Edwin L.
In leichter Anlehnung und im Gedenken an Alfred Hitchcock

Ich war seit drei Stunden mit dem Zug nach Paris unterwegs, und machte mich bereit, mein Schlafwagenabteil zu betreten; da sah ich einen Schatten an mir vorbeihuschen. An und für sich bin ich kein ängstlicher Mensch, und so entschied ich, mich davon nicht beeindrucken zu lassen. Ich ging weiter, und fand bald meine Schlafstätte für diese Nacht. Da hörte ich ein Flüstern. Es kam aus nächster Nähe, und ich wurde hellhörig. Ich dachte an den Schatten, der mich keineswegs bedrängen konnte. Der flüsternde Schatten bekam Gestalt, und tauchte neben mir in Form eines farbigen Mannes auf. "Hören Sie, ich werde verfolgt", sagte er in makellosem Deutsch. "Ich bitte Sie, nehmen Sie mich mit in Ihr Abteil." Der Mann sprach langsam, aber sehr deutlich. Ich konnte den typischen afrikanischen Akzent feststellen. Aber warum sollte ich diesem Menschen helfen, der sich offensichtlich in einer Notsituation befand? "Ich werde Ihnen alles erklären", sagte er dann. "Glauben Sie mir; ich bin harmlos. Ich erkläre Ihnen alles." Mit meiner linken Hand deutete ich ihm, mir zu folgen, und ich schritt auf mein Abteil zu. Nach nur wenigen Schritten hatte ich es erreicht, und schlüpfte hinein. Der Mann folgte mir, und setzte sich neben mich auf das Bett. Ich sah ihn mir genau an. Er machte einen sehr ernsten Eindruck. Ich schätzte sein Alter auf etwa 30. Er hatte einen fast kahlgeschorenen Schädel, und sehr starke Oberarme, die bloßlagen. Auf seinem Schoß lag ein kleiner Koffer, den er fest umklammert hielt. "Sprechen Sie leise", sagte ich. "Es sollte uns niemand hören." "Ich verstehe." Der Mann versuchte sich bequemer auf das Bett zu setzen, was ihm jedoch nicht gelang. "Also", sagte er. "Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht verscheucht haben. Meine ganze Hoffnung habe ich auf Sie gesetzt. Ich habe Sie beobachtet. Hören Sie. Die Polizei ist hinter mir her. Sie werden diesen Zug durchsuchen.." Ich schaute auf die Uhr. Bis zur Grenze würde es noch einige Stunden dauern. Um uns herum war es totenstill, und wir sprachen beide sehr leise. "Was haben Sie verbrochen?", fragte ich ihn. "Das ist es eben, Mann. Gar nichts habe ich verbrochen. Sie glauben, daß ich ein großer Drogendealer bin. Aber das stimmt nicht. Ich trage nur zufällig den selben Namen. Eine Verwechslung. Dennoch bin ich davongelaufen. Ich will nicht ins Gefängnis. Meine Aufenthaltsgenehmigung läuft in vier Tagen ab, und ich weiß nicht, ob ich in Österreich bleiben kann." Der Mann machte einen sehr nervösen Eindruck. Ständig griff er sich mit der Hand an Nase, Ohr oder Mund. Er wirkte jedoch seriös. "Hören Sie; ich bin kein Dealer. Wirklich nicht. Mann, das können Sie mir glauben. Ich bin nur ein Student. Studiere Germanistik und Publizistik. Ich bin schon seit vier Jahren in Österreich. In zwei Jahren möchte ich mein Studium beenden. Ich hoffe, daß es mit der Verlängerung klappt. Glauben Sie mir, ich gebe mir größte Mühe, nicht aufzufallen. Aber die Polizei hat mich verwechselt. Mein Foto ist in der Zeitung. Ich mußte flüchten. Muß versuchen, den zu finden, für den sie mich halten. Verstehen Sie, Mann! Ich vertraue auf Sie. Verstecken Sie mich so, daß ich über die Grenze komme. Der Kerl ist in ganz Europa unterwegs. Ist jetzt angeblich in Paris. Dort möchte ich ihn aufspüren. Irgendwie. Wollen Sie mir helfen, Mann? Glauben Sie mir, Ihnen kann nichts passieren! Darauf können