Alban Nikolai Herbst

Ich klage uns an!
Ein Plädoyer gegen den Krieg als Selbstjustiz

Der Krieg ist wieder möglich geworden, ist nicht nur denkbar, sondern neuerdings aktives Handlungsmodul auch Deutschlands. Als solches scheint er international alles moralische Recht auf seiner Seite zu haben. Pazifismus wird nun zum Schimpfwort, und zwar im Vollzug derselben Dynamik, die einen das Wort "Kapitalismus" nicht mehr aussprechen läßt, ohne daß, wer es dennoch wagt, abfällig oder doch wenigstens als einer betrachtet wird, der nicht mehr so ganz von dieser Zeit und Verstand ist. Als vernünftig und auf der Höhe eines neuen moralischen Zeitgeists gelten nunmehr jene, die sich dem weltpolitischen Sieg der freien Marktwirtschaft gleichermaßen froh wie geradezu im voraus befriedigt in die Arme und dabei unversehens viel von dem aus dem Fenster werfen, was der Begriff von Rechtsstaatlichkeit impliziert hat: daß etwa Beweise eine Bringschuld sind und jedes Menschenrecht auch auf die angewandt werden muß, die es mißachten. Dabei hätte solch ein moralischer Imperativ selbstverständlich auch und gerade im globalisierten Umgang der Völker untereinander zu gelten. Er ist die Grundbedingung jeder Zivilisation, will man nicht, etwa wie im antiken Rom, Bürgerrechte von Sklavenrechten scheiden, also in der einen und/oder anderen Weise den Untermenschen restituieren, nämlich auch und dann nicht, wenn dieser "Untermensch" es tut. Es geht deshalb nicht an - es ist Unrecht -, von bin Laden als von einem Schuldigen zu sprechen, solange er des Terroraktes nicht überführt, das heißt, solange nicht die ihn belastenden Indizien im Rahmen eines Prozesses zu Beweisen und einem Schuldspruch öffentlich und einsehbar gebündelt worden sind. Wer anders handelt, wie gegenwärtig die NATO und ihre Verbündeten - also auch wir -, verübt illegitime Selbstjustiz und schlägt dem Prinzip des Rechtsstaats wie irgend ein lynchsinniger Bürgerwehrer den Kopf ab, zumal dann, wenn in einer derartigen Aggression Krieg auch gegen Menschen geführt wird, die unter denen, die den Terrorakt verübten oder die Täter schützen, gelitten haben wie die beklagten Opfer des Anschlages selbst.

Weiterhin: Sehr oft war in den letzten Wochen zu hören, man dürfe die 500000 irakischen Kinder, die infolge des Embargos gegen den Irak als "notwendiges Opfer" (Allbright) verhungerten, nicht gegen die 7000 Toten des WTC aufrechnen; Tote ließen sich nicht gegeneinander verrechnen. Das stimmt. Doch der Krieg in Afghanistan tut seinerseits genau dies, und zwar praktisch: Es wird unter Müttern, Säuglingen, Kindern, Vätern - seien es Bauern, seien es Hirten - ein Schlachtfest gehalten, um eines Einzigen, des Bösen sozusagen schlechthin, habhaft zu werden, der für den Terrorakt vorgeblich verantwortlich ist. Dies ist nicht nur genau der dichotome Gegenschlag, geradezu ein monotheistischer Reflex, von Auserwählten, sondern rechnet weiß Gott (hie Christusjehova, dort Allah) das Leben Tausender niedriger als das des Einen. "Lieber wir kriegen ihn tot als lebendig", sagt Rumford. Ein solches Denken und jede daraus erwachsende und weiter erwachsene Aktivität - wir nennen sie "Krieg" - mißachtet genau das Gebot, welches zu verteidigen die westlichen Militärs angeblich ausgerückt sind. Dieselbe christliche unbarmherzige Monstrosität, die bereits die Blutbäder der Kreuzzüge inspirierte, welche bis heute als psychologische Ursachen und Rechtfertigungen des islamischen Fundamentalismus letztlich gelten müssen, leitet abermals massiv eine Massenvernichtung ein und läßt obendrein die vorgeblichen Weltpolizisten Verbündete in Kräften suchen, die nicht minder verdächtig sind als der Beschuldigte selbst: mit Putin, dem Völkermörder von Tschetschenien, und einer beruhigend als "Nordallianz" bezeichneten Mörderbande, die nicht weniger als die Al-Quaida für brutalste Intoleranz steht. In solchen Taktiken waren die USA freilich niemals zimperlich. Es hat Tradition, daß sie, sofern es ihrer Außenpolitik opportun scheint, auch Serienkiller hoch dotieren. Man wird sie eines Tages der Anstiftung zum Massenmord beschuldigen müssen, wenn denn ein Völkergericht endlich gegründet sein wird, gegen dessen Bildung die USA so heftig und entschieden opponieren. Man wird sie der Anstiftung zum Massenmord vom 11. September anklagen müssen. Vielleicht möchten sie Osama bin Laden deshalb lieber tot als lebendig sehen. Ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren gegen ihn riefe Hunderte Nebenkläger auf den Plan, die sehr wahrscheinlich völlig zu Recht den Kläger beklagten.

