Die Orangen mit dem Eis drin

Helle, blitzende Gedanken in meinem Kopf, mit Farben aus einer anderen Welt, und dann stellt sich meistens dieses Gefühl der absoluten Geborgenheit ein. Gedanken als überbelichtete Fotos, und es sind Aufnahmen wie Fotos, statisch, viel Bewegung ist da nicht, und wenn, nur für wenige Sekunden. Dann: Filmriss. Dunkelheit.
Überbelichtet scheinen sie alle, doch es sind schwarzweiße dabei und sonnendurchflutete, bunte. Da sind zum Beispiel die Schritte, die ich den schmalen, mit Laub bedeckten Gartenweg entlang rannte, und dann feststellte: "Ich stürze." Den Boden auf mich zukommen sah, und in dem Moment schon brüllte, als ich mir die Walnussschale in mein rechtes Knie haute. Ich war verletzt. So schwer verletzt, wie man sich als Kind nur fühlen kann. Ich wollte nie wieder baden, die Schmerz- und Schreck-Tränen hatten so bitter geschmeckt. Das dicke Pflaster sollte auch nie wieder herunter; ich wusste, ich würde die Schmerzen nicht aushalten, wenn es mein Vater schräg zur Seite wegreißen würde. Mein Vater, der uns immer Ohrenpflaster bastelte, wenn wir uns in den Finger schnitten; Ohrenpflaster, auf die er lustige Gesichter malte. Nur mein Vater und kein anderer Papa auf dieser Welt war in der Lage, ein Ohrenpflaster zu basteln. Darin war ich mir sicher.
Aber auf dem Knie ging das nicht. Kein Trost mit lustigen Augen und einem roten Grinsen. Rot allerdings war das Stühlchen, auf dem ich in der Badewanne thronte, meine Schwester verständnislos gegenüber, einen halben Meter tiefer. Lediglich meine Waden durften ins Wasser. Wasser auf meinem Knie bedeutete das sichere Aus durch Schmerzen. Mit dem Schwamm ließ ich Bäche um die Wunde herum über meine Haut sickern. Mir war kalt da oben.
Irgendwann musste jedes Pflaster abgenommen werden. Aber das tat ich dann am liebsten selbst. Als der braune Streifen schon an den Rändern hässlich fusselte. Doch das nahm ich gerne in Kauf, fummelte im Unterricht stundenlang daran herum, zog es Millimeter für Millimeter ab. Im Sommer war der Abdruck weiß zu sehen. Ich war gezeichnet.
Es war immer gut, wenn es etwas gab, mit dem ich mich beschäftigen konnte in der Schule. Von meiner Grundschulzeit gibt es kaum Erinnerungen in diesem sonnigen Licht. Nein. Sie sind eher grau und unheimlich. Erbärmlich manchmal. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Schulhof stand. Meine Haare waren durcheinander, ich wusste das. Standen in alle Richtungen, und ich dachte mir: Wie kann nur irgendjemand auf dieser Welt mich mögen - wo ich doch so hässlich aussehe. Ich überlegte mir das lange und ausführlich und schämte mich fast. Ich war kein Mädchen mit schönen langen Zöpfen und einem hübschen Kleidchen. Ich wäre es gerne gewesen. Niedlich eben. Welliges, blondes Haar. Ich stellte mir vor, so auszusehen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass die Welt besser zu mir sei, wenn ich so aussehen würde wie dieses Mädchen. Manchmal ging ich so in meiner Fantasie-Rolle auf, dass ich mich fast schon so bewegte wie das niedliche Mädchen, das in meinem Kopf rumgeisterte. Aber dann spürte ich wieder, dass meine Haare abstanden.
Im Schulhofzaun war ein Loch, durch das ich einige Male abgehauen bin. Wenn ich daran denke, habe ich das Gefühl, es war immer dunkel während der Schulzeit. Ich haute nicht sofort ab. Ich blieb nach der Pause sitzen, manchmal einfach so, mit teilnahmslosem Blick, manchmal weinte ich vor mich hin. Ein bisschen. So, dass die Leute schauten, aber meistens weiterliefen. Einmal kamen zwei Polizisten vorbei. Sie guckten nicht mal zu mir her. Ich dachte mir, dass die doch für Recht und Ordnung sorgen und begreifen müssen, dass ich was Unrechtes tun will. Taten sie nicht. Auch sie gingen weiter. Dann, schwups, schlängelte ich mich durch das Loch im Zaun. Die paar Schritte nach Hause? Filmriss.