Sie sich verlassen." Ich war keineswegs verunsichert. Seit allzu langer Zeit war in meinem Leben nichts besonderes passiert. Selbst meine Urlaube waren stets von Harmlosigkeit gekennzeichnet gewesen. Der Mann machte einen glaubwürdigen Eindruck. Und wenn er recht hatte? Ganz so leicht stellte ich mir die Sache aber nicht vor. Er mußte mich schon davon überzeugen, daß er die Wahrheit sagte. "Hören Sie; ich weiß nicht, ob das stimmt, was Sie sagen. Haben Sie einen Studentenausweis oder so etwas in der Art?" Ich kramte aus meiner Reisetasche die Tageszeitung, und schaute mir die Titelseite an. Tatsächlich war der Kopf meines nunmehr Bekannten auf ihr abgebildet. Über dem Foto stand zu lesen: "Dieser Mann ist möglicherweise der Kopf eines Drogensyndikats." Ich starrte ihn an. "Wenigstens steht möglicherweise da", sagte er. "Aber glauben Sie mir, Mann. Die würden mich schon weichklopfen. Für die bin ich ein Nigger, der dafür sorgt, daß kleine Schulmädchen langsam sterben. Mann, das ist eine unglaubliche Verwechslung. Der Kerl sieht mir zum Verwechseln ähnlich. Ich bin´s nicht, das müssen Sie mir glauben. Oder wollen Sie´s nicht glauben?" Ich schüttelte den Kopf. "Zunächst einmal möchte ich Ihren Ausweis sehen, dann sehen wir weiter." Edwin L. war 28 Jahre alt; also genauso alt wie ich. Er war tatsächlich Student. Außerdem zeigte er mir ein Papier, das ihn als Dolmetscher ausweist. "Schon in der Schule habe ich Deutsch gelernt", sagte er. "Ich liebe diese Sprache. Es ist wirklich großartig, in Ihrem Land studieren zu können. Ich wollte meine Fähigkeiten erweitern. Und das Germanistik-Studium dazu benutzen, mit der deutschen Sprache auch literarisch umgehen zu lernen. In diesem Koffer befindet sich ein dickes Buch, das ich in den letzten zwei Jahren geschrieben habe. Also keine Drogen. Ich versuche zu beschreiben, wie es mir mit Ihrer Kultur geht. Und meinen Alltag darzustellen. Ich berichte von Freunden und Feinden. Davon, wie leicht es ist, auf die schiefe Bahn zu geraten. Und auch von Drogendealern und Zuhältern. Es ist ein Buch, das ich für wichtig halte. Mir geht es nicht darum, damit reich zu werden. Ich glaube, Mann; daß es das Bewußtsein der Menschen beeinflußen könnte - auf positive Weise. Verstehen Sie, Mann. Das Buch ist für mich wie Gold, und ich brauche Sie. Sie müssen mir helfen. Ich vertraue auf Sie." Es war mir neu, daß Menschen mir so vollkommen vertrauten. An und für sich bin ich nicht gesellig, und nur schwer für einen Spaß zu haben. Dieser Nigerianer, der sich seit vielen Jahren in Österreich aufhielt, machte mich jedoch nicht stutzig. Er wollte mich überzeugen, das war klar. Und seine Überzeugungsarbeit begann langsam in mir zu wirken. Er befand sich in einem Zug, wo er nicht sein dürfte. Und er sprach mit einem Menschen, mit dem er nicht sprechen sollte. Es wäre leicht für mich, ihn zu verraten. Er versuchte, mir nicht einfach nur gut zuzureden. Vielmehr war er bereit, mir seine ganze Existenz zu überantworten, um mein Vertrauen zu gewinnen. Irgendwie wirkte sein Auftreten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich wurde hellhörig. "Verstecken Sie sich im Waschraum, Edwin", flüsterte ich ihm leise zu. Er verschwand, und ich öffnete zwei Uniformierten. "Guten Abend, der Herr. Wir sind auf der Suche nach einem Schwarzen. Sie haben ja sicher die Zeitung gelesen. Es besteht der Verdacht, daß er sich in diesem Zug versteckthält. Ist Ihnen ein Neger begegnet, der