Einleitung

Vor mehr als zehn Jahren machte ich eine unglaubliche Entdeckung. In einer alten Karte stieß ich auf einen Hinweis, der mich zwar nicht zu einem verborgenen Schatz führte, der aber den Schluss zuließ, dass die Weltgeschichte so, wie man sie seit Jahrhunderten gekannt und überliefert hatte, radikal umgeschrieben werden musste.

Ich ging einem Hobby nach, das für mich zu einer verzehrenden Leidenschaft geworden war: dem Studium der Geschichte des Mittelalters, insbesondere der alten Karten und Aufzeichnungen der frühen Entdecker. Mit Hingabe untersuchte ich diese alten Karten, verfolgte Konturen und Küstenlinien, die veränderlichen Formen von Untiefen und Sandbänken, die Bedrohung, die von Felsen und Riffen ausging. Ich spürte dem Steigen und Sinken von Ebbe und Flut, dem Sog unsichtbarer Strömungen und den vorherrschenden Windrichtungen nach und erschloss mir so die Bedeutung, die in den Karten verborgen war.

Meine Nachforschungen begannen im winterlichen Minnesota. Eigentlich war dies kein Ort, an dem man nach einem Dokument von derart tief greifender Bedeutung suchen würde, aber die James-Ford-Bell-Bibliothek an der Universität von Minnesota besitzt eine bemerkenswerte Sammlung alter Karten, von denen eine meine Aufmerksamkeit besonders erregt hatte. Sie hatte zur Sammlung von Sir Thomas Phillips gehört, einem im späten 18. Jahrhundert geborenen, wohlhabenden britischen Sammler, aber niemand hatte von ihrer Existenz gewusst, bis die Sammlung vor einem halben Jahrhundert wiederentdeckt wurde.

Die Karte, um derentwillen ich gekommen war, trug die Jahreszahl 1424 und war von einem venezianischen Kartographen namens Zuane Pizzigano unterzeichnet. Sie zeigte Europa und Teile von Afrika, und als ich sie mit einer modernen Karte verglich, stellte ich fest, dass der Kartograph die Küsten Europas korrekt gezeichnet hatte. Für die damalige Zeit handelte es sich um eine außerordentliche kartographische Leistung, war jedoch an und für sich nicht von welterschütternder Bedeutung. Dann jedoch fiel mir eine höchst seltsame Eigentümlichkeit der Karte auf. Weit im westlichen Atlantik hatte der Kartograph eine Gruppe von vier Inseln eingezeichnet. Die Namen, die er ihnen gegeben hatte - Satanazes, Antilia, Saya und Ymana -, entsprachen keinen modernen Inselnamen, und in der Gegend, in der er sie platziert hatte, gibt es keine großen Inseln. Das konnte an einem Fehler in der Berechnung der geographischen Länge liegen, denn die Europäer beherrschten diese schwierige Kunst nicht vor dem 18. Jahrhundert. Mein erster, beunruhigender Gedanke war jedoch, dass die Inseln nur in der Phantasie des Mannes existierten, der die Karte gezeichnet hatte.

Ich sah noch einmal genauer hin. Die beiden größten Inseln waren in leuchtenden Farben gemalt, Antilia in Dunkelblau und Satanazes in hellem Rot. Ansonsten war die Karte nicht koloriert, und ich war mir sicher, dass Pizzigano hervorheben wollte, dass es sich um wichtige, erst kürzlich entdeckte Inseln handelte. Alle auf der Karte verzeichneten Namen waren offenbar in mittelalterlichem Portugiesisch angegeben. Antilia - anti, »gegenüber von«, und ilha, »Insel« - bedeutete eine Insel auf der Portugal gegenüber liegenden Seite des Atlantiks. Abgesehen davon war an dem Namen nichts zu erkennen, mit dessen Hilfe ich die Insel hätte identifizieren können. Satanazes, »Satans- oder Teufelsinsel«, war ein sehr auffallender Name. Auf der größeren Insel, Antilia, waren erheblich mehr Ortschaften eingezeichnet, was darauf schließen ließ, dass sie besser bekannt war. Auf Satanazes waren nur fünf Namen und die geheimnisvollen Worte con und ymana eingetragen.

