Leseprobe aus "Das Glück der Weite. Fünf Jahre in den Wüsten der Welt"
von Achill Moser


Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich zum ersten Mal in die Wüste kam. Mehr als fünfunddreißig Jahre ist es her, dass sich mein Leben auf den Kopf stellte. Ich war siebzehn Jahre alt, ging noch zur Schule und nutzte die sechswöchigen Sommerferien, um im Zug von Hamburg über Paris und Barcelona nach Nordafrika zu reisen. Im marokkanischen Königreich kutschierte ich im Überlandbus durch das traumschöne Märchenland, sah Bilder wie aus "Tausendundeiner Nacht" und ließ mich vom Rausch der Düfte und Farben gefangen nehmen: Safrangelb wechselte mit Lehmbraun, Malve mit Ocker, Purpur mit Indigoblau, während die Luft von unglaublichen Gewürzaromen geschwängert war: Jasmin, Anis, Ingwer, Zimt, Kardamom, Eukalyptus, Koriander, Kreuzkümmel und Honig. Diese wunderbaren Düfte begeisterten mich ebenso wie Marokkos Landschaften: die ins Meer abfallende Atlantikküste, die feinsandigen Strände, die üppigen Gemüseplantagen, die wogenden Getreidefelder, die kristallenen Salzseen, die zerklüfteten Gebirgszüge, die wildromantischen Bergdörfer und die immergrünen Oasentäler. Und dann waren da noch die bunten Basare, wo sich mir die geheimnisvolle Welt des Orients offenbarte. Ich sah Geschichtenerzähler und Schlangenbeschwörer, Affenbändiger und Akrobaten, Färber und Schneider, Wasserverkäufer und Wunderdoktoren, Töpfer und Goldschmiede, Gerber und Tänzer, schöne Frauen in malerischen Gewändern und weißbärtige Männer, die plaudernd an schattigen Straßenecken hockten - und ich hörte erstmals die Rufe des Muezzin und genoss das obligatorische Glas Minzetee.
Schließlich kam ich über die Städte Fes, Rabat, Casablanca und Marrakesch in den Süden des Landes, wo sich ein halber Erdteil voller Sand und Gestein vor mir ausbreitete. Niemals werde ich jenen Augenblick vergessen, als ich zum ersten Mal unter einem tiefblauen Himmel eine gelbbraune Fläche mit Wanderdünen sah. Es war wie eine Offenbarung: Sand, so weit das Auge reichte, ein goldgelber Ozean, der vom stetigen Wind zu einer überwältigenden Landschaft modelliert worden war, wie selbst die kühnste Phantasie sie kaum hätte erfinden können. Da türmten sich mächtige Sandberge von unglaublicher Schönheit, wechselten sich Kuppen und Klippen mit elliptischen Halbmondkurven ab. Der Wind zeichnete filigrane Muster und bizarre Sandlinien, abstrakte Reliefs flossen durch weiche Mulden, Wogen in vielen Größen und Formen brandeten bis zum Horizont hinauf, Windfahnen trieben über flachwelligem Boden, messerscharfe Dünenkämme ragten rauchend aus dem sanften Gewelle hervor. Die Farben der Sandwogen changierten, je nachdem, ob man mit der Sonne oder gegen die Sonne schaute. Es war, als wäre meine Umgebung mehr einem Traum als der Wirklichkeit entsprungen. Doch es war kein Traum. Alles war echt: der Sand, das Dünenmeer, die Weite, der blaue Himmel.