so aussieht?" Er hielt das Foto des Gesuchten vor meine Nase. "Nein, ich kann Ihnen da leider nicht helfen", sagte ich, und schüttelte dazu mit Überzeugung den Kopf. "Aber ich hoffe, Sie finden ihn bald." "Das hoffen wir auch. Nun gut, dann also gute Nacht. Und halten Sie die Augen offen." "Nicht wenn ich schlafe, die Herren", sagte ich, und zwinkerte ihnen zu. Sie verabschiedeten sich, und teilten dann noch kurz mit, daß sie sich im Zug am Ende des Ganges aufhielten, wenn mir etwas auffallen sollte. "Ich werde schlafen wie ein Murmeltier", sagte ich und schloß die Tür. Edwin kam aus dem Waschraum, und gab mir die Hand. "Sie sind genau der Richtige. Ohne Sie wäre ich hilflos, Mann. Wenn wir mal in Paris sind, dann können Sie sich sicher sein, daß ich den Übeltäter finde. Sie brauchen mir nur Unterschlupf zu gewähren, das ist alles. Zu tief möchte ich Sie da nicht hineinziehen. Nach spätestens einer Woche hoffe ich, daß ich die Geschichte aufgelöst habe. Sind Sie bereit, mir weiterzuhelfen?" Ich nickte langsam mit dem Kopf. "Zeigen Sie mir mal das Manuskript. Dann sehen wir weiter." Er zeigte mir sehr freundschaftlich den Inhalt seines Koffers. Um dann, während ich den Roman durchblätterte, nach meinem Namen zu fragen. "Ich heiße Sebastian Semmler. Ein seltsamer Name, nicht wahr." Er winkte mit seiner rechten Hand ab. "So einen wie Sie gibt´s nur selten. Viele haben Angst vor dem schwarzen Mann." Ich sah ihm tief in die Augen. "Es herrscht eine gewisse Unsicherheit in den meisten Menschen. Sie wissen nicht, was sie mit euch Schwarzen anfangen sollen. Oft kategorisieren sie euch einfach als Die Schwarzen, als ob ihr kein Heimatland hättet." Edwin streckte seinen linken Daumen nach oben. "Ganz meine Worte, Mann. Sie sind genau der Typ, vor dem ich mich nicht fürchten muß. Vor ein paar Jahren haben mich so ein paar Rassisten ganz schön verprügelt. Ich habe geglaubt, die bringen mich um. Ein paar Wochen war ich im Spital mit Serienrippenbrüchen. Die Jungs waren keine zwei Tage im Gefängnis. Aber auf uns sind die Polizisten scharf. Zu viele von uns haben dafür gesorgt, daß sie wachsam sein müssen." Ich schaute auf die Uhr. "Wenn es Sie nicht stört, dann möchte ich jetzt ein Weilchen schlafen", sagte ich. "No problem." Edwin legte sich in das obere Bett, und teilte mir nach dem Zähneputzen mit, daß er wachsam sei. "Schlafen Sie ruhig." Es dauerte tatsächlich nicht lang, bis ich ins Reich der Träume fiel. Als ich aufwachte, graute bereits der Morgen. Ich sah meinen Gast nirgends im Abteil. Ob es nur ein seltsamer Traum gewesen war? Ein Schwarzer wird von der Polizei verfolgt, weil er verdächtigt wird, ein Drogensyndikat zu leiten. Und der Verdächtige schleicht sich bei mir ein; holt sich mein Vertrauen, und ersucht mich, daß ich ihn zunächst im Abteil, und danach in Paris verstecke, sodaß er Nachforschungen anstellen kann. Ich glaubte schon an diesen Traum, als er plötzlich ohne zu klopfen mit einer Kanne Orangensaft, und einigen Sandwiches in den Händen vor mir stand. "Mein Gott, wo waren Sie." "Ich habe mir das aus dem Speisewagen geholt. Das Personal hat offensichtlich geschlafen. Ist ja auch noch reichlich früh. Und ich hatte Hunger." Der Mann war kein Kind von Traurigkeit. "Wissen Sie", sagte er, während wir beide genüßlich aßen und tranken. "Es klingt komisch, aber ich gehöre wirklich nicht hierher. Es wundert mich tatsächlich, daß Sie mich nicht angeschwärzt haben. Und eines muß