Unchristlichst beantworten sie deshalb Mord mit mehr Mord, und wir Deutschen, die allen historischen Grund hätten, uns bei dergleichen zurückzuhalten, machen ziemlich munter mit. Und nehmen die "Opfer", die zu bringen sind, in Form militärischer Wiederselbstgewißheit klaglos hin. Wer aber sind diese notwendigen Opfer? Säuglinge, denen es die Beinchen zerfetzt. Frauen, deren Brüste Granaten zerreißen. Sowas haben Männer sowieso immer gerne getan. Man denke an My Lai. Vermittels Metallsplitter kastrierte Bauern. Jungs und Mädels, aus deren Bäuche Därme quellen. Wer sowieso nichts zu kauen hat, kann unsretwegen auch krepieren. Die angeblich zu bringenden Opfer sind immer verblutende Arme. Wie vieler solcher Greueltaten bedarf es denn, um den 7000 Toten Genüge zu tun? Wer also rechnet auf? Und noch einmal: aufgrund der Veranlassung welcher rechtsstaatlichen Instanz?

Die einzige Form, das nicht legitimierbare Grauen auch nur aufs Gelindeste zu legitimieren, wäre tatsächlich in einem Völkergerichtshof zu installieren, dessen Rechtsprechung sich im besonderen der Geschädigte zu unterstellen hätte. Eben dies verweigern die USA aber seit je und nehmen für sich in außenpolitischen Anspruch, jede globale Gewaltenteilung ignorieren zu dürfen. In einem normalen, innenpolitischen, Verfahren würden dem Selbstjustizler auch in Amerika Anklage, Schuldspruch und lebenslange Gefängnisstrafe drohen, in einigen Staaten sogar der elektrische Stuhl. Und auch, wer dem Selbstjustizler beisprang, machte sich der Hilfeleistung zu Totschlag oder Mord schuldig, auch und erst recht dann, wenn ihm eine Bürgerwehr wie die NATO assistierte. Die ist schließlich Interessenbündnis und keineswegs von neutraler Richtkraft. Eine solche wäre heutzutage - Gewaltenteilung unterstellt - ja nicht einmal durch die UNO legitimiert.

Insofern ist der Kriegseinsatz in Afghanistan ein Menschenrechtsverbrechen. Das wird auch ganz offen mit den markigsten und gerade uns Deutschen gut bekannten Vokabeln indizienartig markiert: Päsident Bush hat schon recht, wenn er von "ausräuchern" spricht. Es ist erschreckend, wie wenig sensibel wir und unsere Regierung auf eine solche Übermenschenterminologie reagieren. Hat es derenhalber auch nur einen einzigen staatlichen Protest gegeben? Nein. Genau so wenig, wie wir uns für die Opfer von Nicaragua, Somalia oder der Operation Wüstensturm zu zwangsweise verordneten Schweigeminuten erhoben haben, wie uns das für die 7000 Toten des WTC permanent abverlangt wurde. Wir richten selber mit zweierlei Maß. Und rechnen weiter die Toten auf.

Aber es ist noch schlimmer. Indem wir nämlich, um "des Bösen" habhaft zu werden, mit anderen, uns genehmeren Mördern paktieren, wird der Terrorakt vom 11. September rückwirkend legitimiert: Er trägt seine Motive nun nicht mehr nur noch darin, daß die USA den islamischen Fundamentalismus bewaffneten, wenn sie ihn nicht sogar überhaupt erst gezüchtet haben, sondern plötzlich auch in den Folgen. Dadurch kann der Zusammenbruch der World-Trade-Türme sowie eines Teiles des Pentagons nicht länger der vorgebliche Angriff auf unsere innersten Werte bleiben, als den man das schreckliche Geschehen unbedingt sehen will, obwohl sie hoffentlich nicht nur in Handel (WTC) und Militär (Pentagon) fokussieren, sondern wird zum Symbol des Zusammenbruchs einer Macht, die durch Jahrzehnte so selbstherrlich wie brutal unter Absehung von jeder zivilisierten Menschenrechtsnorm Politik betrieben hat. Deshalb gibt, wer diesen Krieg will, im Nachhinein Osama bin Laden recht.