Meine Mutter war verzweifelt. Ich kam einfach zu oft wieder nach Hause, stur und traurig. Meine Mama begriff das nicht. Aber mir gefiel es eben nicht immer in der Schule. Vor allem gefiel mir der Feueralarm nicht. Ich konnte nicht verstehen, warum man uns gezielt Angst einjagte, wenn doch nichts ist. Vor allem uns Viertklässlern, die vier hohe Treppen zu bewältigen hatten. Ich wollte nicht mehr in die Schule deshalb. Die Sirene war laut, wie Bomberalarm. Und sie konnte jederzeit losgehen. Wenn die Angst zu groß wurde, haute ich eben ab.
Dann aber bekam ich das Privileg. Einen Tipp von meinem Lehrer, damit ich rechtzeitig verschwinden konnte vorm Feueralarm. Abhauen erlaubt.
Manchmal riss ihm der Geduldsfaden. Ich hatte mir meinen Schnakenstich am Bein aufgekratzt. Er blutete, kleine dunkelrote Tröpfchen. Ich wollte zeigen, dass ich tapfer bin, dass ich nicht mal mit der Wimper zucke. Ich nahm ein Taschentuch und tupfte demonstrativ gelassen das Blut ab. Immer und immer wieder. Bis das Schreien vom meinem Lehrer mich hochschrecken ließ. "Das schließt sich so doch nie!!" fuhr er mich an. Mir schoss die Schamröte ins Gesicht. Er hatte mich durchschaut. Es hatte ihn wahnsinnig gemacht, wie ich die Stelle stur mit dem Taschentuchzipfel bearbeitete. Es musste ihn einfach wahnsinnig machen. So wie es mich jetzt auch wahnsinnig machen würde. Für so etwas bekommt man keinen Respekt.
Zu Hause war Sicherheit und Wärme. Helle, sonnige Momente. Wie dieses weiße Eis, das wir in unserem Garten aus Plastikorangen löffelten. Papa brachte sie uns manchmal mit, für jeden eine. Wie Ferien. Wir saßen auf dem Rasen, meine Mama, meine Schwester, Papa und ich und löffelten. Ich kam mir erwachsen vor. Ich durfte Eis aus Orangenschalen löffeln. Das hatte was. Genauso wie Pizzarand essen. Kürste hieß das bei uns. Pizzakürste - das gabs dann, wenn Mama und Papa sich was gönnten. Sie saßen unten im Wohnzimmer, alleine, wahrscheinlich ungeheuer froh darum, aber sie verpackten es uns so, dass wir es als eine Feier begriffen. Für meine Schwester und mich Zeit, uns aus unserem Schrank die exklusivsten Schlafanzüge zu holen und uns wie feine Damen zu benehmen. Es war für uns eine Ritual und eine Delikatesse, uns den Kürsten-Teller zu holen und den duftenden Rand auf dem Bett zu verspeisen. Das war etwas Erhabenes für uns. So spät abends.
Ich weiß nicht, wann diese gleißenden Momente, ob warm oder schattig, für meine Erinnerung aufhören. Irgendwann brechen sie ab, mit zunehmendem Merkvermögen. Doch das Faszinierende ist, dass ich jetzt zwar ganze Geschehensabläufe schildern kann, mich daran, was gesprochen wurde, wie das Wetter war, was genau davor und was danach passierte, erinnere, aber die Gefühle doch ausbleiben. Ich kann mich erinnern, wie ich mich fühlte, aber ich spüre diese Gefühle nicht. Wenn ich allerdings das Loch im Zaun sehe, überkommt mich wieder die Beklemmung, der Widerstand und die Angst. Wenn ich an die Orangen denke, weiß ich mehr denn je, dass ich es gut hatte.

Bettina Belitz
12. Oktober 2000