Damaskus, die verbotene Stadt
oder Die Gassen der Sehnsucht

Im Exil verwandeln sich die Städte der Kindheit in Idyllen, ihr Staub in Perlen, und die düstersten Gassen werden von goldenem Licht durchflutet.

Was tun also, um der Verklärung der Ferne zu entrinnen und ein realistisches Bild der Stadt im Gedächtnis zu behalten? Ein anerkanntes Rezept empfiehlt: täglich Berichte über die Stadt zu lesen, wöchentlich Briefe zu schreiben, wenigstens einmal monatlich Oppositionelle zu treffen und einmal vierteljährlich das Bild der Stadt gründlich zurechtzurücken. Hier ist das Resultat nach zwanzig Jahren präziser Anwendung: Es gibt auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort als die Altstadt von Damaskus.

Wenn man von Damaskus erzählt, muss man Acht geben, sich nicht in tausendundeine Episode zu verlieren, denn Damaskus ist ein Meer der Geschichten. Ich nehme als Kompass die via recta, die Gerade Straße, zu der ich immer wieder zurückkehre, wenn ich spüre, dass die Verschachtelung der Gassen von Damaskus und meiner Erinnerungen zu wirr wird.

Meine Kindheit umspielte diese Straße, die die Altstadt in ostwestlicher Richtung durchquert. Sie ist fast 1500 Meter lang und war einst 26 Meter breit, doch die Läden der Handwerker und Händler fraßen sich von beiden Seiten so weit hinein, dass die via recta heute an manchen Stellen nicht einmal mehr zehn Meter breit ist.

An ihrem Anfang, am Osttor der Stadt, liegt unauffällig, wie übrigens das meiste Zauberhafte dieser Stadt, die Manufaktur der Familie Na’ssan, die seit über 200 Jahren eine der begehrtesten Spezialitäten von Damaskus herstellt: Seidenbrokat der feinsten Art. Königin Elisabeth II. ließ ihr Krönungskleid aus dem edlen Stoff fertigen. Der Aga Khan (1959) und Jimmy Carter (1983) schrieben ihre Bewunderung in das Gästebuch der Familie, die viele Anekdoten über die hohen Staatsgäste zu erzählen weiß, doch treten wir lieber wieder auf die Gerade Straße hinaus.

Beim Osttor liegt die Ananiasgasse. Sie beherbergt eine unterirdische Kapelle, die an einen der ersten Anhänger Jesu Christi erinnert. Ananias heilte die Augen eines jungen Christenverfolgers namens Saulus, der vor den Toren der Stadt sein »Damaskus-Erlebnis« hatte. Aus dem Verfolger Saulus wurde der Verfolgte Paulus. Er versteckte sich eine Weile in meinem Viertel, und da seine Häscher alle sieben Tore der Stadt bewachen ließen, flüchtete er im Mantel der Dunkelheit durch meine Gasse, die etwa 300 Meter von der Ananiasgasse entfernt liegt. Paulus wurde in einem Korb auf der anderen Seite der Stadtmauer hinuntergelassen, und er ging von dannen und missionierte die Welt. Ohne Paulus wäre das Christentum ein orientalisches Märchen geblieben. Doch kehren wir lieber zur Geraden Straße zurück.

Die via recta ist ein griechisch-römisches Erbe. Fast tausend Jahre lang hielten Griechen und Römer Damaskus besetzt, bis die Araber die Stadt im 7.Jahrhundert eroberten. Damaskus ist eine der ältesten, ununterbrochen bewohnten Städte der Welt. Als die Ewige Stadt Rom gebaut wurde, war Damaskus schon tausend Jahre alt und die Hauptstadt meiner Vorfahren, der Aramäer. Genau in dieser Kontinuität liegen Geheimnis und Schlüssel der Damaszener Seele.

Ägyptische, aramäische, römische, griechische, babylonische, persische, jüdische, römische und arabische Städte und Reiche entstanden, blühten auf, übertrafen in ihrem jugendlichen Glanz die Stadt Damaskus, alterten und gingen infolge von Kriegen, Seuchen und Naturkatastrophen unter. Damaskus aber blieb. Ein Damaszener ist seinem Ausweis nach ein Araber, doch all diese Kulturen, die seine Stadt einst prägten, hinterließen tiefe Spuren in seiner Seele.