Der Militarist, nicht etwa der Pazifist, verhöhnt die Opfer. Auch die des 11. Septembers. Denn er setzt das "Naturrecht" des Stärkeren an die Stelle der Zivilisation und trampelt die Kultur seinerseits nieder, die angeblich von dem Terrorakt attackiert worden ist. Wer dieser "Stärkere" letztendlich ist, ist durchaus nicht heraus. Ich möchte das lieber auch gar nicht wissen. Doch wenn wir die Menschenrechtsstaatlichkeit weiterhin derart mit Füßen treten und dem Natur"recht" die alten, längst überwunden geglaubten moralischen Territorien zurückerstatten, die fruchtbar zu machen so überaus mühsam war, können wir es weder den Terroristen noch irgendwelchen unterdrückten oder an Vormacht interessierten Nationen und Einzelnen verübeln, wenn sie auf ihre Weise kämpfen. Ein Naturrecht stellt alle Mittel anheim, die die Natur direkt oder indirekt zur Verfügung hat. Das Recht des Stärkeren hat keinen moralischen Grund, vor dem Einsatz biologischer oder atomarer Waffen zurückzuschrecken, denn es ist immer der Stärkere, der die Stärke im Nachhinein definiert. David war stärker als Goliath. Hätte er auf sein Instrument verzichten, hätte er gegen den Riesen zum puren Faustkampf antreten sollen? Er wäre ebenso unterlegen, wie wenn die afghanischen oder irakischen Völker sich der massiven Militärmacht bloß mit militärischen Waffen stellten. Wer so etwas tut, ist schlichtweg dumm. Auf Kamelen gegen Panzer vorzurücken, ist so lächerlich, daß man es nicht einmal ehrenhaft nennen kann. Militärstrategisch betrachtet bleibt den von uns aus betrachtet Bösen - von ihnen aus betrachtet, sind wir die Teufel; aus dieser Zwickmühle kommt nicht heraus, wer dichotom denkt; wer dies aber nicht tut, kann schon deshalb diesen Krieg nicht führen - gar nichts anderes übrig, als sich der Mittel des Terrorismus zu bedienen. Je "siegreicher" der Gegner, desto notwendiger wird es werden, auf dem Terrain des "Siegers" den Guerillakrieg zu situieren.

Die Vorbereitungen dafür dürften längst abgeschlossen sein. Die Attacke auf das WTC war nur der sichtbare Startschuß. Es gab in den letzten Jahrzehnten nichts von einer ähnlichen Sichtbarkeit. Was es so schmerzhaft macht, die Greueltat zu begreifen, ist das moralisch-militärische Kunststück, daß sie sowohl symbolisch wie furchtbar konkret ist: eine praktisch gewordene Allegorie. Deshalb tun wir uns so schwer, angemessen zu reagieren. Deshalb lassen wir uns von dem Gegner auf sein eigenes Niveau der Auseinandersetzung zwingen. Deshalb geben wir selber noch das, was wir dagegenzuhalten hätten, nämlich die Freiheit der Gesinnung, der Rede und des unüberwachten Individuums, ganz freiwillig hin. Indem wir diesen Krieg führen, führen wir ihn letztlich gegen uns selbst. Wenn jemand unsere innersten Werte angegriffen hat, dann ist das eben nicht bin Laden gewesen, sondern er hat uns verführt, das nun selber zu tun. Dennoch glauben wir schon, bereits unseren Sieg feiern zu können.