Nun war mein Interesse geweckt. Was waren das für Inseln? Existierten sie wirklich? Das Datum der Karte, ihre Herkunft und Authentizität konnten nicht angezweifelt werden. Wenn sie jedoch echt war, waren Länder in Weltgegenden eingezeichnet, die nach allgemein anerkannter Überlieferung von den Europäern noch weitere sieben Jahrzehnte lang nicht erreicht worden waren. Nachdem ich mehrere Wochen in Kartenräumen und Archiven verbracht und weitere Karten und Dokumente untersucht hatte, gelangte ich zu der Überzeugung, dass Antilia und Satanazes die karibischen Inseln Puerto Rico und Guadeloupe waren. Es gab zu viele Übereinstimmungen, als dass es sich um einen Zufall handeln konnte, aber das bedeutete, dass rund siebzig Jahre, bevor Kolumbus die Karibik erreichte, irgendjemand diese Inseln genau erforscht haben musste. Die Erkenntnis erschien mir absolut unglaublich: Kolumbus sollte nicht der Entdecker der Neuen Welt sein, obwohl seine Reisen bisher als Wendepunkt in der Geschichte betrachtet worden waren, als Beginn des Zeitalters der Entdeckungen und der langen, unaufhaltsamen Expansion der Europäer über den ganzen Erdball, die die Geschichte der folgenden fünf Jahrhunderte kennzeichnete?

Ich benötigte weitere Beweise für meine Entdeckung und wandte mich an einen Experten für mittelalterliches Portugiesisch, Professor João Camilo dos Santos, der sich damals an der portugiesischen Botschaft in London aufhielt. Er sah sich die Pizzigano-Karte an und übersetzte die Worte con ymana mit »ein Vulkan bricht hier aus«. Die Worte standen am Südende von Satanazes, genau an der Stelle auf Guadeloupe, wo sich heute drei Vulkane befinden. Waren sie vor 1424 ausgebrochen? Aufgeregt rief ich bei der Smithonian Institution in Washington, DC, an. Die Vulkane waren zweimal zwischen 1400 und 1440 ausgebrochen, hatten jedoch während der vorangegangenen hundert Jahre und der folgenden anderthalb Jahrhunderte geruht. Andere Vulkanausbrüche hatte es zur fraglichen Zeit in der Karibik nicht gegeben. Ich hatte das Gefühl, am Ziel zu sein. Ich war fest überzeugt, einen unerschütterlichen Beweis dafür gefunden zu haben, dass bereits achtundsechzig Jahre vor Kolumbus jemand die Karibik erreicht und dort heimlich eine Kolonie gegründet hatte.

Professor Camilo dos Santos führte mich bei dem Direktor des Staatsarchivs im Torre do Tombo in Lissabon ein, und an einem schönen Nachmittag im frühen Herbst begann ich dort, nach einer Bestätigung meiner Annahme zu suchen, dass die Portugiesen schon vor Kolumbus in der Karibik gelandet waren. Zu meiner Überraschung stieß ich auf etwas völlig anderes: Die Portugiesen waren weit davon entfernt gewesen, die karibischen Inseln zu entdecken. Zu der Zeit, als Pizzigano seine Karte zeichnete, waren sie ihnen vollkommen unbekannt gewesen. Die Inseln waren jedoch auf einer zweiten, etwas späteren, von einem unbekannten Kartographen stammenden Karte eingezeichnet, die nicht vor 1428 in die Hände der Portugiesen gelangt war. Hinzu kam, dass ich einen Befehl des portugiesischen Prinzen Heinrich des Seefahrers aus dem Jahr 1431 fand, in dem er seine Kapitäne dazu aufforderte, die auf der Karte von 1428 abgebildeten Inseln von Antilia zu suchen. Wären sie bereits von den Portugiesen entdeckt worden, hätte Heinrich schwerlich den Befehl erteilen müssen, nach ihnen zu suchen. Wenn es aber nicht die Portugiesen waren, die Antilia und Satanazes entdeckt und erforscht hatten, wer in aller Welt war es dann gewesen? Woher hatten Pizzigano und die anderen Kartographen ihre Informationen?