Ihnen doch klar sein. Ich könnte immerhin ein Märchen erzählt haben. Trotz des Romans und so weiter. Ich bin ein Schwarzer. Und die wenigsten trauen uns. Wir haben meist etwas auf dem Kerbholz. Das glauben sie zumindest. Aber so einfach ist es nicht. Verstehen Sie. Auch wenn wir kriminell geworden sind; die Abschiebungsmethoden gefallen mir nicht. Das erscheint mir alles zu brutal. Ich muß Ihnen eines sagen: Es gibt sogenannte Neger, die abgeschoben werden müssen. Das steht außer Frage. Aber diese Geschichte mit diesem Markus O. hat ja halb Europa hellhörig gemacht. So etwas stellt ein Land nicht unbedingt in die Auslage. Und die, die gegen diese Abschiebemethoden protestieren, gelten schnell als allzu großherzig, um es einmal harmlos auszudrücken. Das ist mir alles zu grotesk, das können Sie mir glauben. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Ich stehe auf der anderen Seite, und bin zu Unrecht in Verdacht geraten. Aber irgendwie fühle ich mich mitverantwortlich für derartige Angelegenheiten." In knapp zwei Stunden sollten wir in Paris sein. "Sie haben recht mit dem, was Sie sagen", erwiderte ich. "Die Furcht der Menschen ist hausgemacht. Die Medien sorgen dafür, daß gewisse Ängste geschürt werden. Und ich muß Ihnen eines gestehen: Eine multikulturelle Gesellschaft wünschen sich die Wenigsten. Das ist für viele Zeitgenossen nur ein Schlagwort, das sie den sogenannten "Gutmenschen" in den Mund legen. Als ob es ungewöhnlich wäre, verschiedene Kulturen zusammenzubringen. Das Problem ist ja wohl derzeit jenes, daß man sich gegenseitig aus dem Weg geht. Es gibt keine oder nur sehr geringfügige Verständigung. Und so ist nur allzu klar, daß keine Lösung in Sicht ist. Die Menschen müssten näher aneinander herankommen. Zusammenstehen, und miteinander reden. Die anderen Kulturen gelten als ebenso gesellschaftsuntauglich wie etwa die Behinderten. Es gibt keine Verständigung. Menschen werden ausgeschlossen. Eine multikulturelle Gesellschaft würde sich dadurch auszeichnen, daß niemand ausgeschlossen wird. Und noch eines muß ich Ihnen sagen, was mir selbst überhaupt nicht gut schmeckt; seit ich es vor kurzem in einer Zeitschrift gelesen habe, geht es mir jedoch nicht aus dem Kopf. Irgendein bekannter Mensch hat einmal gesagt: Nur arme Menschen gelten als asozial, oder haben Sie schon einmal davon gehört, daß reiche Menschen als asozial gelten? Das zielt doch haargenau in die gleiche kleine Lücke einer einseitigen Klassengesellschaft. Wer nicht arm ist, keine unmodernen Meinungen vertritt, und in eine harmlose, soziale Klasse leicht einordenbar ist, gilt als sozial. Das ist doch wohl Irrsinn, oder? Es gibt Menschen, die über Leichen gehen, und Geld machen bis zum geht nicht mehr. Diese Menschen sollen also sozial sein? Oder jene, die einfach kleine Beiträge leisten, um andere Menschen zu ruinieren? Asozial sind all jene, die am Rande der Gesellschaft stehen, und nicht mehr in der Lage, sich anzupassen. Und es besteht große Angst davor, daß diese Menschen sich erdreisten, in den Wohlstand der Einfärbigkeit einzudringen, und eine gemischte Klasse zu erzeugen. So wie Sie nicht in diesen Zug passen, passen tausende Menschen nicht in die Form von Gesellschaft, die als für den Menschen vertretbar gilt, der sie definiert. Es klingt vielleicht pathetisch, aber die Klassenfeindlichkeit ist doch für mich viel eher vom Rand zum Mittelpunkt als vom Mittelpunkt zum Rand nachvollziehbar! All diese