Simon Ings: "Das Auge"

Meisterstück der Evolution


Einander durchschauen - das kommunizierende Auge

"Tiere kamen zweihundert Millionen Jahre ausgezeichnet ohne Augen zurecht. Sie fraßen Algen, sie hockten auf Steinen, sie pulsierten. Doch dann kamen die Augen - und der Spaß begann", erzählt der Autor. Und - der Spaß geht weiter, nämlich während der Lektüre seines großartigen Buches über das "Meisterstück der Evolution". Simon Ings berichtet über die "Fenster zur Seele" und das rätselhafte Geschehen der visuellen Wahrnehmung.

In Homers Odyssee musste Odysseus Verstand, Geschicklichkeit und Stärke beweisen, um Polyphem, den Zyklopen, zu besiegen. Die Integration dieser einäugigen Riesen in die griechische Mythologie kann nur spekulativ erklärt werden. Hat es in früherer Zeit vielleicht derartige Ungeheuer gegeben? Rühren sie womöglich von Zwergelefanten her, die einst in Griechenland heimisch waren, und wurde der Fund eines solchen fossilen Schädels möglicherweise falsch interpretiert, indem das zentrale riesige Nasalloch irrtümlich für eine Augenhöhle gehalten wurde?
Wahrscheinlicher klingt die Erklärung von Simon Ings, mit der er sein Buch "Das Auge" einleitet. Denn das Leben eines jeden Menschen beginnt ungefähr eine Woche nach der Empfängnis mit einer feuchten, finster blickenden (Zyklopen-)Augenhöhle mitten auf der Stirn, die sich im Laufe der Schwangerschaft wieder schließt. Manchmal aber auch nicht, und so ein entstellter Fötus kam vielleicht zur Welt ...

Missbildungen gibt es zwar immer wieder, doch meistens agieren die interaktiven Baupläne völlig reibungslos. Sie sorgen dafür, dass völlig normale und gesunde Menschen geformt werden. Zwar ist schon etwas mehr als ein Häufchen Staub notwendig, "doch ist der Stoff, aus dem sie tatsächlich entstehen, kaum edler: zäher Schleim. Wie sich aus diesem armseligen Material Schönheit entwickeln kann - gar nicht zu reden von der Fähigkeit, die Welt außerhalb unserer selbst zu begreifen und uns ihr mitzuteilen -, ist noch immer so rätselhaft, dass es sich nicht durch eine einzelne Theorie vollständig erklären lässt", stellt Simon Ings, Jahrgang 1965, fest.

Literarische Promenadenmischung aus Geschichte, Wissenschaft und Anekdoten
Eines der faszinierendsten Körperteile hat sich der in London lebende Autor, der nach einigen Romanen, Kurzgeschichten und Drehbüchern hiermit sein erstes Sachbuch vorlegt, angenommen. Und das tut er ungemein spannend, interessant und vor allem ebenso locker wie unterhaltsam. Keine Erläuterung von ermüdenden und für den Laien schwer verständlichen evolutionären Abhandlungen, von den ersten biochemischen Anfängen bis zu den heutigen Formen, keine Begriffsbombardements aus der organischen Chemie und Spitzfindigkeiten evolutionärer Interpretation langweilen den Leser, sondern Ings erläutert in ungemein munterer und erfrischender Art und Weise.

Ings Abhandlung ist ein Spiegelbild seiner "eigenen Reise durch die Literatur des Auges - eine Erzählung voll von Staunen, Verwirrung und jähen Einsichten". "Das Auge" ist kein Lehrbuch und auch keine Wissenschaftsgeschichte. Auch wird nicht nur das menschliche "Sehorgan" seinen Betrachtungen unterworfen, sondern Ings hat eine "literarische Promenadenmischung" aus Geschichte, Wissenschaft und Anekdoten geschaffen, die jedoch keineswegs unstrukturiert daherkommt.

Nachdem der Autor im ersten Kapitel - betitelt "Die Gemeinschaft der Sinne" - den Rahmen relativ "oberflächlich" absteckt, zeichnet er in den Kapiteln zwei bis fünf die Evolution dieser Gemeinschaft der Sinne anekdotisch - aus der Sicht der Männer und Frauen, die die lange Geschichte des Auges entdeckten - nach. Er beschreibt, wie verschiedene Augen auf ihre unterschiedliche Weise für das Überleben verschiedener Tiere sorgten. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit den Eigenarten des menschlichen Auges. Ings betrachtet verschiedene Sehtheorien und beleuchtet, wie die heikle Partnerschaft von Theorie und Forschungsergebnissen eines der schwierigsten Probleme des Sehens anging: die Erklärung der Netzhaut. Der Autor nimmt den Leser auf den Parcours der Exploration des Farbensehens mit und blickt ganz am Ende in die Zukunft der Augenforschung.

Das dritte Auge des Menschen
Man erfährt zum Beispiel, dass Blinde auch "mit dem Rücken sehen" können, warum ein Falke ständig Pfadfinder spielt und visuelle Schnitzeljagden veranstaltet und der Mensch und die Fruchtfliege eigentlich verwandt sind. Man wird über die permanente Hyperaktivität unseres Sehorgans aufgeklärt, dessen erste Exemplare sich bereits vor 538 Millionen Jahren entwickelten, dessen Bauteile jedoch noch wesentlich älter sind, und wohnt einer visuellen Orchestrierung von Stäbchen und Zapfen bei.
Wussten Sie, dass jeder Mensch gar ein drittes Auge besitzt, das so genannte Pinealorgan (da wäre er wieder, der Bogen zum Zyklopen), oder warum blaues Licht im menschlichen Auge immer unscharf ist? Betrachten Sie einmal ein farbenfrohes Gemälde, und Sie werden bemerken, dass die Blau- und Grüntöne zurückzuweichen scheinen, während einen die Gelb- und Rottöne geradezu anspringen.
Apropos Farben: Bilden Sie sich nur nicht zu viel auf dieses Glanzlicht der Evolution ein. Simon Ings räumt auch hier auf: "Das menschliche Farbensehen ist nicht die einzigartige, makellose Sinnesleistung, die es zu sein scheint, sondern der Schutt, den unzählige genetische Unfälle hinterlassen haben."

Herausgekommen ist ein faszinierendes Sachbuch für denjenigen, der einem Wunder unserer Natur auf die Schliche kommen und etwas über die Leute erfahren möchte, die uns diesen Schritt leichter gemacht bzw. ihn erst ermöglicht haben.
Vielfältige, teils verblüffende kleine Experimente und Abbildungen lockern den Text zusätzlich auf.

Am Ende bleibt die uneingeschränkt mit dem Autor geteilte Meinung, dass Mensch zu sein eine Fertigkeit ist, die wir einander gegenseitig und vor allem durch unsere Augen beibringen.

Fazit:
"Unsere Augen befragen die Welt, und durch unsere Augen gibt sich die Welt zu erkennen. (...) In dem Tauziehen zwischen Selbst und Welt sind [sie] das rote Band in der Mitte des Taus", so Simon Ings, doch "das Auge ist kein isoliertes Wunder sondern bildet einfach eine besondere - zweifellos spektakuläre - Spezies in der Kategorie lichtempfindlicher Organe."

(Heike Geilen; 07/2008)


Simon Ings: "Das Auge. Meisterstück der Evolution"
(Originaltitel "Eye: A Natural History")
Übersetzt von Hainer Kober.
Hoffmann und Campe, 2008. 398 Seiten.
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Weitere Buchtipps:

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