Filip Florian: "Kleine Finger"


Zeit, die gewesen ist und die kommen wird

"Die Logik aller Dinge ist, meiner Ansicht nach, die Suche nach der Freude. Jenseits des Tabakrausches und der Einsamkeit, jenseits des In-sich-Zusammenfallens und der Auferstehung, ist das Schreiben eine enorme Freude." Diese Worte stammen von Filip Florian, dem rumänischen Autor von "Kleine Finger", einem Werk, dem besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, denn es hebt sich von der Masse an jährlichen Neuerscheinungen deutlich ab.

Nun birgt diese Aussage nicht den Grund einer exzeptionellen Hervorhebung seines Romans, denn die Freude am Schreiben verinnerlichen so ziemlich alle Schriftsteller. Was also zeichnet Florians Duktus aus?
Er verwebt keine selbstfiktionalen Eitelkeiten, sondern lässt aus einer "Unzahl an Einzelheiten, Nuancen, Chronologien und Bruchstücken von Biografien" zwei Flüsse ihre Fließrichtung ändern und letztendlich zu einem großen Strom verschmelzen. Und das geschieht so leise und unprätentiös, so ganz ohne erzwungenes künstliches Eingreifen, dass man am Ende beinahe erschrickt, schon am Mündungsarm ins offene Meer zu stehen.

Filip Florian ist offensichtlich auch im wahren Leben ein Mann, der nicht viel Aufhebens um Dinge macht. Zur Verwirklichung seiner literarischen Idee gab er seinen Journalistenberuf, den er fast zehn Jahre lang ausgeübt hatte, auf und zog sich in den Gebirgsort Sinaia zurück. Beinahe fünf Jahre schrieb er an "Kleine Finger", einem Buch, das in das Genre magischer Realismus eingeordnet werden kann.

Ein Massengrab als Rahmengerüst
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: In einem kleinen Karpatenstädtchen werden bei archäologischen Ausgrabungen einer spätrömischen Festung menschliche Gebeine entdeckt. Die herbeigerufenen Wissenschaftler datieren ihr Alter auf mehrere hundert Jahre. Doch für die Bevölkerung, allen voran den örtlichen Polizeichef, handelt es sich eindeutig um die Hinterlassenschaft einer Massenhinrichtung aus der kommunistischen Vergangenheit in den Fünfzigern. "Sie kümmerten sich nicht um die Ansicht der Historiker, die Skrupel des Gerichtsmediziners waren ihnen suspekt, eine Frucht der Feigheit, und dass die Staatsanwälte keine einzige Kugel entdeckt hatten, nahmen sie als Zeichen dafür, dass die Komplizenschaft mit den Schlächtern die Jahrzehnte überdauert hatte. Sie blieben der eigenen Theorie treu, die sich in apodiktischen Kommentaren und Zeitungsartikeln niederschlug." Daher werden fünf argentinische Experten nach Rumänien geholt, die in ihrem Heimatland mit der Suche und Identifizierung der Opfer der Junta um Jorge Rafael Videla, der "los desaparecidos" (Verschwundenen), befasst waren.

Dieses Ereignis dient dem Autor jedoch nur als Skelett. Filip Florian nimmt dem leblosen Knochengerüst seine Starre, indem er es nicht nur mit einer äußeren Hülle überzieht und ihm Leben einhaucht, sondern mit einem mannigfaltigen, facettenreichen Bewusstsein ausstattet und aus seinem Kern Figuren entspringen lässt, die letztendlich eine raffinierte und spitzfindige, sprachlich-literarische Bildercollage ergeben.

Melange aus fiktionaler Erfindungsgabe und geschichtlichen Wahrheiten
Anhand von verschiedenen, zersplitterten Einzelschicksalen flicht der Autor ein großartiges Netz aus Geschichten. Allen voran der zeitweilige Ich-Erzähler Petruş, einer der Archäologen, der auf eigene Faust Nachforschungen in der örtlichen Bibliothek anstellt, sowie seine Tante Paulina, bei der er vorübergehend beherbergt ist und die ihre Zukunft im Kaffeesatz liest. Eines Tages sollte sich diese als wahrhaft golden herausstellen.
Paulina wiederum vermittelt ihm die hellseherischen Fähigkeiten ihrer Nachbarin, Frau Eugenia Embury, der Witwe eines adligen, englischen Erdölingenieurs, und ihrer überaus reizvollen Enkelin Josephina - genannt Jojo.
Der Leser erfährt etwas über die sechzehn einsiedlerischen Jahre des ehemaligen Findelkindes Gherghe und dessen dämonischen Haarwuchs, der mittlerweile zum Mönch Onufrie konvertiert ist, den Fotografen Saşa und dessen Dromedar, Militärstaatsanwalt Oberst Spiru und dessen Vorliebe für kleine Fingerknöchelchen, oder aber den ältesten Mann im Ort, den liebenswerten Dimitru M., einen nach dem Krieg enteigneten früheren Unternehmer.
Letztendlich sind die einzelnen Lebensabläufe in ein großes Ganzes eingewebt, das geschichtliche Umfeld zweier ehemals totalitärer Diktaturen: Rumänien und Argentinien.

Leicht macht es Filip Florian dem Leser jedoch nicht, das Gewirr aus unzähligen Stimmen, Namen und Begebenheiten zu entflechten. Lange Schachtelsätze, von Zeit zu Zeit durch Klammereinschübe ergänzt, erfordern höchste Konzentration. Hinzu kommen ein In- und Auseinanderfließen von Zeitformen, unterschiedliche Erzähler in der ersten und der dritten Person, (zusätzlich erschwerend, wenn letztere auch noch mit zahlreichen Varianten und Identitäten aufwarten), sowie eine Kombination aus fiktionaler Erfindungsgabe, geschichtlichen Wahrheiten und kulturellen Gegebenheiten.

Wenn man sich jedoch auf diese Melange einlässt, schlägt sie mit ungeheurer Intensität über dem Leser zusammen und lässt ihn in einen magisch inspirierten, experimentell-exotischen, literarischen Raum eintreten, der einen tieferen, subtileren Sinn verbirgt und trotz emotionaler Erschütterung auch Humor und liebevoll gezeichnete Personen bietet.

Die sicherlich nicht einfach zu übersetzende Originalfassung wurde von dem in Siebenbürgen geborenen Literaturkritiker Georg Aescht ohne Identitätsverlust großartig ins Deutsche übertragen.

Fazit:
Mit einem klaren, aber auch sehr ausgearbeiteten, jedoch keineswegs langweiligen oder zu technisch wirkenden ästhetischen Stil erschafft Filip Florian einen intensiven, äußerst anspruchsvollen, lebhaften Roman, der mit Hilfe vieler Einzelschicksale zwei Epochen des 20. Jahrhunderts in Europa und Lateinamerika wieder auferstehen lässt.

(Heike Geilen; 08/2008)


Filip Florian: "Kleine Finger"
(Originaltitel "Degete mici")
Aus dem Rumänischen von Georg Aescht.
Suhrkamp Verlag, 2008. 269 Seiten.
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Filip Florian wurde 1968 in Bukarest geboren. Nach dem Studium der Geologie und Geophysik arbeitete er als Journalist für die Zeitschrift "Cuvintul", anschließend für "Radio Freies Europa" und die "Deutsche Welle". Er lebt in Bukarest. Sein vielfach ausgezeichneter Roman "Kleine Finger" wurde in mehrere Sprachen übersetzt.