David Albahari: "Die Ohrfeige"


Ein undurchschaubares Spiel
Wie eine Ohrfeige manchmal ein ganzes Leben verändern kann


"Über einige Dinge lohnt es sich nicht nachzudenken, oder man sollte nie aufhören, über sie nachzudenken." So sinniert der namenlose Ich-Erzähler in David Albaharis fabelhaftem Roman "Die Ohrfeige". Und dieser Satz durchzieht latent metaphorisch alle Seiten dieses sehr tiefgründigen Buches.

Eigentlich "war nichts Außergewöhnliches vorgekommen: eine Ohrfeige, ein nasser Strumpf, die Stille, die Verfolgungsjagd. Gemessen am Zustand der Welt waren das Bagatellen", überlegt Albaharis Protagonist, ein eigenbrötlerischer Journalist, der, abgesehen von gelegentlichen Übersetzungen, kleine Essays und Kommentare für eine Wochenzeitung schreibt.
Mit seinem Freund Marko trifft er sich regelmäßig, um zu kiffen und dabei über Gott und die Welt im Allgemeinen und die politische Situation des zerfallenen ehemaligen jugoslawischen Staates im Besonderen zu philosophieren. "Was ist das für eine Welt, in der so viele Menschen verloren gehen? Und wenn sie alle verloren sind, wer garantiert mir, dass nicht auch ich schon längst verloren bin?" Er grübelt über die Wirklichkeit, die Erinnerung, den Krieg, den politischen Terror und den Hass: "mein Zuhause [war] eine verdrehte Welt".

Eine Beobachtung des jungen Serben am Ufer der Donau soll sein Leben von Grund auf verändern. An einem Sonntag im März 1998 wird er Zeuge einer Szene, die ihn sechs Jahre später, immer noch tief traumatisiert, veranlasst, diese Geschichte zu Papier zu bringen. Was war passiert?

Ein Mann gibt einer jungen Frau urplötzlich, ohne jede Ankündigung, eine Ohrfeige. Die komplette Situation erschien ihm damals äußerst suspekt, ja geradezu grotesk. "Die Wucht der Ohrfeige, die Handbewegung, das Verhalten des Mädchens danach, die Art, wie sie taumelnd ins Wasser trat, nichts passte zueinander; es schien, als wäre etwas anderes abgemacht gewesen ... ". Er verfolgt die Frau, verliert sie jedoch aus den Augen. Doch plötzlich scheint Belgrad voller geheimnisvoller Zeichen zu sein, deren Zusammenhang er herauszufinden versucht. Stehen sie gar mit diesem ominösen Erlebnis am Donauufer in Zusammenhang?


Heute, sechs Jahre danach, weiß ich, dass alles sich anders hätte abspielen können, aber damals, am Sonntag, dem 8. März 1998, als der Reigen der Ereignisse, über die ich schreiben will, begann, war ein anderer Ablauf überhaupt nicht vorstellbar. Es mag sein, dass ich auch gar nicht erst versucht hatte, mir etwas anderes vorzustellen, weil ich überzeugt war, vor keiner Wahl zu stehen, sondern mit einer Unausweichlichkeit konfrontiert zu sein, auf die ich keinerlei Einfluss hatte. Doch das ist jetzt nicht mehr wichtig, denn was sich einmal abgespielt hat, egal ob gewollt oder nicht, wird zum Schicksal, das nicht mehr zu ändern ist. Ein Apfel, rot und fest, fällt vom Baum, man sieht ihn kaum im dichten Gras, aber die Ameisen, Schnecken und Wespen finden den Weg, am Ende bleibt vom Apfel nichts übrig, und auch das Gras richtet sich mit der Zeit wieder auf. Ich erwähne den Apfel vermutlich deshalb, weil ich damals, an dem Sonntag vor sechs Jahren, meine Wohnung mit einem Apfel in der Hand verließ, allerdings nicht mit einem roten, sondern mit einem gelblichen, den ich später ganz aufaß, samt Kernen und Stiel. Nein, den Stiel habe ich nicht aufgegessen, den behielt ich eine Zeitlang zwischen den Zähnen, kaute auf ihm, bis er zerfaserte. Sonntags ging ich immer an der Donau spazieren, egal bei welchem Wetter, sogar wenn es stürmte und regnete. Nicht einmal Schnee konnte mich davon abhalten. Am besagten Tag schneite es freilich nicht und es blies auch kein starker Wind; die Wolken türmten sich am Himmel, die Sonne zeigte sich gelegentlich; es war alles in allem ein ganz gewöhnlicher, obschon kühler Märztag.
(Aus dem Roman)