Ich erweiterte meine Nachforschungen und verfolgte Aufstieg und Fall mittelalterlicher Kulturen, die längst untergegangen waren. Nacheinander eliminierte ich praktisch jede Flotte der Welt, die dafür infrage kam, in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts eine derart ehrgeizige Reise unternommen zu haben. Venedig, die älteste und mächtigste Seemacht in Europa, befand sich in einer Epoche politischer Wirren. Der Doge war alt, seine Kräfte schwanden, und sein Nachfolger stand schon bereit, fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass Venedig sich von seiner Tradition als Seemacht abwandte und eine Landmacht wurde. Die nordeuropäischen Mächte hatten Schiffe, die gerade einmal dazu taugten, den Kanal zu überqueren, und ganz bestimmt keine neuen Weltgegenden entdecken konnten. Die ägyptischen Herrscher waren in Bürgerkriege verwickelt - allein im Jahr 1421 gab es nicht weniger als fünf Sultane. Auch die islamische Welt war in Auflösung begriffen. Die Portugiesen waren in das nordafrikanische Herzland eingedrungen, und das einst so mächtige asiatische Reich des Mongolenherrschers Timur Lenk oder Tamerlan lag in Scherben.

Wer sonst konnte die Karibik erforscht haben? Ich beschloss herauszufinden, ob es noch weitere Karten wie die von 1424 gab, auf denen Kontinente abgebildet waren, bevor sie von den europäischen Entdeckern gefunden worden waren. Je tiefer ich grub, desto mehr Explosivstoff entdeckte ich. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass Patagonien und die Anden ein ganzes Jahrhundert, bevor die ersten Europäer sie zu Gesicht bekamen, kartographiert worden waren, und die Antarktis war rund vier Jahrhunderte vor der Entdeckung durch die Europäer korrekt gezeichnet worden. Auf einer anderen Karte war die gesamte Ostküste Afrikas mit vollkommen korrekten geographischen Längen abgebildet - was die Europäer noch weitere drei Jahrhunderte lang nicht konnten. Drei Jahrhunderte vor Cook tauchte Australien auf einer Karte auf, andere Karten zeigten die Karibik, Grönland, die Arktis und sowohl die süd- als auch die nordamerikanische Pazifik- bzw. Atlantikküste - und das alles lange vor ihrer Entdeckung durch die Europäer.

Wer auch immer die Entdecker waren, um diese Karten der ganzen Welt mit solcher Genauigkeit zeichnen zu können, mussten sie den gesamten Erdball umsegelt haben. Sie mussten die Kunst beherrscht haben, nach den Sternen zu navigieren, und eine Methode entwickelt haben, die geographische Länge zu ermitteln und Karten mit annähernd korrekten Längenangaben zu zeichnen. Um derart große Entfernungen zu überwinden, mussten sie monatelang auf See bleiben können, was bedeutete, dass sie in der Lage gewesen sein mussten, Meerwasser zu entsalzen. Wie ich später feststellte, suchten sie auch nach Metallen und bauten sie ab, waren kundige Gärtner und verschifften Tiere und Pflanzen über den ganzen Erdball. Sie hatten, kurz gesagt, das Gesicht der mittelalterlichen Welt verändert. Vor meinen Augen entfaltete sich die Geschichte der unglaublichsten Entdeckungsreisen der Menschheit, aber es war eine Geschichte, die vollständig aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt worden war. Fast alle Berichte über diese Reisen waren zerstört, die neuen Erkenntnisse ignoriert und schließlich vergessen worden.

