Schulschluß

von Klaus Krottmayer

Der Notenabschluß stürzt die gesamte Schule in eine trostlose Agonie. Was tun, wenn es nichts mehr zu benoten gibt? Die Schülerinnen, die sich noch im Schulgebäude herumtreiben, ziehen sich ein Video nach dem anderen hinein. Videotrash. The rock. Bruce Willis? Ich komme in die schon abgedunkelte Klasse.

Dürfen wir bitte diesen Film zu Ende schauen?

Mir fehlt die Kraft und der Wille, nein zu sagen. Was wäre die Alternative? Wiederholung ohne Noten? Stoff des nächsten Jahres? Die Noten sind der Kitt, der die Anstalt zusammenhält. Ohne Noten: große Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Die Schüler erfangen sich meist rascher und klopfen ein Video nach dem anderen in sich hinein. Was schreibst du da ins Klassenbuch als durchgenommenen Stoff? Medienerziehung? Der gute Film? Jugend und Gewalterfahrung? Beschäftigung? Ich sammle eine Spur von Hälften, Mittelstücken , Anfängen, Endsequenzen ganz verschiedener Filme auf. Diese Bilder da im Dunklen bringen in ungefähr 15 Minuten an die 20 grausamst zerschossene, zersprengte, zergiftete, gespaltene, zerplatzte Menschenkörper. Die Schüler wirken ungeheuer routiniert beim Zuschauen. Lachen an Stellen, die mir peinlich sind. Ein Hund frißt eine weggesprengte Hand auf. Ein Rumpf ohne Kopf rennt zuckend durch die Gegend. Mit dem Ende des einen Filmes wird der Anfang des nächsten Filmes angezündet. Kettenschauen. Ohne Pause. Pausenläuten.

Ich räume all die Bücher und Zettel, die sich ein Jahr lang auf meinem Schreibtisch konisch versammelt haben, in eine Schachtel. Ich brauche eine zweite, will ich auch die Schließfächer, von denen ich mehr benütze als mir zustehen, klinisch sauber bekommen. Ein sauberer Schreibtisch löst bei mir tiefe Gefühle von Zufriedenheit aus. Ich könnte drauflosarbeiten, soviel Platz ist plötzlich vorhanden. Freiraum, der gefüllt werden will. Schade, daß das Schuljahr vorbei ist.

Vom Innenhof höre ich die Schulband für den Abschlußgottesdienst proben. I am sailing und ein Lied von Reinhard Fendrich, dessen Titel ich nicht kenne und das mir unpassend vorkommt. Vielleicht liegt es daran, daß ich Fendrichs Lieder überhaupt nicht mag. Seichtes Pubertätsgefasel mit Selbstbespiegelungstendenz. Nachher beim Schlußgottesdienst nur wenige Schüler, Preis und Lohn freiwilliger Teilnahme. Wahre Christen? Die Schulband spielt ungeheuer ambitioniert, zwei Saxophon spielende Mädchen, eine E-Gitarre mit coolem Blick, kein Baß. Ich muß über zwei sehr selbstbewußt einen Halbton zu hoch singende Mädchen schmunzeln. Drei Lehrerinnen singen mit. We are sailing. Cross the sea.

Das Bemühen der Religionslehrer um Tiefe. Um Wahrhaftigkeit. Bilder vom Sauerteig und vom Samenkorn. Rückschau, Pläne. Bei den meisten hier im Innenhof die Sehnsucht nach dem Ende.

Religiöse Entertainer. Wo ist Gott?

Wir verlassen das Schulgelände. Ein paar Hände schütteln. Korsika, Griechenland, die Mongolei, Lignano warten. Neun Wochen keine zerhackten Stunden, dein eigener Atemrhytmus. Kein Klassenbuch, keine Fehlstunden. Vielleicht der Geruch von Thymian und Ginster. Der Klang von Zikaden im Schatten einer Zypresse. Alle Reiseprospektklischees zum Sonderpreis. Im September dann ein frisches Hemd suchen und das Schreibzeug. Und den Beginn der Eröffnungskonferenz erfragen. Mit ein bißchen Magenkribbeln.

Ende.

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