Ominöse Zeichen, ein geheimnisvolles Manuskript
Albahari strickt aus diesem Augenblick einen grandiosen Roman, voller tiefgründiger Selbstreflexionen, mystischer Verwicklungen und philosophischer Zwiegespräche, in einer Kulisse, die geradezu prädestiniert ist für derartige Verquickungen: Serbien in den Jahren 1998 und 1999.
Doch was hat es mit dem geheimnisvollen Manuskript auf sich, das der junge Mann erhält und welches ein Eigenleben zu entwickeln scheint, ständig seinen Text verändert, aber trotzdem immer wieder zu einer homogenen Einheit wird? Es enthält zum einen die Geschichte der jüdischen Gemeinde Belgrads, zum anderen ein Bündel kabbalistischer Texte und mystischer Lehren von Gut und Böse. Dieses Manuskript scheint wiederum mit anderen Dingen in seinem Leben im Zusammenhang zu stehen. Wurde er - ein Nichtjude - gar als Retter der Juden auserkoren?
Alle Begebenheiten erweisen sich nach und nach als Teil eines großen, klebrigen Netzes, in das der junge Journalist offensichtlich bewusst eingebunden wird; in dessen Verstrickungen er sich jedoch zusehends verirrt und nicht mehr befreien kann.
Dieses Netz symbolisiert den zunehmenden Nationalismus in seiner Heimat und ganz konkret die eskalierende Situation der Juden; Gräber werden geschändet, Ausstellungen jüdischer Künstler zerstört: ein beängstigender Antisemitismus, der sich während des Balkankriegs in Belgrad tatsächlich entwickelte.

Zwiestreit zwischen Chaos und Ordnung
David Albaharis anspruchsvoller Roman erzeugt einen magischen Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann. Er taucht ein in einen Text voller Bilder und Klänge, der fast losgelöst von der Sprache zu sein scheint, und wird von seiner Mystik und seinen mannigfaltigen Andeutungen geradezu gefangengenommen.
Beinahe mühelos wechselt der Autor zwischen realer und imaginärer, irrationaler Ebene, erzeugt "gespiegelte Spiegelungen im Wechselspiel von Licht und Dunkel".
Er fordert den Leser heraus, die Gedanken von innen heraus zu beobachten. Analytisches Denken und Logik sind beim Lesen hier fehl am Platz. Chaos und Ordnung stehen ständig im Zwiestreit. Dieses Buch beginnt nicht wie andere Bücher mit Fragen, die am Ende beantwortet werden, sondern hier häufen sich die Fragen gegen Ende, und die Antworten sind überall verstreut.

"Die Ohrfeige" ist keine geordnete Erzählung, in der die Stränge harmonisch angelegt sind, sondern "eher ein Abbild des Lebens, das immer chaotisch ist, da sich in ihm immer viel zu viele Dinge auf einmal ereignen", meint sein Erzähler.

Albahari versteht es großartig, zu täuschen, auf eine Fährte zu locken, die sich an der nächsten Ecke wieder zu verlieren scheint oder in eine andere Richtung führt. Im selben Augenblick tauchen andere Nebenstränge auf, die scheinbar losgelöst nebeneinander herlaufen, im Endeffekt aber doch zu einem gemeinsamen Strang verflochten werden, der das eigentliche Zentrum umkreist und erst auf den letzten Seiten einen kulminierenden Höhepunkt erfährt.