Was ich da entdeckt hatte, war ebenso verblüffend wie erschreckend. Wenn ich meine Entdeckungen weiterverfolgen wollte, musste ich die gesamte Geschichte der Entdeckung der Welt in ihrer bisherigen Form infrage stellen. Jedes Schulkind kennt die Namen der großen europäischen Entdecker und Seefahrer, deren Taten sie über die Jahrhunderte hinweg berühmt gemacht haben. Bartolomëu Diaz (1450-1500) schiffte sich im Jahr 1487 in Portugal ein und war der Erste, der das Kap der Guten Hoffnung, die Südspitze Afrikas, umrundete. Ein Sturm trieb ihn auf die Südseite des Kaps, und als er dort kein Land fand, wandte er sich nach Norden, segelte um das Kap herum und landete an der afrikanischen Ostküste. Vasco da Gama (1469-1525) folgte zehn Jahre später seinen Spuren. Er segelte die Ostküste Afrikas entlang, überquerte den Indischen Ozean nach Indien und eröffnete den ersten Seeweg für den Handel mit Gewürzen. Am 12. Oktober 1492 sichtete Christoph Kolumbus (1451-1506) Land in den heutigen Bahamas. Die Welt hält ihn bis heute für den ersten Europäer, der die Neue Welt zu sehen bekam, obwohl Kolumbus selbst dies niemals annahm, sondern in dem Glauben lebte, er habe Asien erreicht. Er machte drei weitere Reisen, entdeckte viele karibische Inseln und das Festland von Mittelamerika. Ferdinand Magellan (ca. 1480-1521) trat in Kolumbus´ Fußstapfen und wird für den Entdecker der Straße zwischen dem Atlantik und dem Pazifik gehalten, die bis zum heutigen Tag seinen Namen trägt. Sein Schiff segelte weiter nach Westen und vollendete die erste Weltumseglung, obwohlMagellan die triumphale Rückkehr seiner Expedition nach Spanien nicht mehr erlebte. Er war am 27. April 1521 auf den Philippinen umgebracht worden.

All diese Männer verdankten dem großen portugiesischen Prinzen, Heinrich dem Seefahrer (1394-1460), ungeheuer viel. Sein Sitz im südwestlichen Portugal wurde zu einer Akademie für Entdecker, Kartographen, Schiffsbauer und Instrumentenmacher. Dort wurde die Bauweise der europäischen Schiffe revolutioniert, Navigationsinstrumente und Techniken wurden entwickelt und verbessert, die großen Entdeckungsreisen und die anschließende Kolonisierung erhielten von dort ihren Antrieb.

Als ich meine Forschungsarbeiten im Torre do Tombo abschloss, hatte sich ein Gefühl vollkommener Verwirrung meiner bemächtigt. Ich verbrachte einen nebeligen Abend in einer Bar am Hafen von Lissabon und blickte auf das Standbild Heinrichs des Seefahrers. Auf einmal konnte ich sein geheimnisvolles Lächeln deuten. Wir beide wussten um ein Geheimnis. Er war den Spuren anderer in die Neue Welt gefolgt. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr faszinierte mich das Problem. Wer waren denn die hervorragenden Seeleute, die all diese neuen Länder und Ozeane entdeckt und kartographiert hatten, ohne - abgesehen von den geheimnisvollen Karten - eine Spur zu hinterlassen?

Das Geheimnis der unbekannten, großen Seefahrer wurde auf seltsame Weise gelüftet. Die Küsten von Patagonien, die Anden, der antarktische Kontinent und die Süd-Shetland-Inseln waren mit bemerkenswerter Genauigkeit auf einer einzigen Karte verzeichnet. Die Entfernung von Ecuador im Norden bis zur antarktischen Halbinsel im Süden war enorm. Man hatte bestimmt eine riesige Flotte benötigt, um eine solche Strecke zu überwinden. In jener Zeit gab es nur ein einziges Land, das die materiellen Mittel, die wissenschaftlichen Kenntnisse und die seemännische Erfahrung besaß, um eine Entdeckungsreise eines solchen Ausmaßes zu unternehmen. Dieses Land war China - aber der Gedanke, einen unwiderlegbaren Beweis dafür erbringen zu müssen, dass eine chinesische Flotte die Welt erkundet hatte, lange bevor die Europäer sich auf den Weg gemacht hatten, beängstigte mich.

Ein Versuch, Ereignissen auf die Spur zu kommen, die annähernd sechs Jahrhunderte zurückliegen, ist in jedem Fall hoffnungslos genug; in diesem Fall gab es jedoch ein zusätzliches, vielleicht unüberwindliches Hindernis. Mitte des 15. Jahrhunderts wurden infolge eines abrupten Umschwungs in der chinesischen Außenpolitik fast alle Karten und Dokumente der Zeit von Hofbeamten absichtlich zerstört. Statt sich nach seinen beispiellosen Entdeckungen der Außenwelt zuzuwenden, zog sich China in sich zurück, und alles, was an seine expansionistische Vergangenheit erinnerte, wurde aus der Überlieferung getilgt.