In jenem Augenblick traf mich das Glücksgefühl mit der Kraft eines Donnerschlags. Ich war ganz außer mir und spürte eine Erregung, die meinen ganzen Körper erfasste. Das Gefühl wuchs nicht langsam heran, sondern brach wie eine Naturkatastrophe über mich herein. Nun bin ich ohnehin kein Mensch bedächtig wachsender Empfindungen. Ich weiß um meine schnelle Begeisterungsfähigkeit und versuche mich daher zumeist ein bisschen selbst im Zaum zu halten. Doch bei diesem Ausblick war das nicht möglich. Zu phantastisch war das Sandmeer, zu verlockend und verführerisch die Weite - groß, unerschlossen, unbewohnt, menschenleer und zeitlos. Es war, als würde ich von einem Augenblick auf den anderen Verstand und Herz verlieren. Es war ein Gefühl des Überschwangs, wie beim Erkennen einer großen Liebe.
Außer mir vor Glück warf ich meinen Rucksack auf den Kamm einer hohen Düne und schrie; schrie irgendwas Verrücktes heraus und lief einfach los. Wie ein ungestümes Kind rannte ich durch den Sand, ich stapfte, rutschte und stolperte, rollte die eine Düne hinab, um die nächste wieder hinaufzukeuchen, so lange, bis ich schließlich vollkommen atemlos zu Boden fiel.
Eine ganze Weile lag ich auf dem Bauch und verharrte im warmen Sand, der gegen meine Rippen drückte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dalag, bis sich meine Nerven wieder beruhigt hatten und ich mich aufsetzte und in die unermessliche Weite hinausschaute. Was für ein Ausblick! Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Diese Dünen, dieses Gewoge, dieser Sandteppich von Horizont zu Horizont!
Ich nahm mir damals fest vor, nie zu vergessen, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte. Mein Kopf war klar, und alles erschien mir hell und weit. Es war ein Gefühl, für das man alles wegwirft, alles stehen und liegen lässt, ein anderer Mensch wird - und noch mal von vorn beginnt. In diesen Momenten erinnerte ich mich an meine Kindheit, und Bilder aus den fünfziger Jahren stiegen in mir auf: Grömitz an der Ostsee, bevorzugtes Feriendomizil meiner Eltern neben der italienischen Riviera, der Adria und dem Wanderidyll Österreich. Die Ostsee war damals "in" bei den Hamburger Flachländern, und so verbrachte ich in jenen fernen Tagen viel Zeit zwischen Strandkörben und Sandburgen. Einen breitkrempigen weißen Sonnenhut auf dem Kopf und bewaffnet mit Plastikschaufel, Eimer und farbenfrohen Backformen buddelte ich - meist am Wochenende oder zur Urlaubszeit meiner Eltern - im weißen Sand, der mir dann oft in Nase, Mund, Ohren und Augen klebte.
So war es auch in Marokko, fast fünfzehn Jahre später, auf einem Dünenkamm der Sahara: Überall spürte ich Sand - in Augen, Nase, Mund und Ohren. Immer wieder wischte ich ihn mir mit einem feuchten Tuch aus dem Gesicht, als ich plötzlich einige schwarze Punkte entdeckte, die sich in der Ferne bewegten. Es war eine Gruppe von Menschen mit Dromedaren, eine kleine Karawane, die sich durch das Dünenmeer bewegte und feine Sandfahnen aufwirbelte. Angespannt lauschte ich in den Raum, hörte aber keinen Laut. Der Sand schluckte das Geräusch der Füße und Hufe, die im gleichförmigen Rhythmus voranschritten. Was waren das für Menschen? Woher kamen sie? Wohin wollten sie? Was transportierten sie in ihren großen Satteltaschen? Wovon lebten sie? Hatten solche Menschen nicht eine vollkommen andere Lebensweise als ich? Mussten solche "Wüstenmenschen" nicht einer völlig anderen Philosophie anhängen, und war ihr Leben womöglich allein auf Selbsterhaltung und das bloße Überleben ausgerichtet?