Ein ausgesprochenes Leseerlebnis
Durchaus hilfreich ist es, sich die politische Situation der damaligen Zeit zu vergegenwärtigen. Das "Land war dabei auseinanderzufallen, Bombendrohungen hingen in der Luft wie überreifes Obst, Menschen zerbrachen, als wären sie aus Legosteinen zusammengesetzt, der Irrsinn war nahe daran, zum Normalzustand erklärt zu werden (...) Nie war die Wirklichkeit so weit von der Wirklichkeit entfernt wie in jenen Jahren in Belgrad, und noch nie hatte man so sehr darauf gepocht, dass dies die einzige Wirklichkeit sei", stellt der Protagonist fest.
Dem Autor ist es gelungen, das Wesen der Welt und des Lebens auf das Trefflichste zu beschreiben. "Beim Schreiben stehen unserer Fantasie alle Wege offen, die Wirklichkeit jedoch gewährt uns nur wenige Möglichkeiten und manchmal nicht einmal die", so der Autor.
Sein Roman ist ein Abstrakt seiner ganz persönlichen politischen Verzweiflung, eine Geschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse.
Und so lässt der ehemalige Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens den verstörten Helden am Ende erkennen, dass "nicht [wir] Angst vor anderen [haben], sondern vor uns selbst oder genauer gesagt, wir fürchten die Veränderung, zu denen uns die Anwesenheit anderer verleiten könnte. (...) Um andere zu hassen, müssen wir zuerst uns selbst hassen wegen unserer Unzulänglichkeit oder Schwäche, derer Ursache wir nicht bei uns, sondern bei jemand anderem suchen, und zwar nicht bei irgendjemandem, sondern bei dem, der wegen seines Andersseins auffällt und - was noch wichtiger ist - zu schwach ist, um sich zu verstecken oder sich zu wehren."

Fazit:
"Die Ohrfeige" ist kein fröhliches, aber ein beklemmend eindringliches Buch. Es ist ein Ausflug in die Schattenwelt der Mystik, als Flucht vor dem, was die Welt und deren Wirklichkeit war/ist.
Nicht zuletzt dank der großartigen Übersetzung aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann ist dieser bewundernswerte Roman ein ausgesprochen tiefgründiges, überwältigendes und fantastisches Leseerlebnis.
Eine unbedingte Leseempfehlung für all diejenigen, die anspruchsvolle Literatur mögen.

(Heike Geilen; 01/2008)


David Albahari: "Die Ohrfeige"
(Originaltitel "Pijavice")
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.
Gebundene Ausgabe:
Eichborn, 2007. 367 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2010. 367 Seiten.
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David Albahari, geboren am 15. März 1948 in Peć im ehemaligen Jugoslawien, studierte englische Literatur und Sprache an der Universität von Belgrad. Er lebt seit 1994 in Calgary, Kanada und arbeitet als Schriftsteller und Übersetzer.
David Albahari starb am 30. Juli 2023.

Weitere Bücher des Autors:

"Der Bruder"

Wer ist der Verfasser des geheimnisvollen Briefs, durch den schlagartig alles aus den Fugen gerät? Das fragt sich Filip, der allein in einer zugestellten Wohnung lebt und sich in seinen Memoiren einen Verlierer nennt. Ist der Absender ein Betrüger oder wirklich der in Argentinien verschollene Bruder, von dem Filip bisher nichts ahnte? Ein Treffen im "Brioni" soll dieses Rätsel lösen. Doch Filips einstige Stammkneipe ist ebenso wie bald sein ganzes Leben nicht mehr wiederzuerkennen. Früher, nach dem Tod der Eltern und der Schwester, betrank er sich hier an unzähligen Abenden unter ruppigen Kellnern und wortkargen Kumpanen. Daran ist in dem so ganz anderen Ambiente nicht mehr zu denken, erst recht nicht, als der vermeintliche Bruder auftaucht.
Der Balkan hat sich verändert und ist doch erschreckend gleich geblieben wie der große serbische Romancier David Albahari mit diesem fantastischen Aufeinandertreffen klarmacht. Eine schmerzhafte Parabel, eine fulminante literarische Identitätssuche voller schwarzem Humor. (Schöffling & Co.)
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"Mutterland"

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Durch die virtuose Verflechtung von Erinnerungsebenen gelingt es David Albahari, der Persönlichkeit einer ungewöhnlichen Frau und der Geschichtslosigkeit seines Exils eine eigene Stimme zu geben. Dramatik und Drama eines fast sprachlos machenden Schicksals werden immer wieder gebrochen und verleihen dem Roman trotz aller Intensität eine bewundernswerte Leichtigkeit.
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In der Besessenheit und Verzweiflung des namenlosen Erzählers spiegelt David Albahari mit subtiler Meisterschaft die höhere Wahrheit des Erzählens: Nicht in der Objektivität des Faktischen wird das Grauen des Holocaust begreiflich, sondern in der Macht und Ohnmacht der subjektiven Erinnerung.
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