"Lilja 4-ever"

Regie: Lukas Moodysson
Mit Oksana Akinshina, Artyom Bogucharsky, Pavel Ponomarjov u.a.
Schweden, 2002. 109 Minuten.


Es beginnt damit, dass ein junges Mädchen verstört durch Straßen irgendwo in Schweden läuft. Begleitet wird sie von der Musik von Till Lindemann, der "Mein Herz brennt" singt.

Die Szene weist auf den Wahnsinn hin, von dem der Zuschauer 109 Minuten lang nicht loskommen wird.

Der Film ist nichts für zarte Nerven und auch nichts für Menschen, die nur der Glitzerwelt ihren Tribut zollen wollen. Da ist kein Hollywood mit typischen Strukturen, welche entweder durch Gewalt oder aber schwülstige Liebe gekennzeichnet sind. Das pure Leben springt von der Leinwand herab, und von den Bildern nicht auf grauenhafte Weise berührt zu werden ist unmöglich, so lange ein fühlendes Herz im Körper des Beobachters schlägt.

Lilja ist 16 Jahre alt und lebt in einem armen Dorf in der ehemaligen Sowjetunion. Sie wird von ihrer Mutter alleine in der elterlichen Wohnung zurückgelassen, wo sich bald eine seltsame Tante einnistet, sodass Lilja in einer schrecklichen Bude hausen muss. Kaum kommt sie über die Runden. Sie wird von Schulfreunden als Außenseiterin betrachtet. Ihr einziger Freund ist der um einige Jahre jüngere Volodja, der sie gut verstehen kann und ein noch tristeres Leben verbringt. Irgendwann beschließt Lilja, Geheimprostituierte zu werden. Es ist eher ein Zufall, der sie intuitiv honorigen Herren entgegentreibt. Mit dem Geld, das sie verdient, kann sie sich endlich vernünftige Sachen kaufen und jeden Tag gut essen. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer.
Sie lernt einen jungen Russen namens Andrej kennen, der ihr die große Liebe vorspielt. Er erzählt ihr von Chancen, in Schweden ein solides Leben aufbauen zu können. Freilich werden sie beide in Schweden ein Paar sein. Liljas Vorfreude ist riesengroß. Es fällt ihr allerdings sehr schwer, sich von Volodja zu trennen. Der junge Mann grämt sich furchtbar und will sich nicht von ihr verabschieden. Lilja und Andrej fahren zum Flughafen, als Andrej plötzlich sagt, er habe noch etwas zu erledigen, und Lilja solle einstweilen alleine nach Schweden fliegen; sie werde am Flughafen von einem Freund abgeholt, der auch einen lukrativen Job für sie hätte. Lilja verabschiedet sich von Andrej und steigt frohen Mutes in den Flieger ein. In Schweden erwartet sie ein älterer Mann, dem kaum ein Wort zu viel auskommt. Lilja schöpft noch  keinen Verdacht, als er mit ihr auf eine Art und Weise umspringt, die Schreckliches erahnen lässt. Schließlich bringt er sie in ein Zimmer, das sie für längere Zeit nicht verlassen wird. Denn der ältere Mann sperrt die Tür zu, und Lilja wird erstmals hellhörig. Sie macht sich im Zimmer zurecht, und wartet auf den nächsten  Morgen.

Der nächste Tag bringt die Wahrheit ans Licht: Lilja wurde nach Schweden eingeschleust, um als Lustsklavin Männern Befriedigung zu verschaffen. Es ist unfassbar grausam, was ihr widerfährt. Widerliche Männer bedienen sich an ihr, und sie muss Dinge ertragen, die sie unmöglich unbeschadet überstehen kann. Jeden Tag treten Männer durch die ansonsten stets geschlossene Zimmertür und lassen die Hosen runter, um Liljas Körper so zu benutzen, als wäre er ihr Eigentum. Lilja fühlt sich von Tag zu Tag schlechter. An Flucht ist kaum zu denken, da die Chancen auf ein Überleben danach minimal sind. Doch irgendwann ist alles zu viel. Die vielen stinkenden Körper perverser Männer, die sie brutal missbrauchen, haben sich in ihrem Kopf eingenistet und drohen, ihre Seele zu erreichen. Eines Morgens bemerkt sie, dass die Zimmertür nicht verschlossen ist. Sie zögert nicht lange und läuft davon. Bald aber wird ihre Flucht bemerkt, und zur Musik von Till Lindemann schließt sich der Kreis, mit der dieser bedrückende Film begann.

Die totale Vernichtung eines Menschen kann erst dann gelingen, wenn die Zerstörung bis in die Seele eindringt. Lilja hat sich dem entzogen, und sie bekommt Besuch von ihrem Engel Volodja. Der Glauben an die eigene unsterbliche Seele gibt ihr die Kraft, den einzig möglichen Weg zu gehen. Der junge Regisseur Moodysson schafft einen Einblick in die  Welt, wie sie tagtäglich existiert, und wovon die wenigsten Menschen wissen wollen. Tagtäglich geschieht das Grauenhafte, das Unfassbare. Kinder werden dazu gezwungen, mit widerlichen Männern ins Bett zu gehen, und schreckliche Dinge zu ertragen. "Lilja 4-ever" ist nur ein kleines Guckloch in diese Welt. Umso wichtiger ist es, diese Tatsachen nicht zu verschleiern, sondern klipp und klar darzustellen. Es ist brutal, es ist unerträglich. Doch Mädchen und auch Jungen an allen möglichen Orten auf der Welt müssen Unmenschliches ertragen. Viele von ihnen sterben daran oder werden umgebracht. Der Film von Moodysson öffnet eine Tür, hinter der Dinge lauern, die unter der Oberfläche einer angeblich gut funktionierenden Gesellschaft existieren.

Die dunkle Seite ist überall. Das ist die wichtigste Botschaft, die "Lilja 4-ever" entnommen werden kann. Und es gilt, wachsam zu sein und eventuelle Zeichen nicht zu übersehen, wenn wir mit derartigen Dingen konfrontiert werden. Das Grauenhafte ist überall. Und davor die Augen nicht zu verschließen kann in vielen Fällen Menschenleben retten.

Hervorzuheben ist die großartige schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin Oksana Akinshina, die den Film von Anfang bis Schluss trägt. Sie verkörpert nicht nur eine junge Frau, deren Zerstörung schreckliche Ausmaße annimmt, sondern ebenso eine Hoffnung, die nie sterben kann: Daran zu glauben, dass die Seele unzerstörbar ist, und mit dem Tod eine Tür aufgeht, hinter der es kein Leid, keine Zerstörung  und keine himmelschreiende Ungerechtigkeit gibt.

(Jürgen Heimlich; 03/2003)


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