Sicher war auch die günstige Lage mitten in der fruchtbarsten Oase Arabiens ein Element dieses Überlebenswillens der Damaszener, aber das allein erklärt nicht den unnachahmlichen Erfolg. Doch ein berühmter Spruch des ersten Kalifen der Omaijaden, Mu’awija, öffnet eine Tür zu diesem Erfolgsgeheimnis: »Mein Schwert ziehe ich nicht, wenn meine Peitsche reicht, und auch die nicht, wenn meine Zunge genügt.« Der Gründer der Omaijadendynastie war lange Jahre zuvor Stadthalter von Damaskus gewesen. Sicher hat er diesen Spruch von den Damaszenern gelernt, denen man große Freundlichkeit und Höflichkeit verbunden mit Hartnäckigkeit und Geduld nachsagt. Die stolzen Damaszener können äußerst nachgiebig werden, wenn es um den Vorteil ihrer Stadt geht. So verstanden sie es immer in der Geschichte, in guten Zeiten das Beste herauszuholen und in schlechten Zeiten das Schlimmste zu verhüten.

Unter den Omaijaden war Damaskus fast hundert Jahre lang die Hauptstadt eines Weltreiches. Erst das Jahr 750 brachte der Stadt eine verheerende Niederlage. Der Aufstieg der Abbassiden im Irak degradierte Damaskus zu einer Provinzstadt. Hierin liegt auch die Wurzel der bis heute gepflegten Feindseligkeit zwischen Damaskus und Bagdad.

Doch Damaskus überlebte die Abbassiden, die zerstörungswütigen Horden der Mongolen und Tataren und 400 Jahre osmanische Besatzung. Die Stadt verstand sich nicht nur auf die Seidenweberei und die Herstellung des weltberühmten Stahls, sondern und vor allem aufs Überleben aller ihrer Eroberer. Mein Nachbar, der alte Kutscher Salim, sagte mir einst: »Der Damaszener Stahl ist spröde im Vergleich zur Damaszener Zunge.« Doch kehren wir wieder zur Geraden Straße zurück.

Ein paar hundert Meter weiter liegt die Saitungasse. Hier residiert der Patriarch der katholischen Kirche (Melkiten). Hier liegt auch die katholische Schule, die ich zwölf Jahre lang besuchte. Sie war bis zur späteren Verstaatlichung eine der drei Eliteschulen der Christen. Die Söhne der reichen Muslime durften mit uns von einer Auslese der besten Lehrer unterrichtet werden. Viele Namen und Gesichter meiner Mitschüler habe ich vergessen, doch nicht das Bild der zwei Scha’lan-Prinzen, die nach jeden Ferien in einem Cadillac bis zum Schultor gebracht wurden. Der Chauffeur blieb regungslos hinterm Lenkrad sitzen, ein großer schwarzer Sklave in arabischem Gewand entstieg dem Innern des Cadillacs wie in einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Er hielt stumm die Tür für die kleinen Herrschaften auf, die für uns nichts anderes als dumme Bengel waren und wegen ihrer Einfältigkeit bis zu den nächsten Ferien ausgelacht und verspottet wurden. Der Großvater dieser zwei Scha’lan-Sprösslinge, Nuri Scha’lan, war bei der Befreiung Damaskus’ von den Osmanen am 3.Oktober 1918 an der Seite König Feisals und eines gewissen Oberst »Lawrence von Arabien« marschiert, aber das ist eine andere Geschichte, und lieber kehren wir zur Geraden Straße zurück.



aus "Damaskus im Herzen und Deutschland im Blick" von Rafik Schami
Beobachtungen eines syrischen Deutschen.
Rafik Schami, der seine Heimat Syrien als Diktatur- und Kriegsgegner verlassen musste, hat sein Land nie wieder betreten. Aber vor allem Damaskus, die Stadt seiner Kindheit, hat er sich im Herzen bewahrt: die Farben und Gerüche, die Straßen und Plätze, die Menschen und Geschichten der uralten orientalischen Stadt. Rafik Schami macht in diesen über Jahren entstandenen Texten deutlich, wie sich arabische und europäische Kultur unterscheiden, und beschreibt - mal ernst, mal unterhaltsam - den Traum, sich eines Tages gegenseitig zu verstehen. (Hanser 2006)
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