Literarisches Streiflicht

 

 

Alban Nikolai Herbst

Sie haben ihn längst!

Kleines Gedankenspiel über die Prolongation eines Krieges

 

Gestern abend stand ich - umdüstert wie selten, denn ich hatte vom letzten Literarischen Quartett gehört - an der Theke meines geliebten Torpedokäfers und diskutierte mit den Kumpanen, wo sich Herr Bin Laden wohl aufhalten möge. Neben mir kauerte ein leicht verspeckter, sozusagen ganzgesichtig Bartbestoppelter, spuckte sehr langsam in sein Radeberger und schwieg, derweil wir andern uns stritten. Ich kannte ihn nicht, er stellte sich auch später – nach seiner so bewegenden wie melancholischen Bemerkung – nicht vor, obwohl er nicht etwa ging, als er uns zum Schweigen gebracht hatte. Nein, er stand dort noch für sicher drei Stunden, trank und spuckte und trank wieder. Mir ist heute morgen bewußt, daß er keine Augenklappe trug; dennoch, er sah danach aus, sah nach dem Wanderer aus, doch einem, der nicht die drei Fragen zur Lösung stellt ("Welches Geschlecht...?"), sondern eine Lösung, aus welcher die Fragen erst kondensiert werden müssen. "Sie haben ihn längst", sagte er nämlich, und zwar, ohne daß er aufgesehen hätte.

Wir brachen mitten in unseren Erregungen ab, sahen ihn wirklich alle an. Er reagierte nicht, nicht auf Nachfragen, nicht auf die Aufforderung, seine Meinung zu erklären. Nichts. Soff. Spuckte. Punkt.

Wir ließen ihn in Ruhe. Diskutierten endlich weiter. Aber, muß ich gestehen, nicht mehr mit derselben Verve. Denn in uns allen, glaube ich, mischte sich die unmittelbare Evidenz dieser Aussage mit ihrer und unser aller Paranoia und damit, daß letztlich keiner von uns informiert war, daß wir immer nur glauben mußten, was man uns sagte oder zeigte, daß wir uns in einen Krieg einrücken ließen, dessen Folgen weder abzuschätzen sind, noch haben wir ja überhaupt einen Beweis gesehen... na gut, neuerdings das Video. Dazu noch später. Jedenfalls müssen wir das alte monotheistische Böse mit neuen, so erkenntnistheoretischen wie realmoralischen Würden krönen. Wir müssen, da wir es tun. In diesem Licht betrachtet, hatte der kleine Satz des Wanderers nicht weniger Wahrscheinlichkeit als irgendeine Meinung politischer Funktionäre oder einer Fernsehmoderatorin oder Monikas, der Erzieherin meines Jungen im Kindergarten. Oder eines Straßenbahnfahrers. Oder des Präsidenten der USA. Es ist, als schwämme man in einem aufgewühlten Meinungsmeer, dessen Wellen von unfaßbarer Konsistenz sind: selbst ihre Moleküle leuchten wie ein schwarzes, gänzlich ungewisses Licht.

Später, die Kumpels waren weg, saß ich abseits an einem Tisch, schlürfte abwechselnd mauen Whisky und schales Bier und sah dem Wanderer auf den Rücken. Vielleicht erwartete ich die Flammenschrift, aber ich hatte nicht einmal eine Vision. Indessen klopfte das "Sie haben ihn längst" in meinem Schädel. Wenn der Satz stimmte, wäre der Krieg als dauerhaftestes Mittel der politischen Auseinandersetzung institutionalisiert: Der Westen könnte sich von der dräuenden Rezession erholen, unser deutsches Selbstbewußtsein sowieso, ganz Europa bekäme einen Hilfs-Sheriff-Rang, der es auf Jahrzehnte zur Treue gegenüber den USA verpflichtete - ökonomisch gesprochen: Europa wäre nicht länger Konkurrenz -, und Washington würde zum unangefochtenen, ja unanfechtbaren Selbst-Weltgericht. Das puristische Christentum hätte gesiegt. Daß so etwas dem Jihad letztlich recht gibt - also daß es sich bei dieser ganzen Auseinandersetzung tatsächlich um einen Glaubenskrieg handelt -, fiele nun keinem mehr auf. Denn die ideologische Gefahr, die aus einem Großen Islamischen Märtyrer bricht, wäre einfach vom Tisch, und zwar egal, ob man Herrn Bin Laden im Gefängnis erschießen oder ihn durchfüttern oder ihn foltern würde, um Informationen zu erpressen. Man könnte ihn sogar eine von der Welt isolierte Luxusvilla beziehen lassen. Schließlich hätte man allen Grund, ihm dankbar zu sein. Denn ob noch da oder nicht, er ließe sich als Phantom einfach weiterjagen quer durch sämtliche muslimischen Nationen der Welt. Er würde, als abwesender Anwesender, das Ölproblem bombardierend in den Griff zu bekommen helfen, wie man ja jetzt bereit ist, das Palästina-Problem endlich zu lösen, weil man (noch) die Unterstützung der islamischen Länder braucht. (Ketzerisch gefragt - ja, ich weiß, das ist nicht erlaubt; aber ich durfte das, da ich betrunken war -: Wäre dies ohne Terrorismus politisch möglich geworden? Wäre das Problem Palästina überhaupt im Bewußtsein?) Man müßte sich auch um Beweise und vor allem um Gründe nicht mehr kümmern, niemand würde angeklagt und also auch niemand verteidigt: Es stand meines Wissens noch nie ein Gespenst vor Gericht, ja eine Strafkammer, die über Phantome urteilen soll, ist wirklich ein ziemlich überflüssiges Ding. "Sie haben ihn schon" macht es gänzlich lächerlich, nach einem Völkerthing zu rufen.

Nun ist freilich der Beweis, den man den NATO-Verbündeten vor dem Kriegseinsatz erbrachte, nach dem Etappensieg und dem Fall Tora Boras mit Sieg und Video erbracht. Das zum "Dazu noch später". Jedenfalls gebe ich zu, daß ich mich in die Idee des Wanderers verbohrte; daß ich zu so etwas neige, ist mir selbst seit langem bekannt. Obendrein betrank ich mich, und keinem Trinker ist zu glauben. Schon gar nicht, wenn er außerdem noch raucht. Deshalb stelle ich hier jetzt, wieder nüchtern, fest: Selbstverständlich haben sie ihn nicht, selbstverständlich besteht jeder Anlaß, ihn unbedingt und überall aufzuspüren und mit jederlei zerfetzender Technologie aus seinem Versteck zu räuchern, selbstverständlich darf man Herrn Bin Laden nicht ungestraft lassen, schon gar nicht sich erpressen durch eingeforderte Rücksichtnahme auf sowieso verhungernde Bauern- und Hirtenfamilien. Keine Arme, keine Kekse: dieser bedauerliche Umstand gilt auch hier. Wenn die Terroristen ihn wollen, den Krieg, dann haben die Säuglinge selber schuld: Weshalb fliehen sie ihn nicht?

Ich sah den Wanderer nicht gehen, sah den Torpedokäfer sowieso nur noch neblig und ungefähr. Es gab keine Flammenschrift. Wahrscheinlich gab es auch den Wanderer nicht. Und auch den Weltenbrand wird es nicht geben, der ganz am Ende des Weges loht, den Wanderer und Nibelungentreue gehen. ___________________________________________________________________

ANH, Dezember 2001

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