Doch dieser Krieg hat gerade erst begonnen. Er wird weder nach unseren Regeln noch nach unserem Zeitbegriff geführt. Wenn wir heute Afghanistan "befrieden", kann die Antwort darauf sehr wohl erst in zehn oder fünfzig Jahren uns plötzlich aus jeder Sicherheit werfen. Orientalen denken nicht von heute auf jetzt. Es ist nicht unmöglich, daß das Attentat vom 11. September die direkte Antwort auf die von uns selbst als militärtechnologisches Kunststück gefeierte, "Operation Wüstensturm" genannte militärische Intervention am Golf war. Jedem Strategen muß klar sein, wer hier das bessere "Kunstwerk" schuf. (Ich verwende hier keine Stockhausen-Terminologie, sondern die Sprache der "Sieger" des Golfkriegs.) Allein in Deutschland wurden fünf islamisch-terroristische Fundamentalisten enttarnt; die Wahrscheinlichkeit, daß es deren Hunderte gibt, ist hoch. Rechnen wir die Länder des anderen Europas hinzu, wird man leicht auf eintausend Gotteskrieger kommen. Die könnten auch ohne sonderliche finanzielle Mittel unsere Straßen und Gebäude wenn nicht gänzlich in Schutt und Asche legen - auch das ist nicht ausgeschlossen -, so doch mit fortschreitendem Schrecken pflastern. Wer um Herrn bin Laden willen in dessen Ausland Zivilisten opfert, muß davon ausgehen, daß der Gegner dasselbe in unserem Inland tut. Deshalb werden die "Opfer" der Terroristen mit dem gleichen Recht auch hierzulande Bürger sein, die in keiner oder nur sehr indirekter Weise - etwa indem sie den Krieg wollten - an dem Konflikt beteiligt waren. Wer alte Leute niederbombardiert, darf sich nicht wundern, wenn seine Kindergärten brennen. Jeder moralische Aufschrei wäre geheuchelt.

Der neue Krieg, den ich kommen sehe und über dessen Charakter sich niemand, der für ihn ist, klar zu sein scheint, wird nicht nur material geführt werden, sondern ganz besonders internalisiert. Er wird das Rechtssystem zerfressen, das er doch verteidigen will: Wir werden in einem permanenten Ausnahmezustand, in permanenter Notstandsgesetzgebung leben, die alles, was wir an demokratischen Rechten erreicht haben (und das sind immer die Rechte der Einzelnen), mit eigener Hand wird demontieren müssen. Otto Schilys sogenanntes Sicherheitspaket ist, aus der Logik eines uns drohenden Guerrillakrieges gedacht, bereits in der "harten" Version absolut notwendig; für Demokratie und Menschenrecht bedeutet sie das Aus. Das sei nicht bereits ein fundamentalistischer zumindest Etappen-Sieg? Im Kern zwölf Terroristen haben während der RAF-Zeit bewiesen, wie ein ganzes Land zivilisatorisch zurückgeworfen werden kann; eintausend Sunniten, obendrein zum Freitod bereit, sind ein völlig andres Kaliber: Während es Baader-Meinhoff bei aller Fragwürdigkeit der Mittel immer noch um das Menschenrecht ging, hat die Scheria dergleichen keineswegs auf ihre Fahnen geschrieben. Deshalb läßt jeder Verlust persönlicher Freiheit den monotheistischen Fundamentalisten in unsere Innenwelten einrücken. Um die Schläfer erfolgreich enttarnen zu können, muß eine umfassende Überwachung der Bürger einsetzen, der transparente Mensch muß geschaffen werden. Obendrein können wir "den Feind" nicht ethnisch "erkennen". Nicht nur, daß es sehr wohl Moslems gibt, die an der Religionsfreiheit hängen - einst war der Islam für eine Toleranz berühmt, die das Christentum nie kannte -, vielmehr wird er seine Söldner auch unter Weißen finden, seien es nun Rechtsradikale, die ebenso moralisch wahllos vorübergehende Allianzen eingehen werden, wie die NATO das in Afghanistan tat und tut, seien es Leute, die sich einfach nur bereichern wollen. Wer den Krieg also will, muß auf für allgemeine Überwachung und ständige Dominierung des Individuums durch sicherheitspolizeiliche Maßnahmen sein, muß den Schießbefehl auf Verdacht begrüßen, muß Standrechtsverfahren wollen, Verhaftungen ohne Haftbefehl, ja letzten Endes, um seiner eigenen Sicherheit willen, eine schlagkräftige, mit notstandsgesetzgeberischen Befugnissen ausgestattete geheime Staatspolizei. Und dadurch seinerseits die Aufhebung der Gewaltenteilung betreiben, was ihn eben dem Unrechtssystem assimiliert, das im Namen der Zivilisation bekämpft werden soll. Wer diesen Krieg will und weiterhin den Pazifismus desavouiert, der kämpft auf der Seite der Terroristen. Der Anschlag vom 11. September hat Menschenleben gekostet, er hat Verderben und Unheil gebracht. Er war - wie auch immer motiviert - unter moralischer, rechtsstaatlicher Perspektive widerlich. Unsere innersten Werte aber hat er nicht bedroht. Das tun seit Kriegseintritt erst wir selber.

Dessen klage ich uns an.

ANH, Dezember 2001

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