Die Kindheit in Lissabon (1888-1895)

Im Geburtsjahr Fernando Pessoas, 1888, war Lissabon weder eine kosmopolitische Weltstadt noch ein provinzieller Seehafen. Die Stadt war eine Persönlichkeit, geprägt von Tradition und Fortschritt. Unter den künftigen Kabinetten von König Luis I., der damals noch glücklich regierte, sollte die portugiesische Hauptstadt pulsierend wachsen und gleichzeitig versuchen, die internationale Bedeutung zurückzuerlangen, die sie während ihrer blühendsten Perioden innegehabt hatte. In den siebenundzwanzig Jahren, während deren dieser König 1888 schon regiert hatte, war das gesellschaftliche Leben, vor allem zugunsten der Mittelschicht und der Geschäftsleute, liberaler geworden. Und seit dem ersten Spatenstich zur Eisenbahnlinie Lissabon-Santarem im Jahre 1856 wurden viele städtebauliche Verbesserungen eingeleitet. Acht Jahre später lief der erste Zug im entfernten Porto ein. 1866 wurde der Regierungspalast eingeweiht, 1879 die Avenida da Liberdade, mit ihren breiten Fahrwegen und Gärten auch heute noch eine der schönsten Verkehrsadern Lissabons, 1885 öffneten sich für die Spaziergänger am Ende dieser Chaussee das erste Mal die Tore jenes Parks, der später nach Eduardo VII. benannt werden sollte.

1888 fand der erste Stierkampf auf der Praca do Campo Pequeno statt, einem monumentalen, mit Zwiebeltürmen umkränzten und mit arabischen Bögen verzierten Bau neoarabischen Stils. Die alten Stadtviertel Estrela, Os Anjos, Campo de Ourique und Lapa wuchsen rasch; dort wie überall traf man bald auf prächtige Bürgerhäuser. Für Arbeiter wurden Wohnungen von eher schlichtem Geschmack errichtet, deren bauliche und santiäre Bedingungen allerdings dem Standard der Zeit entsprachen. Lissabon hatte kaum mehr als 200000 Einwohner, eine Zahl, die sich dank der wirtschaftlichen Entwicklung aber schnell verdoppelte und die den Hafen wieder zu einem der meist angelaufenen Europas machte, mit all dem Kommen und Gehen aus den unterschiedlichsten Ländern und der Einfuhr von exotischen Waren und modernen Industrieprodukten. Die Bindungen zwischen dem äußersten Westen der iberischen Halbinsel und dem Rest der Welt wurden enger.

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Fernando António Nogueira Pessoa wurde in jenem Lissabon am 13. Juni um 3 Uhr 20 nachmittags im vierten Stock des Hauses Nr. 4 an der schon erwähnten Praca Sao Carlos geboren. Zu dieser Stunde hatte für gewöhnlich der Strom der Gläubigen, die in der kleinen, am westlichen Hang des Schloßhügels gelegenen Igreja do Santo Andacht hielten, um einiges abgenommen, und die Manjerico-Händer, wie die Portugiesen eine Sorte kleinblättrigen Basilikums nennen, frischten derweil ihren Vorrat an Sträußen und Töpfen auf und dachten an die Straßenfeste, die bei Dämmerung beginnen und bis tief in die Nacht andauern würden, denn der 13. Juni ist der Tag des Sao Antonio von Lissabon, der außerhalb von Portugal unter dem Namen Antonius von Padua bekannt ist. Später wird Pessoa in einem Fragment über die sebastianische Dichtung Bandarras - so indirekt wie deutlich - versuchen, eine Aura zu schaffen, gemäß der man seine künftige Geburt und folglich seine plurale Persönlichkeit bereits damals hätte erahnen können: »Im dritten Corpus seiner Prophezeiungen kündigt Bandarra die Rückkehr von Dom Sebastiao für die Jahre zwischen 1878 und 1888 an. Nun, im letztmöglichen Jahr erlebte Portugal das bedeutsamste Ereignis seiner nationalen Geschichte seit den Entdeckungen; aber, und nach der Natur des Ereignisses, ereignete es sich unbemerkt, ja es konnte gar nicht anders sein.« 1888 geschah in Portugal nicht, was auf eine Rückkehr von Dom Sebastiao I. schließen ließ, der 1578 nach der Schlacht von Alcacer-Quibir verschollen blieb und dessen Rückkehr die sebastianistischen Portugiesen seither erwarten, wobei im übrigen nicht alle seine zukünftige Rückkehr wortwörtlich nehmen. Es bleibt uns daher kein anderer Ausweg als die Schlußfolgerung, das zitierte Ereignis sei die Geburt unseres Autors, eine Vermutung, die im Verlauf deses Buches zu rechtfertigen sein wird; in direktem Anschluß hierzu schreibt Pessoa: »Nur nach Ablauf dieses Jahres (nach Erreichen der 40, sagt Bandarra) beginnt man die Wichtigkeit und überhaupt seine Beschaffenheit, das, was es ist, zu verstehen. Aber (um eine rein persönliche Meinung zu äußern) ich glaube nicht, daß noch vor Ablauf von ungefähr zehn Jahren, von jetzt an gerechnet, das portugiesische Volk überhaupt erfährt, um was es geht und welche Bedeutung diese Angelegenheit hat. Dann (und erst dann) wird man sehen, daß die Prophezeiung Badarras richtig war.«


aus "Fernando Pessoa" von Angel Crespo
Das vervielfältigte Leben. Eine Biographie.
Aus dem Spanischen von Frank Henseleit
Das Leben Fernando Pessoas hat immer wieder zu Spekulationen Anlaß gegeben. Angel Crespo hat sich nicht nur mit der dichterischen Hinterlassenschaft Pessoas beschäftigt, er hat eine der umfangreichsten Dokumentationen zum Leben des großen Portugiesen angelegt und Zeitgenossen befragt; und aus beiden Quellen schöpft er seine kenntnisreiche und unbestechliche Sicht. Da verklärt nichts Romantisches mehr den eigenwilligen Lebensweg des Dichters und auch nicht Vorurteile oder Schamhaftigkeit verschweigen Pessoas Hinwendung zur Esoterik, zum Nationalismus; seine vermutete Homosexualität ist ebenso Thema wie seine Abwendung von der bürgerlichen Liebe, seine Geselligkeit und gleichzeitige Einsamkeit und sein Trinken. Sein alltägliches Leben wird in größtmöglicher Annäherung sichtbar. (Ammann)
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