Nachruf auf Tip Marugg (1923-2007)


Im April dieses Jahres starb auf der karibischen Insel Curaçao der Schriftsteller Tip Marugg. Der Name Marugg ist ursprünglich schweizerisch, besonders in Graubünden ist er noch geläufig. Tip Marugg wurde 1923 geboren und gehört mit Frank Martinus Arion und Boeli van Leeuwen zu den drei großen Autoren der Niederländischen Antillen. Maruggs Weekendpelgrimage (1957), die Geschichte einer langen Nacht, in der sich der Held von Kneipe zu Kneipe schleppt und dabei das Schicksal seiner Insel auf tragische Weise wiedererlebt, war der erste niederländische Roman aus den Antillen, der ins Englische übersetzt wurde (Weekend Pelgrimage, London: Hutchinson, 1960). Im deutschen Sprachraum, wo die niederländische Literatur besonders seit der Frankfurter Buchmesse vom Jahre 1993 erfolgreich rezipiert wird, ist das Interesse für Literatur aus den Niederländischen Antillen aber eher beschränkt geblieben. Lediglich zwei Romane sind ins Deutsche übersetzt worden: Frank Martinus Arions Doppeltes Spiel (Peter Hammer Verlag, 1982) und daneben Tip Maruggs Auch Vögel sterben im Morgenblau (Twenne Verlag, 1993). Mit diesem Roman hatte Marugg 1988 den Durchbruch in den Niederlanden geschafft. Während er bis dahin eher als Geheimtip galt, war Marugg über Nacht zum Bestsellerautor geworden. Dabei hatte er diesen Roman noch gar nicht herausgeben wollen. Einundzwanzig Jahre lang hatte der Perfektionist Marugg an dem einen Buch herumgefeilscht, bis ihm der Rektor der Universität der Niederländischen Antillen das Manuskript bei einem Besuch wegnahm, es zu Hause möglichst rasch abtippte und Maruggs Verleger in Amsterdam schickte.
Diese Anekdote ist nur eine der vielen merkwürdigen Geschichten, die mit Marugg in Verbindung gebracht werden. Nachdem er sich 1973 als Angestellter bei Shell hatte pensionieren lassen, lebte er wie ein Einsiedler im dünnbesiedelten Westen der Insel Curaçao. Nur seine Hunde und die vielen Whiskyflaschen leisteten ihm Gesellschaft. Marugg gilt denn auch als der größte Trinker der niederländischen Literatur - in Analogie zum geläufigen niederländischen Ausdruck „so betrunken wie ein Schweizer“ nannte man Maruggs Alkoholismus manchmal spöttisch seine einzig übrig gebliebene Beziehung zur Eidgenossenschaft.
Allerdings erfuhr Marugg seine Trunksucht nie als Problem, im Gegenteil, er kultivierte den Alkoholkonsum sogar als die ideale Inspirationsquelle, wobei er in seinen Romanen haargenau zu erklären pflegte, wieviel Büchsen Bier man zwischen den vielen Whiskygläsern trinken sollte, um weder zu lahm (vom Bier), noch zu aggressiv (vom Whisky) zu werden. Seine Bücher sind somit im Grunde genommen nichts anderes als die Wiedergabe von Reflexionen über Gott und die Welt, die im Rausch entstanden sind. „Nur im Alten Testament wird noch mehr gebechert als bei mir“, sagte Marugg einmal, in der Erkenntnis aber, dass der Grundton seiner Literatur keineswegs fröhlich ist, denn: „Wenn ich betrunken bin, verübe ich immer Selbstmord. Wenn ich betrunken bin, werde ich immer ein Fremder“. Damit sind auch die beiden anderen Stichworte gegeben, die man mit seinem Werk in Verbindung bringt: Tod und Identität.

