Der Misanthrop No 16: "Über die Ethik des Mitleidens"

"Hör zu, es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder könnte sein."

(François Villon)


Lamm Gottes - das Opfertier Gottes, ein christliches Symbol, zudem der ultimative Ausdruck einer Leidensfigur. Mir schwebt das theologisch vielleicht unkorrekte Bild eines Jesus vor, der äußerstes Leid auf sich nimmt, nicht der Sünde sondern des Leides wegen. Ein Jesusbild, das mich erst kürzlich in einem schmerzlichen Moment befiel, als ich das grausame Schicksal einer kleinen Maus erblickte, die, eingeschlossen in einem Mistkübel, darin elendig um ihr Leben gekommen war. Wohl hatte sie die Verlockung nach etwas Essbarem in ihr Verhängnis geführt. Der zermarterte kleine Körper, gestorben an Entkräftung, Hunger, vielleicht auch Kälte und Verzweiflung, lag in seiner Totenstarre versteift vor mir. Eine unscheinbar winzige Kreatur, gezeichnet noch von einem Todeskampf, der sich über Tage hingezogen haben muss; umgekommen in einem dunklen Gefäß, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Ein Sterben im Inneren eines vermeintlichen Nahrungsquells, der sich für das Mäuslein als sein Sarg entpuppte. Dieser Anblick tierischer Qual nötigte mir die Einsicht auf, dass für den empfindsamen Menschen am Unerträglichsten das Leid seines Nächsten sein muss. Und so kam mir die Idee: War nicht auch die Liebe von Jesus zum Menschen, die Nächstenliebe, wie überhaupt sein zärtlicher Umgang mit den Kreaturen dieser Schöpfung, wie ihn dann Franz von Assisi in treuer Gefolgschaft Jahrhunderte später nachvollzog, in erster Linie der Ausdruck eines empathischen Mitleidens? Ein Mitleiden mit dem Nächsten. Dem Leid der geschundenen Kreatur stand der Heiland nicht ohne Anteilnahme gegenüber, viel mehr er empfand der Anderen Leiden als unerträgliche Peinigung seiner selbst. Und mag es dann denn nicht sein Ansinnen gewesen sein, dem Leidensdruck in dieser Welt entgegenzuwirken, sich selbst in seiner Leibhaftigkeit dem unsinnigsten aller Quälereien, dem Menschen- und Tieropfer, entgegen zu stellen, auf dass es hinkünftig keine Darbringung lebender Opfer mehr geben möge? Durch seine Selbstaufopferung setzte er der Opferpraxis einen Schlusspunkt, in dem er alle denkbaren Opferriten in die blutige Hingabe seiner Person aufsaugte. Er nahm unmäßiges Leid auf sich, um das Leiden dieser Welt zu überwinden, doch gelang ihm letztlich nur die Abschaffung des Opferrituals in den eigenen Reihen, hingegen in seinem Namen bald schon gemordet werden sollte.

Der Opfergang Jesu Christi bezeichnet eine Ethik des Mitleidens, die gegen das Leid anleidet, gegen eine als missraten erkannte Schöpfung aufbegehrt. Gläubige Christen vollziehen den Leidensweg ihres Heilands alljährlich im Ritual des Kreuzweges nach, was sie zumindest für die Materie sensibel machen sollte. Letztlich blieb das jesuanische Aufbegehren jedoch ein absurder Akt von tragischer Dimension, denn wie sollte sich über die Annahme und Übernahme von Leid das Leid in dieser Welt verringern lassen. Doch anders gehandelt ihm diese Welt wohl nicht mehr erträglich gewesen wäre. Die als schmerzlich empfundene Wahrnehmung des Elends trieb ihn einem ethischen Wahnsinn zu. Und wenn er auch noch in dieser Welt lebte, so lebte er doch nicht mehr mit ihr. Familie, Zugehörigkeiten zu Nation und Berufsstand oder zu spirituellen Gemeinschaften, alle diese Einrichtungen, die den Fortbestand des irdischen Daseins regeln und garantieren, an ihnen nahm er nicht mehr teil, er wandte sich ab von den Lebensformen der Gepeinigten, deren kaum halbbewusster, unausgesprochener und grausamer Zweck es ist, das Leiden zu verewigen. Und nicht das Leid hinwegzunehmen von dieser Welt, weil über das Leid zu triumphieren, hieße den Lebenswillen zum Erlöschen zu bringen, diese Erde, der Quell zu allem was krabbelt, sinnt und sich stetig strebend müht, dem Untergang zu weihen.