gestrandeten Existenzen, die oft unverschuldet in die größten Miseren hineinstolpern. Ihnen sollte unsere Solidarität gehören, aber sie sind stattdessen als Feindbilder hervorragend zu gebrauchen... Ich bin allzuhäufig erbost über die einseitigen Vorstellungen vieler Menschen, weiß aber auch, daß es Menschen gibt, denen es genauso geht wie mir. Die multikulturelle Gesellschaft kann keine Illusion sein. Es wird immer Unstimmigkeiten geben; egal in welcher Gesellschaft, weil es unterschiedliche Bedürfnisse und Vorstellungen von idealer Lebensqualität gibt. Aber eines darf nicht sein: Daß immer die als Bedrohung gelten, die das Gegenteil von dem repräsentieren, was als gesellschaftskonform gilt. Mit den Armen solidarisch zu sein sollte eine Menschenpflicht sein, dann ändert sich schnell die ganze Situation..."

Mein schwarzer Freund hatte mir die ganze Zeit mit ernster Miene zugehört. Manchmal nickte er mit dem Kopf oder machte ein betroffenes Gesicht. Ich versuchte, mich in seine Haut hineinzuversetzen. Er war einer jener Existenzen, denen schwer Vertrauen entgegengesetzt wird. Mit seiner Hautfarbe assoziieren viele Menschen bestimmte Eigenschaften, die nicht als positiv gelten. Die felsenfeste Überzeugung, daß er und seine "Rasse" selbst schuld daran seien, daß es ihnen in ihren Heimatländern so schlecht ginge, ist ein weiteres Vorurteil. Es ist schwer zu stürzen. In die Köpfe hat es sich sehr stark eingebohrt. Und Edwin kann nur entgegensetzen, daß er ein friedfertiger, liebenswerter, intelligenter Mensch ist, der den Menschen nichts Böses will, und dem es einzig und allein wichtig ist, eine gewisse Solidarität zu erfahren, die ihm noch abgeht. So wie ihm geht es vielen Menschen. Sie wissen nicht, wo sie sich zu Hause fühlen sollen. Oft sind sie verzweifelt, und glauben keinen Ausweg zu kennen. Aber es waren immer schon die Menschen am Rand, die es schwer hatten, und denen Hilfe angeboten werden mußte. Und so wird es wohl auch bleiben, weil es das Paradies auf Erden wohl nie geben wird. Diese Menschen brauchen jedoch Unterstützung in Form von Solidarität. Edwin saß mit einem sicherlich sehr interessanten Buch auf dem Schoß in meinem Schlafwagen, und rieb sich die Augen. Er sah mich immer wieder an, und wunderte sich womöglich, nicht verstoßen zu werden. Denn es wäre nach wie vor ein leichtes gewesen, ihn der Polizei auszuliefern. Und wer weiß, wie es dann mit ihm weitergehen mochte... Das wollte ich verhindern. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß dieser Mensch alles in sich vereinigte, was als gutartig bezeichnet werden kann. Ich hatte auch bemerkt, daß eine Bibel in seinem Köfferchen verstaut war. Wir sprachen in den Stunden vor der Ankunft in Paris, wo niemand mehr an die Tür klopfte, um uns aufzuscheuchen, von allerlei verschiedenen Dingen, und überlegten uns bereits eine Strategie, wie er gefahrlos aussteigen könnte, um dann in Paris unterzutauchen. Ich fragte ihn unter anderem, wie er denn glaube, den Übeltäter zu finden, für den er gehalten werde. Er erzählte davon, daß es leicht wäre, gewisse Umschlagplätze ausfindig zu machen, und somit an einige der Bosse heranzukommen. Das Problem wäre nur, wie hoch er in der Rangordnung käme. Der Gesuchte glaubte ja auch, er wäre in Sicherheit, weil er nichts mit ihm, Edwin L gemeinsam habe. Er könne also so weitermachen wie bisher. Unzählige Gedanken vermittelte mir der Mann mit dem Koffer, in dem sich eine eigene Welt befand.