In allen Büchern von Marugg ist vom Tod durch Selbstmord oder wenigstens dem Versuch dazu die Rede. Der Selbstmord wird aber nicht als Fluchtmöglichkeit dargestellt, sondern vielmehr als die Krönung vom Leben, als „die natürlichste Art eine Existenz abzuschließen, bei der die Geburt zugleich auch ein Todesurteil bedeutet“. In Auch Vögel sterben im Morgenblau zieht Marugg einen Vergleich mit den Vögeln seiner Insel: Bei Tagesanbruch pflegen sie schnurgerade bis zur steilen Felsenwand zu fliegen, um erst in letzter Minute mit einer scharfen Kurve nach oben zu steigen. Einige jedoch biegen nicht ab, sondern fliegen sich gegen den Felsen zu Tode. Dies tun sie, so Marugg, wenn sie nicht mehr zur Paarung imstande seien und ihr Dasein mit einer letzten Tat abschliessen möchten.
Auch das Thema Fremdheit spielt bei Marugg eine entscheidende Rolle. In einer Mischung von Mystik und Sensualität geht der Autor auf die Suche nach der eigenen Identität. Immer wieder wird dabei die Frage gestellt, ob er als Weißer wirklich zu einer Insel gehört, die fast ausschließlich von Schwarzen und Mestizen bewohnt wird. Da seine Haut die grelle Sonne der Karibik nicht verträgt, scheut er den Tag – bezeichnenderweise heißt der Gedichtband, mit dem er 1946 debütierte, Abscheu vor Licht. Die Fremdheit äussert sich auch in religiöser Hinsicht. Während die schwarze Bevölkerung fast ausnahmslos katholisch ist, wurde er als Mitglied einer Familie der weißen Elite evangelisch-reformiert getauft. Dennoch schickten ihn seine Eltern aus Bequemlichkeit in ein katholisches Gymnasium, wo er - zusammen mit einem einzigen jüdischen Mitschüler - vom Religionsunterricht ausgeschlossen blieb und daher auch dort nie richtig dazu gehörte.
Obwohl die Werke von Tip Marugg autobiographisch geprägt sind, gehen sie in ihrem tropischen Existenzialismus weit über die eigene Person hinaus. Damit unterscheidet sich Marugg durchaus von vielen Schriftstellern in der niederländischen Heimat, die das Grübeln über ihr eigenes kleines Leben nur allzu gerne als Literatur verkaufen. Dieser Unterschied in der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zwischen Autoren aus Europa und solchen aus der postkolonialen Welt ist vom Literaturkritiker Michiel van Kempen zutreffend formuliert worden: Während Europäer bei Identitätsfragen geneigt sind, auf den eigenen Nabel zu schauen, ist bei postkolonialen Autoren die Nabel immer auch mit der Nabelschnur verbunden. Postkoloniale Autoren sehen sich somit nicht nur als Individuum, sondern als Teil einer Kultur oder eines Volkes. Dies gilt auch für Marugg, bei dem das eigene Schicksal immer zugleich die Dekadenz der weißen Elite der Antillen widerspiegelt. Die rätselhafte Mischung von Verlust und Schuld, die er in seinen Romanen beschwört, erinnert somit nicht wenig an „la conscience terrifiée“ der weißen Oberschicht in der Karibik, wie sie einst von Frantz Fanon dargestellt wurde. Ein umfassendes Verständnis der Bücher von Marugg setzt daher gewisse Kenntnisse über die Geschichte der Antillen voraus.
Da sich die Spanier nur um die großen Inseln der Karibik gekümmert hatten und die kleinen als „islas inútilas“ (nutzlose Inseln) vernachlässigten, konnten diese im Laufe des 17. Jahrhunderts leicht von den konkurrierenden Kolonialmächten England, Frankreich, den Niederlanden und Dänemark erobert worden. Ihre Rivalität führte zu einem ständigen Kampf um die strategisch günstigsten Inseln der Karibik - Sankt Eustatius etwa wechselte nicht weniger als zweiundzwanzig mal den Besitzer, bis die Insel endgültig den Niederländern zugesprochen wurde, zusammen mit Aruba, Curaçao, Bonaire, Saba und die Hälfte von Sankt Martin. Ursprünglich suchte die niederländische West-Indische Kompagnie in den Antillen Salz, das man dringend für die Konservierung von Hering brauchte, später entwickelten sich die Inseln - in erster Linie Curaçao - zu Zentren des internationalen Sklavenhandels. Während die Spanier und Portugiesen aber bereits seit langem mit Sklaverei vertraut waren, hatten sich die Niederländer mit einem völlig neuen Phänomen auseinander zu setzen. In ihrer Unvertrautheit griffen sie auf die einzige ihnen bekannte Quelle zur Sklaverei zurück: das Römische Recht. Konsequenterweise betrachteten sie den Sklaven prinzipiell als „res“, als Objekt. Während Spanier und Portugiesen geneigt waren, ihre Sklaven als minderwertige Kinder zu behandeln und sie konsequenterweise religiös und sprachlich „ausbildeten“, galt in niederländischen Kolonien von Anfang an eine scharfe Trennung zwischen der Kultur der Herrscher und der der Sklaven. Apartheid ist daher keineswegs eine südafrikanische Erfindung, sondern die halsstarrige Weiterführung einer Denkart, die einst die gesamte niederländische Kolonialpolitik prägte. Auf Curaçao führte dies dazu, dass Niederländisch ausschließlich die Sprache der weißen Elite blieb und sich ihre evangelisch-reformierte Kirche vor Schwarzen verschloss. Als die Niederlande 1863 als eine der letzten europäischen Nationen die Sklaverei aufhoben, verschwand nach und nach die Allmacht dieser weißen Oberschicht. Besonders peinlich für sie war der Verlust an Einfluss, nachdem die Firma Shell kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf Curaçao eine riesige Raffinerie für die Verarbeitung von venezolanischem Öl baute. Sie mussten feststellen, wie ihre traditionelle Machtposition durch Ingenieure und Manager aus den Niederlanden bedroht wurde, die nicht nur eine viel bessere Ausbildung genossen hatten, sondern sich darüber hinaus lustig machten über den komischen Akzent und kuriose Gewohnheiten jener Elite, die seit Jahrhunderten so krampfhaft an Vorstellungen des wahren Niederländertums festgehalten hatte. Sie, die einst als Herren auf den Plantagen Herrscher über Tod und Leben gewesen waren, sahen sich plötzlich entlarvt als Karikatur einer vergangenen Welt.
Der Zusammenbruch der Ideale dieser Bevölkerungsgruppe findet seinen Ausdruck im Nihilismus Maruggs, der die Bestrebungen der weißen Elite im Whisky ertränkt und mit ironischer Leichtigkeit die Ignoranz hinter ihrer Arroganz ans Licht holt. Damit bekommt seine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität eine Dimension, die all jene mit einbezieht, die sich einst veranlasst sahen, auf dem trocknen Boden einer vulkanischen Insel in der Karibik ein neues Leben zu beginnen: Sklaven aus Afrika, Plantagenbesitzer aus den Niederlanden, Händler aus Venezuela, Emigranten aus Portugal und als einer unter vielen auch der Nachkomme eines Schweizers.
Kurz vor seinem Tod soll der schwerkranke und blind gewordene Tip Marugg noch um etwas Tee gebeten haben. Als sein Pfleger den Tee bringen wollte, fand er Marugg tot auf. Er, der sonst immer nur Hochprozentiges verlangt hatte, war dahin geschieden mit dem Satz: „Ich habe Durst“.