Aus jeder dieser Fragen ging hervor, wie wenig ich damals über das Leben in der Wüste wusste. Die Antworten darauf lagen in jener Weite aus Sand und Stein, die so anziehend auf mich wirkte und ganz anders war als die Welt, in der ich aufwuchs - in der Großstadt Hamburg mit überfüllten Bürgersteigen und hetzenden Menschen, mit schrillem Lärm und gläsernen Einkaufszentren. Plötzlich wollte ich nichts anderes, als einfach geradeaus zu gehen, hinein in die größte Wüste der Welt, die Sahara, die von arabischen Karawanenführern seit undenklichen Zeiten "Bahr bela ma" genannt wird - "Meer ohne Wasser".
Schon am nächsten Morgen zog ich für einige Tage in die Weite, die sich vor meinen Augen ausdehnte und bereit war, mich in ihre Grenzenlosigkeit aufzunehmen. Auf den Schultern trug ich nur einen kleinen Rucksack mit dem Lebensnotwendigsten: Zelt, Schlafsack, Kompass, Landkarte, Lebensmittel, Trinkwasser. Ich hatte fünf Tage Zeit, und als ich Schritt für Schritt hinaus ins Ungewisse wanderte, war ich neugierig auf alles, was vor mir lag. Hier, fern aller zivilisatorischen Schnelllebigkeit, wo man nichts haben muss, um etwas zu sein, schweiften meine Gedanken beim stetigen Gehen über Sand und Stein unbehindert umher, verloren sich in einer Landschaft voller Schöpfungslust, die mir das Gefühl vermittelte, ganz klein, aber dennoch ein Teil der Natur zu sein. Angesichts dieser ungeheuerlichen Weite kam ich mir zuweilen vor wie eine Schnecke, die mit ihrem Haus auf dem Rücken über ein ewiges Nichts kriecht. In solchen Augenblicken kam mir eine Textstelle aus Günter Grass' "Tagebuch einer Schnecke" in den Sinn: Ich bin die zivile, die menschgewordene Schnecke. Mit meinem Drang nach vorne, nach innen, mit meinem Hang zum Wohnen, Zögern und Haften, mit meiner Unruhe und Voreile im Gefühl bin ich schneckenhaft.
Es heißt, wer die Wüste einmal betreten hat, kommt nie mehr von ihr los; denn hier, inmitten einzigartiger Urlandschaften, verliert sich die Bedeutung von Raum und Zeit. Hier reduziert sich das Leben auf das Wesentliche. Und hier, in absoluter Stille und Einsamkeit, wird der Mensch dorthin zurückgeworfen, wohin er gehört - zu sich selbst. Mit solchen für mich völlig neuartigen Erfahrungen, mit denen ich als junger Mensch unversehens konfrontiert worden war, kam ich zurück nach Deutschland, wo mir der Schulalltag fortan größte Schwierigkeiten bereitete. Manchmal konnte ich dem Unterricht kaum folgen. Zu sehr hatte die Wüste meine Phantasie beflügelt. Und zu sehr träumte ich von großen Reisen durch ferne Länder. (...)


Achill Moser: "Das Glück der Weite. Fünf Jahre in den Wüsten der Welt"
Hoffmann und Campe, 2009. 336 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Achill Moser erzählt von den Höhepunkten seiner Reisen und nimmt den Leser mit auf seine Wanderungen durch die geheimnisvollsten Einöden der Erde. Atemberaubende Fotos geben auch einen bildlichen Eindruck davon.
Bereits als Siebzehnjähriger reist Achill Moser in die Wüste, die ihn begeistert, sein Leben verändert und die er intuitiv als "Heimat meiner Seele" erlebt. Mehr als dreißig Jahre lebt er als Pendler zwischen zwei Welten. Einmal wandert er monatelang durch die Weiten in Afrika, Asien, Amerika, Australien und Europa, dann genießt er wieder das Leben als Familienvater in Hamburg. Ihm geht es nicht nur um das Abenteuer, sondern er ist ebenso stets auf der Suche nach sich selbst. Somit ist jeder Weg in die Wüste für ihn auch eine spirituelle Reise sowie ein gewagter Gang in die eigene Seelenlandschaft - denn erst in uns selbst zeigt die Wüste, was sie ist.