Wenn ich die unglaubliche Geschichte der chinesischen Entdeckungsreisen schreiben wollte, würde ich an anderer Stelle nach Beweisen suchen müssen, aber ich fürchtete mich fast, damit zu beginnen. Die Überzeugung, ein U-Boot-Kommandant im Ruhestand könne historische Ereignisse aufspüren, die vielen größeren Geistern entgangen waren, schien mir von einer Arroganz zu zeugen, die schon fast an Hybris grenzte. Aber obwohl ich im Vergleich zu den vielen anerkannten Fachleuten auf diesem Gebiet nur ein Amateur war, hatte ich einen ganz wesentlichen Vorteil. Im Jahr 1953, als ich im Alter von fünfzehn Jahren in die königliche Marine eintrat, war Großbritannien noch eine Weltmacht mit einer großen Flotte und Marinestützpunkten, die über den ganzen Erdball verteilt waren. Während der siebzehn Jahre, die ich der Marine angehörte, befuhr ich die ganze Welt auf den Spuren der großen europäischen Entdecker. Zwischen 1968 und 1970 zum Beispiel war ich Kommandant der HMS Rorqual und fuhr mit ihr von China nach Australien und über den Pazifik nach Süd- und Nordamerika.

Die Küsten, Klippen und Berge, die die frühen Entdecker von ihren Achterdecks aus gesehen hatten, waren die gleichen, die ich aus etwa der gleichen Perspektive durch das Periskop meines U-Boots sah. Ich lernte sehr schnell, dass das, was man von der Meeresoberfläche aus sieht, nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss. Zur damaligen Zeit war die Satellitennavigation noch unbekannt. Wir mussten uns an den Sternen orientieren.

Ich sah die gleichen Sterne, die die großen europäischen Entdecker gesehen hatten, und berechnete meine Position, indem ich Höhe und Azimut (Richtung) der Sonne maß, genauso wie sie es versucht hatten. Die Leitsterne der Seeleute in der südlichen Hemisphäre sind der Canopus und das Kreuz des Südens. Diese Sterne spielten eine ausschlaggebende Rolle in den Ereignissen, die sich mir enthüllen sollten. Ohne die Erfahrung in der astronomischen Navigation, die ich mir bei der Marine erworben habe, hätte ich dieses Buch niemals schreiben können, und die Funde, auf die ich gestoßen bin, wären vielleicht noch viele Jahre lang unerkannt geblieben.

Ein Laie, so groß seine Kenntnisse auf anderen Gebieten auch sein mögen, sieht eine Karte an und sieht nichts als eine Reihe von Umrissen, die mehr oder weniger missglückte Darstellungen vertrauter Länder sein können oder auch nicht. Ein erfahrener Navigationsoffizier, der die gleiche Karte betrachtet, kann wesentlich mehr erkennen: wo der Kartograph, der sie aufgezeichnet hat, gesegelt ist, in welche Richtung, wie langsam oder wie schnell, wie weit er von der Küste entfernt war, wie sein Kenntnisstand bezüglich der Bestimmung der geographischen Länge und Breite war und sogar, ob es Tag oder Nacht war. Sofern er die abgebildeten Länder und Meere genau genug kennt, kann ein Navigationsoffizier auch erklären, warum die auf der Karte dargestellten Inseln in Wirklichkeit Berggipfel sein können, warum etwas, was damals als zusammenhängende Landmasse dargestellt wurde, heute eine Ansammlung von Untiefen, Riffen und Inseln sein kann, warum manche Länder mit seltsam verlängerten Formen dargestellt sind.