Wir saßen in meinem kleinen Hotelzimmer in Paris, und tranken jeweils ein Glas Rotwein. Es war nicht schwer gewesen, ihn aus den Zug herauszuschmuggeln. Wir waren durch allerlei Kniffe in den Besitz einer Gepäckträgeruniform geraten, und in einem unbemerkten Augenblick schwang Edwin sich aus dem Zug, und trug auch schon meine beiden Koffer. Das fiel überhaupt nicht auf, da sich mehrere Schwarze als Gepäckträger ihr Brot verdienen. Auf dem Klo zog er sich dann wieder um, und wir konnten gefahrlos zum Hotel gehen. Natürlich glaubten wir, an allerlei Ecken und Enden Polizisten zu sehen, die uns verfolgten, um uns dann durch die Mangel zu drehen. Aber nichts dergleichen passierte. "Ich werde heute Abend mein Glück versuchen", sagte mein neuer Freund, und machte dabei ein etwas nervöses Gesicht. "Ich hoffe, daß etwas weitergeht." "Daß Du auch wieder zurückkommst", versuchte ich ihn aufzumuntern. Vor wenigen Stunden hatten wir automatisch begonnen, uns zu duzen. "Wird schon schiefgehen", sagte er. An diesem Abend saß ich eine Zeit lang an der Hotelbar, und trank ein bißchen über den Durst. Somit fiel mir bis zum nächsten Morgen nicht auf, daß Edwin noch nicht zurück war. Da ich mir die Zeit vertreiben wollte, verbrachte ich die späten Morgen, Mittags- und Nachmittagsstunden im Louvre. Erst gegen siebzehn Uhr kam ich ins Hotel zurück. Edwin hatte beim Portier eine Nachricht für mich deponiert. "Bin auf einer heißen Spur. Nur Geduld. Keine Sorge." Den Abend verbrachte ich wie den vorhergehenden. Meine Nervösität war mir anzumerken, worauf mich der Barkeeper auch ansprach. Ich wehrte jedoch ab, und redete mich darauf aus, daß mich Frau und Kinder verlassen hätten, die ich an und für sich gar nicht habe. Am nächsten Tag schlenderte ich durch die Stadt, und sah mir Paris von oben an. Ich aß sehr gut zu Mittag, und entschied, mir abends ein Fußballspiel anzusehen, da ich mich nicht schon wieder vollaufen lassen wollte. Als ich in mein Zimmer zurückkam, war Edwin da, und winkte mir zu. "Wo warst du so lang?", fragte ich ihn. "Ganz ruhig, Kumpel. Es geht mir gut, und ich sage Dir ja, Du hast mir das Leben gerettet. Ich habe vor wenigen Stunden einen Kleindealer verpfiffen, von dem ich glaube, daß er unmittelbar mit dem Syndikatchef in Verbindung steht. Wir werden sehen, was die Polizeibeamten sagen, wenn sie kommen." Ich staunte mit offenem Mund. "Du hast ihnen alles gesagt. Ich glaube es nicht! Wenn Du Dir daran nur nicht die Finger verbrennst." "Ich sage Dir ja, bleib´ ruhig, Kumpel. Es ist alles in Ordnung. Ich bin mir sicher, daß ich etwas ins Rollen gebracht habe. Sie kennen mich. Und ich habe ihnen meine Adresse hier bekanntgegeben. Das Hotel wird überwacht. Ich kann also gar nicht fliehen, wenn ich wollte. Sie werden alles abklären. Und wenn ich Glück habe, ist alles schneller in Ordnung, als Du einen Blick auf die Uhr werfen kannst." Ich war verdutzt. An diesem Abend war ich Gott sei Dank nur leicht betrunken, was von der Pause des