(...) Als sich die Tür des Asyls hinter ihm schloß, wandte Petar Furcic seine Augen zum Himmel. Er atmete den Duft der Kiefern ein und ging den Weg nach Medulin. Aus dem Asyl tretend wie aus einem Schneckengehäuse, in dem er zwei Wochen lang unbemerkt dahingedämmert hatte, befand er sich wieder im Gesichtskreis des Schöpfers. Wieder verfolgte ein unsichtbares Auge seine Bewegungen. Schon am nächsten Montag würde er die Briefträgertasche über den Monte Zaro tragen und seinen Bezirk abgehen.
Eines nach dem anderen zeigten sich die Gebäude seines Bezirks. Er erinnerte die Wohnungstüren, ihr trübes Glas, den Widerschein des weißen Vorhangs hinter dem Gitter aus Schmiedeeisen, die Namenszüge auf Metall- oder Glasplättchen. Mehr noch, die Keramiktäfelchen im Vorzimmer von Frau Ema in der Pionirska, die Position des ovalen Spiegels, das schwarze Telefon auf der Kommode, den Asparagustopf im Hof von Familie Franic, deren seltsamen Jungen, der mit seiner Zwille auf ein schlankes Bäumchen zielte, das Stück von rotem Linoleum in der Werkstatt von Pavle Ivetic, die flimmernden Bildschirme alter Fernsehgeräte, und immer schneller ging er die Omladinska entlang, betrat die Welt ebenerdiger Häuser, die sich die Hänge des Monte Zaro in Richtung Patinadje hinabstürzten, in der die Namen voller Klang waren. Der Duft Italiens in den Kleiderfalten von Frau Violetta. Ihre Tochter Ornela lebte seit langem in Venedig und sang im Opernchor. Er erkannte die Marken auf den Luftpostbriefen aus Brisbane, Montevideo und Lima wieder. Häufig hatte er in den Briefkasten von Eduardos Eltern längliche, hellblaue Kuverts mit Briefmarken aus Neuseeland geworfen.
Als er aus dem Wäldchen trat, beschleunigte er seinen Schritt; ein Bote, der die Siegesmeldung in die Stadt trägt.
Einen Augenblick lang sieht er in seiner Hand einen Brief. Auf seiner Rückseite erkennt er die Handschrift, es ist ein Brief aus Genf für Flavije Culijanije. Ein ferner Verwandter, ein ehemaliger Bewohner Pulas vielleicht, der den Morgen erinnerte, an dem er mit der Toscana auf immer die Geburtsstadt verließ. Doch nur ein, zwei Jahre später, erlebt einen Morgen mit ebensolcher Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck sein Vater, Milutin Furcic, während er vom Deck eines Panzerkreuzers das Hafengemäuer und die Häuser auf den Hügeln betrachtet. Wie ein Eindringling bewegt er sich durch die Straßen der verlassenen Stadt. Es kommt ihm vor, als tauche er unter den Schuppenpanzer eines abgestorbenen Kriechtiers, als trage er den Widerschein des Lebens aus dem Banat in sie hinein, im Glauben an eine Windstille. Ein Nest bauen im Windschatten einiger ruhiger Dezennien, über die die Geschichte eines Tages nichts wird vermerken können.
Nach der jährlich erfolgenden Behandlung fühlte sich Petar erholt, die tiefen Schichten waren unangetastet geblieben, weder die Pillen noch der eisige Blick des Pflegers im Asyl hatten sie verblassen lassen. Seit sich Doktor Eduardo nach Neuseeland eingeschifft hatte, das aber war bald drei Jahre her, war es für Petar der erste Aufenthalt im Asyl am Weg nach Medulin. Petars Fall war abgesegnet mit der Diagnose eines für die Umgebung Ungefährlichen, und so konnte er zur Post zurückkehren, auf den Platz, den der Sozialdienst für ihn reserviert hatte. Der Grund für den Aufenthalt im Asyl war der Tod des Vaters, nur ein Jahr, nachdem seine Mutter gestorben war.
Es gibt Briefe, die noch immer Adressen erreichen, wo es längst diejenigen nicht mehr gibt, für die sie gedacht waren. Ein riesiger Stempel läßt ein Quadrat blauer Linien zurück, in das man eine Chiffre schreibt und die kurze Mitteilung: Empfänger unbekannt. Vor ein paar Jahren gab es davon Tausende. Zweimal hatte er den Bezirk gewechselt, viele unbekannte Empfänger vergessen. Zuweilen sagte er sich den klingenden Namen und die Adresse des Absenders laut vor, betrachtete die Briefmarke aus Argentinien, Kanada, Norwegen ... traf in Kreuzworträtseln auf längst vergessene Namen. Dann hielt Petar, die Feder in der Hand, inne, und während er einen Namen in die Horizontale schrieb, glitt sein Gedanke vertikal durch die Ablagerungen der Zeit. Das letzte Mal hatte er im Asyl eine Zeitung mit einem unausgefüllten Kreuzworträtsel gefunden. Die leeren Quadrate waren ein Raum, in den er mit Leidenschaft Wörter schrieb. Akanthus: eine Pflanze, deren Blätter die korinthischen Kapitelle schmückte, aber auch der Leichenwagen, der den Verstorbenen transportiert. Eine dornbewehrte Pflanze, Symbol der unbearbeiteten Erde und der Unschuld. Das Wort Akanthus versetzte Petar in die Gymnasialzeit, als er es war, der ihren Namen für die Bezeichnung der Band vorschlug, in der er die Baßgitarre spielte. Jenes Gymnasiastenquartetts, das Anfang der Siebziger auf den Tanzfeten in ganz Istrien aufspielte und einen Sommer lang auch im Garten Partinadja.
Petar schlug, als er bis an die Peripherie gelangt war, den Weg ins Zentrum ein. Im Café Uliks sah er Marina und ging auf ihren Tisch zu. Er erfuhr, daß Labud gestorben war. (...)


(aus "Dante-Platz", Roman von Dragan Velikic
Aus dem Serbischen von Astrid Philippsen)