Ich hatte Karten aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert gesehen, auf denen Teile der Welt dargestellt waren, die den europäischen Entdeckern damals noch unbekannt waren. Viele dieser Karten weisen Ungenauigkeiten auf, und manche der dargestellten Länder sind nicht erkennbar oder deformiert oder an Orten dargestellt, an denen kein Land existiert - und weil das Bild der Welt, das sie vermitteln, der allgemein anerkannten Geschichte der Entdeckungen widerspricht, wurden sie lange Zeit als Fabeln, Fälschungen oder bestenfalls als seltsame Anomalien abgetan. Ich aber kehrte immer wieder zu diesen frühen Karten zurück, und je öfter ich sie studierte und einzuordnen versuchte, umso deutlicher entfaltete sich vor meinen Augen ein neues Bild der mittelalterlichen Welt.

Meine Nachforschungen ergaben, dass Anfang des 15. Jahrhunderts tatsächlich mehrere chinesische Flotten Entdeckungsreisen unternommen hatten. Die letzte und größte dieser Flotten - vier Flotten hatten sich zu einer einzigen riesigen Armada vereinigt - setzte die Segel zu Beginn des Jahres 1421. Die letzten Schiffe, die die Reise überstanden hatten, kehrten im Sommer und Herbst 1423 nach China zurück. Es gibt keinen genauen Bericht darüber, wo sie während der dazwischen liegenden Jahre gewesen waren, aber die Karten bewiesen, dass sie nicht nur das Kap der Guten Hoffnung umrundet, den Atlantik überquert und die Inseln kartographiert hatten, die ich auf der Pizzigano-Karte von 1424 gesehen hatte, sie hatten anschließend Antarktis und Arktis, Nord- und Südamerika erforscht und waren dann über den Pazifik nach Australien gesegelt. Sie hatten das Problem der Berechnung der geographischen Länge und Breite gelöst und Erde und Himmel mit gleicher Genauigkeit kartographisch dargestellt.

Während der ersten fünf Jahre meines Lebens wurde ich von einer chinesischen amah erzogen - ich erinnere mich bis zum heutigen Tag an meinen Kummer über unsere Trennung -, und ich war im Laufe der Jahre mehrfach in China gewesen, aber trotz meines Interesses für dieses großartige Land reichten meine Kenntnisse seiner Geschichte bei weitem nicht aus. Bevor ich der unglaublichen Geschichte der chinesischen Entdeckungsreisen nachgehen konnte, musste ich mich erst einmal in die mir nicht vertraute Welt des mittelalterlichen China versenken. Das alleine war für mich bereits eine Entdeckungsreise, und meine Unkenntnis dieses bemerkenswerten Volkes wurde, wie ich befürchte, von vielen Menschen im Westen geteilt. Je mehr Kenntnisse ich mir aneignete, desto mehr wuchs meine Ehrfurcht vor dieser alten, bildungsreichen und unglaublich hoch entwickelten Kultur. Ihre Wissenschaft und Technologie und ihre Kenntnisse von der Welt um sie herum waren den unseren in der gleichen Zeit so weit überlegen, dass es drei, vier und in mancher Hinsicht sogar fünf Jahrhunderte dauerte, bis der Kenntnisstand der Europäer dem des mittelalterlichen China gleichkam.

Nachdem ich mir die wesentlichen Kenntnisse über diese große Zivilisation angeeignet hatte, brachte ich zehn Jahre damit zu, die Entdeckungsreisen der Chinesen um den Erdball herum zu verfolgen. Ich stöberte in Archiven, Museen und Bibliotheken herum, besuchte alte Denkmäler, Schlösser, Paläste und die größeren Seehäfen des späten Mittelalters, erforschte felsige Vorberge, Korallenriffe, einsame Strände und abgelegene Inseln. Wo immer ich hinging, fand ich weitere Beweise für meine Theorie. Es stellte sich heraus, dass eine Hand voll chinesischer Dokumente und Segelanweisungen der allgemeinen Zerstörung der Quellen entgangen war, und es gab mehrere Berichte aus erster Hand, zwei von chinesischen Historikern, einen dritten von einem europäischen Kaufmann und weitere von den ersten europäischen Entdeckern, die in die Fußstapfen der Chinesen traten und Beweisstücke und Artefakte fanden, die von ihren Vorgängern hinterlassen worden waren.