In der Tat, Jesus war Apokalyptiker, der meinte in einer messianischen Endzeit zu leben, wie sie von den Propheten immer schon angekündigt worden war. Das meinen nicht zuletzt die Gelehrten und Experten für die Geschichte des Urchristentums, und wer wagte es, an ihren wohlfundierten Thesen zu rütteln. Jesus stand in einer Tradition religiösen Denkens, dessen abschließende Erfüllung als unmittelbar bevorstehend erwartet wurde. Ohne Zweifel ist der Verkünder des nahen Weltendes als Traditionalist prophetischen Bewusstseins zu erkennen. Gegen diese durch die Historie verbürgte Annahme lässt sich nur schwer polemisieren und sie soll an dieser Stelle auch nicht angezweifelt werden, doch ist es zudem unplausibel anzunehmen, dass dieses empfindsame Gemüt den jüngsten Tag nicht nur aus Gründen der prophetischen Überlieferung erwartete, sondern sich eben so sehr aus höchstpersönlicher Seelenneigung nach dem Weltuntergang sehnte, da dieser ein Erlöschen des blinden Daseinswillens versprach, der in den Geschöpfen wirkt, sie in der Welt hält und somit fortgesetzt dem Elend leidvoller Diesseitigkeit ausliefert? Ein Daseinswille, der, blind und ohne Moral, deswegen immerzu sündig, über die Wiedergeburt des Fleisches aus dem Fleisch einem unaufhörlichen Leid zu ewiger Geltung verhilft.   

Der Jesus der Evangelien benannte dieses zentrale Anliegen der Überwindung von Lebensleid nicht direkt beim Namen, man kann es ihm mangels Bestätigung durch die Evangelisten nur nachempfinden, doch vollzog sich in seiner Person eine entsprechende Philosophie der Tat, indem er den Leidenden tatkräftige Hilfestellung leistete und sich allemal darum bemühte die mutwillige Zufügung von Leid zu verhindern (bspw. die Verhinderung der Steinigung einer Ehebrecherin), doch ansonsten "nahm er hinweg die Sünde dieser Welt", was uns ein theologisches Rätsel bleiben muss. Die entschiedene Thematisierung des Lebens als leidvolles Dasein blieb schlussendlich dem indischen Religionsgründer Buddha überlassen, welcher, vor Jesus lebend und möglicherweise mit seiner Lehre vom Daseinsleid auf diesen einwirkend, ebenso am Weltleid verzweifelte und nach Überwindung der Ursache allen Leidens trachtete. Als Ursache allen Leidens, und alles Dasein ist leidvoll, erkannte Siddharta Gautama (um 560-480 v.Chr.) den Lebensdurst, welcher eine blindwütige Gier ist, ein übles verhaftet Sein mit den Dingen dieser Welt, ein Lebensdrang, den es auszulöschen gelte; was nebenbei bemerkt mehr zum Leben hin- denn wegführt. Buddha verfuhr dann auch konsequent in diesem Sinne, ohne dabei Hand an sich zu legen, sich zu malträtieren oder sich auf theologische Abwegigkeiten einzulassen. (Seine Lehre blieb gottlos.) Des Buddhas Schüler brachten seine Idee der Abkehr vom "blinden Willen" zur Hochblüte, so etwa im Zen, hingegen die Lehre Jesu in die Fänge einer griesgrämigen Kirchenbürokratie geriet und zur christlich-sozialen Familien- und Gesellschaftspolitik degenerierte, deren wert- wie strukturkonservative Gehalt offenkundig im Widerspruch zu den nonkonformistischen Intentionen ihres Schöpfers steht. Und die Mitleidsethik Jesu Christi mündete in das Treiben der "Inquisitionsgerichtsbarkeit", deren theologischer Irrsinn kein Mitleid mit vermeintlichen Ketzern kannte. Dem Tier verwehrt man bis heute die Gnade christlicher Heilsteilnahme. Zuunterst steht in der Werteskala das Nutztier, da eine seelenlose Kreatur, weder sündig noch tugendhaft, vor Gott dem Menschen zum Verzehr bestimmt, was im Grunde jede Grobheit rechtfertigt, wann immer nicht in einer empfindsamen Seele doch noch das Mitleid obsiegt. Wäre da nicht noch die Caritas, die christliche Mitleidsethik wäre bar jeglicher Substanz und als propagierte Nächstenliebe nicht ihres Namens wert. Doch auch diese Einrichtung tätiger Nächstenlieber steht letztlich als Ausdruck christlich-sozialer Gesellschaftsethik im Widerspruch zum Wunsch nach dem Erlöschen des Lebensdurstes als Quell allen Daseinsleides. Denn es gilt nicht nur den Leidenden zu helfen - wer wollte dies bestreiten? Es gilt vor allem auch, und dieses vordringlichst, die Ursache von Daseinsleid, den Lebensdurst, zum Versiegen zu bringen. Ein wahrlich kosmisches Unterfangen. Einer religiösen Anstrengung würdig.

(Misanthrop; Oktober 2003)