd aus, das gezeichnet ist von diesem Tag, ebenso wie sein Besitzer. Und doch war es im Grunde nur ein Tag wie jeder andere, vielleicht nicht von der Quantität, sicher aber von der Qualität der Ereignisse her betrachtet.

Der mit dem modernen Moskau und seiner neuen Mittelschicht nicht vertraute deutschsprachige Leser mag eine Weile brauchen, um sich in Saschas Welt einzufinden: neureiche Auftraggeber des Architekten, Arbeiter, deren nach ihrer Ansicht berechtigtes Aufbegehren rasch durch herrschaftliches Auftreten wie in alten Zeiten erstickt wird, alle erdenklichen Arten von Taxifahrern und Vehikeln, ein bisschen Mafia.

Doch geht es grundsätzlich moderat zu. Systemkritik, wie andere russische Autoren dieser Generation und der vorhergehenden sie zumeist üben, findet man in diesem Roman überhaupt nicht, weder offen noch versteckt, auch nicht an der liebenswert ausgeführten Stelle, als Sascha und Max spätnachts mit Blick auf den ihnen in vielerlei Hinsicht so fremden Kreml in den Schnee pinkeln - "ohne Pathos oder Protest". Der Titel verspricht eventuell Anklänge an Gogol, der mit einem Mantel ein anderes Kleidungsstück literarisch bedacht hat, doch eine engere Anlehnung an diese mögliche Vorlage sucht man vergeblich, auch wenn Saschas Hemd in Grischkowez' Roman durchaus eine beträchtliche Bedeutung zukommt. Auf dem Buchumschlag sieht man übrigens interessanterweise ein Jackett, das zu verschiedenen Interpretationen anregt.

Der Roman ist von scheinbarer Oberflächlichkeit und wirkt auf den ersten Blick unfertig: Weder erhält die Liebesgeschichte eine wirklich entscheidende Wendung, noch erfährt der Leser Sinn und Zweck der Verfolgung durch den schwarzen Mercedes, und auch das Schicksal von Saschas französischem Architektenfreund, der ins Netz der Mafia zu gleiten droht, wird sich an einem anderen Tag erfüllen; ebenso wenig erfährt der Leser, welche realen Grundlagen Saschas häufige Tagträume möglicherweise haben, und warum SIE ihn versetzt und ihn dennoch zu brauchen, vielleicht zu lieben scheint. Diese "Unfertigkeit" ist jedoch ein durchdachter Schachzug, pflanzt doch in jedem Leben jeder Tag den Samen für neue, unvorhergesehene Entwicklungen, und Sascha wird die Auflösungen der genannten Fragen und Anfänge in einem anderen Hemd an einem anderen Tag erfahren.

Bei flüchtiger Betrachtung wirkt die Beschreibung einer Kette von Sauftouren zweier alter Freunde innerhalb von vierundzwanzig Stunden, unterbrochen von allerlei Rückblenden und diffusen Handlungssträngen um wahrlich "schräge" Charaktere", wohl ein wenig oberflächlich, zumal sich keine echte Entwicklung abzeichnet. Sieht man genauer hin, so entdeckt man eine kluge Betrachtung der Höhen und Tiefen des Lebens anhand einer feinen, von Ironie und etwas Fatalismus geprägten Philosophie und darüber hinaus das charmant skizzierte Porträt eines typischen Neu-Moskauers der russischen Mittelschicht des frühen 21. Jahrhunderts, in dessen Brust die für die meisten Russen unverzichtbaren zwei Seelen wohnen: in diesem Fall die des zielstrebigen, verantwortlichen Architekten sowie jene, die Leidenschaft, Melancholie, Maßlosigkeit und unerfüllbare Sehnsüchte in sich vereint.

(Regina Károlyi; 07/2008)


Jewgenij Grischkowez: "Das Hemd"
(Originaltitel "Rubaschka")
Aus dem Russischen von Beate Rausch.
Ammann Verlag, 2008. 272 Seiten.
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Jewgenij Grischkowez, geboren am 17. Februar 1967 in Kemerowo/ Sibirien, ist ein Kultstar der russischen Theaterszene. Mit seiner Vorstellung "Wie ich einen Hund verspeiste" machte er international Furore. "Das Hemd" ist sein erster Roman. Jewgenij Grischkowez lebt und arbeitet in Kaliningrad.

Weitere Lektüreempfehlungen:

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Und andere Erzählungen. Inhalt: "Eine Mainacht oder die Ertrunkene", "Die schreckliche Rache", "Taras Bulba", "Der Mantel", "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen". (Insel)
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Erzählung. Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler. Mit Zeichnungen von Alfred Kubin.
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