(Jeroen Dewulf)


Leseprobe:

(...) Whisky. Whisky. Whisky. Whisky. Whisky. Ich will mich rächen an allen Uhren, Kirchenglocken und Dampfpfeifen; an allen Versammlungen, Festen, Verabredungen und Geburtstagen; an allen Briefwechseln und Visitenkarten; an Jubiläumsabzeichen und Ordensbändern; an der Altersversicherung und am Sparfonds, an Kriegsgedenkfeiern und anderen feierlichen Gedenktagen; am Kino, an der Kirche, dem Sportstadion und allen öffentlichen Gebäuden; an politischen Versammlungen; an infantilen Rundfunkhörspielen und den damit zusammenhängenden endlosen Werbeserien; an den Leuten und den Dingen, die immer hinter mir her sind. Ich hasse das Viertel in dem ich wohne. Ich hasse den Verkauf von Schleifen für die Bekämpfung von Krebs, für die Opfer von Orkanen und für die Restaurierung von Kirchen. Ich hasse Kollekten für die Heilsarmee, für das Rote Kreuz, für die behinderten Kinder und für die Senioren. Ich hasse die Woche-des-Unfallfreien-Verkehrs und die Woche-des-Sports. Ich hasse den Tag der Tiere, den Tag der Mütter, den Tag der Väter, den Baden-Powell-Tag, den Luther-Tag und Allerseelen und Allerheiligen. Ich hasse die Predigten von Zwietracht, die jeder Liebe die Gurgel zudrücken. Ich hasse die spielerische Sündhaftigkeit der modernen Gesellschaft. Ich hasse die Hypokrisie meiner Freunde. Ich hasse die Förmlichkeit ritueller Religionsübungen. Ich liebe niemanden, denn ich finde kein Objekt für meine Liebe. Ich kenne keinen Patriotismus, denn ich habe kein Land, für das ich Patriot sein könnte. Ich lebe in der ständigen Überzeugung, dass ich meine Zeit vergeude, furchtbar vergeude.
In idiotischen Momenten sehne ich mich manchmal nach Schnee. Dann wären alle Dinge auf der Insel bedeckt mit einer dünnen Schicht von weissem Schnee, der alles bis zum Kern abkühlen würde. Danach muss die Tropensonne erscheinen und den Schnee langsam auflösen. Für einen kurzen Augenblick gäbe es überall frostige Guirlanden von kalten, glitzernden Juwelen. Nachher wäre dann alles trocken und neu und sauber gewaschen. Aber das ist natürlich ein idiotischer Gedanke. Übrigens habe ich noch nie Schnee gesehen. (...)

[Aus dem Roman Weekendpelgrimage [Wochenendepilgerfahrt], Amsterdam: Uitgeverij De Bezige Bij, 1958]



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