Fußballspiels herrührte. Ansonsten ging es mir ganz gut. Ich war bereit zu neuen Taten, und konnte es gar nicht erwarten, daß die Polizei an die Tür klopfen sollte. Allerdings würde das noch eine Weile dauern. Ich schlief bereits fest, als mich ein Trommelwirbel aus dem Bett scheuchte. Edwin hatte bereits die Tür geöffnet, und sprach mit drei Polizeibeamten. Ich ging schlaftrunken auf die vier zu, und schüttelte den Polizisten die Hand. "Sie können Ihrem Freund gratulieren", sagte ein Polizist die englische Sprache anwendend. "Er hat einem dicken Drogenboß das Handwerk gelegt." Ich versuchte, eine gute Miene zu machen. "Das habe ich auch gehofft", sagte ich. Irgendwie war mir das alles zu glatt verlaufen. Ein Mann auf der Flucht gelangt mit meiner Hilfe nach Paris, und schafft es dort, unbemerkt Nachforschungen anzustellen, die einen Drogenboß für viele Jahre ins Gefängnis bringen. Hat zweifelsfrei einen irrealen Tatsch. Aber Edwin hatte dieses Durchsetzungsvermögen, das ihn zu höheren Aufgaben bestimmte. Ich kann mir wohl auch sicher sein, daß sein Buch Erfolg haben wird. Schließlich ist er ehrgeizig. Und dann denke ich daran zurück, was ich ihm so erzählt habe von multikultureller Gesellschaft, gemischter Klasse usw.
Und was er so gesagt hat. Ich glaube, er fühlt sich wohl in seiner Haut, seit er dazu beigetragen hat, diesen Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu bringen. Er kann gut schlafen, weil er weiß, daß er etwas Gutes getan hat. Aus irgendeinem Grund ist er einer Verwechslung zum Opfer gefallen, und hat daraus für sich das bestmögliche Kapital geschaffen. Er konnte fertigstudieren, und arbeitet mittlerweile in Österreich als Dolmetscher, und hält Vorträge in diversen Volkshochschulen. Er ist das, was man gemeinhin einen Neger nennt, und doch kümmert ihn das kaum. Sein Weg ist von vielen Steinen geräumt; einzig und allein die Intoleranz gewisser Menschen macht ihm nach wie vor zu schaffen. Denn wer weiß schon, was für einen Beitrag zur Verbrechensbekämpfung er geleistet hat? In einem Interview mit einem Nigerianer in Österreich habe ich vor kurzem gelesen, daß dieser keinen Moment zögern würde, um einen Afrikaner anzuzeigen, wenn er wüßte, daß dieser mit Drogen deale, und somit viele labile, unschuldige, meist sehr junge Menschen in den Ruin triebe... Und das sollten wir alle bedenken. Es gibt diese und jene Menschen. Und wir sollten mindestens zweimal hinschauen, bevor wir uns getrauen, ein Urteil über Menschen abzugeben, die scheinbar nicht Teil unserer Kultur sind. Es gibt viele gemischte Klassen in der heutigen Zeit. Und es kann kein Fehler sein, die Entwicklungen nicht ängstlich und zornig, sondern überlegt, und in aller Ruhe zu beobachten. Ansonsten könnte es sein, daß irgendwann ein Klassenkampf eskaliert, und daraus schwere Unruhen entstehen, die auf keinen Fall wünschenswert sind. Wir sollten daran arbeiten, eine derartige Möglichkeit auszuschließen.

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