Hinzu kam eine große Menge materieller Beweisstücke: chinesisches Porzellan, Seide, Votivgaben, Artefakte, Steine mit Inschriften, die von den chinesischen Admiralen als Denkmäler für ihre Leistungen zurückgelassen worden waren, die Wracks chinesischer Dschunken vor den Küsten von Afrika, Amerika, Australien und Neuseeland, Pflanzen und Tiere, die aus ihrer ursprünglichen Heimat mitgebracht worden waren und am neuen Ort weiterlebten, als die ersten europäischen Entdecker auftraten. Alles, was ich herausfand, bestätigte die Genauigkeit der Karten, die zuerst meine Phantasie angeregt hatten. Die bemerkenswerten Informationen, die in diesen Karten enthalten sind, waren schon immer da und hätten von jedermann gesehen werden können, aber sie entgingen der Aufmerksamkeit vieler hervorragender chinesischer Historiker, nicht weil sie nicht sorgfältig genug gearbeitet hätten, sondern weil sie keine Kenntnisse über astronomische Navigation und die Ozeane der Welt besaßen. Wenn ich Informationen gefunden habe, die ihnen entgangen sind, so lag das nur daran, dass ich die Karten interpretieren konnte, auf denen Kurs und Ausdehnung der Reisen der großen chinesischen Flotten zwischen 1421 und 1423 dargestellt sind.

Kolumbus, Vasco da Gama, Magellan und Cook sollten später die gleichen »Entdeckungen« machen, aber sie alle wussten, dass sie den Spuren anderer folgten, denn sie hatten Kopien der chinesischen Karten bei sich, als sie zu ihren eigenen Reisen ins »Unbekannte« aufbrachen. Um es mit einem berühmten Zitat auszudrücken: Wenn sie weiter sehen konnten als andere, so lag das daran, dass sie auf den Schultern von Riesen standen. (...)


(aus "1421. Als China die Welt entdeckte" von Gavin Menzies)

1421: Chinesische Seefahrer entdecken Amerika - 70 Jahre vor Kolumbus. Sie durchfahren die Magellanstraße und umsegeln die ganze Welt - 100 Jahre vor Magellan. Sie landen in Australien - 350 Jahre vor Captain Cook. In diesem epochalen Buch liefert Gavin Menzies eine revolutionäre Neudeutung der Geschichte der großen Entdeckungsreisen und belegt eindrucksvoll, dass das Reich der Mitte auf der Höhe seiner Macht die Welt entdeckte - lange vor den Europäern.
Am 8. März 1421 läuft auf Geheiß des Ming-Kaisers Zhu Di eine gigantische Armada aus, wie sie die Welt nie wieder gesehen hat. Ihr Auftrag: Tribute einfordern von den Barbarenvölkern »jenseits der Meere«. Es sind hunderte mächtiger Dschunken mit 30.000 Mann Besatzung unter dem Kommando des Eunuchen Zheng He. Die Reise währt zwei Jahre; die Flotte segelt rund um die Welt und entdeckt ferne Kontinente. Doch das Wissen um diese Expedition geht in den folgenden Wirren der chinesischen Geschichte verloren. Gavin Menzies hat 15 Jahre lang die Seereisen Zheng Hes minutiös recherchiert. Alte Seekarten, spektakuläre Wrackfunde und zahllose Indizien legen nahe, dass die Geschichte der großen Entdeckungsreisen umgeschrieben werden muss. Menzies' Vortrag vor der Royal Geographical Society im Frühjahr 2002 war eine Sensation und erlebte weltweit in der Presse einen fulminanten Nachhall. Nun liegt sein mit Spannung erwartetes Buch vor - ein großes historisches Panorama, eine überzeugende Darstellung dieser beispiellosen Pioniertat der Chinesen.
Gavin Menzies, geboren 1937, lebte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit seinen Eltern in China. 1959 trat er in die Royal Navy ein und war von 1968 bis 1970 U-Boot-Kommandant. Nach seiner Dienstzeit hielt sich Menzies wiederholt in Ostasien auf. Die Recherchen für dieses Buch führten ihn in 120 Länder, in über 900 Museen und Bibliotheken. Gavin Menzies lebt in London. (Droemer Knaur)
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