Der Misanthrop No. 11

Von der Würde zölibatärer Tugendhaftigkeit



Es ist nicht meine Absicht, mich jetzt auf einen theologischen Diskurs einzulassen. Ganz gewiss nicht. Mein Ansinnen ist ein ganz anderes. Ein Priester wird nur solange von seiner Gemeinde als Priester akzeptiert, solange die Würde des Amtsträgers unversehrt bleibt. Handelt er doch aus der Höhe seines charismatischen Gottesgnadentums heraus, in welches - bei aller Entrücktheit - der Gläubige vertraut, so als ob es eine irdische Vollkommenheit verkörpern würde. Nun stelle man sich einmal vor, dieser schwarzgewandete Mann wäre mit einer Frau verbunden und zwar inniger als der Heilige Stuhl es heute noch erlaubt. Die Wonnen monogamer Sinnenfreuden und die zärtliche Nähe eines weiblichen Wesens würden unseren Priester vielleicht viel mehr zur menschlichen Entfaltung bringen, als die bloße Hingabe an die Gesetzmäßigkeiten religiöser Inbrunst es jemals bewirken können. Wer weiß? Und wer weiß, wäre er ein glücklicherer Priester, der überquellend vor erotischer Beglückung seine Gemeinde erwärmte und nicht beständig die Augen vor dem Anblick nachlässig gekleideter Mädchen zwanghaft wegrollte, statt sich ein wenig voyeuristische Lüsternheit zu gönnen? Nein! Ich will mich jetzt nicht in psychologischen Spekulationen über die Selbstentfremdung asketischer Naturen ergehen, deren Lebensform mir selbst überhaupt nicht vertraut ist. Mir geht es jetzt allein um die einer jeden allzu engen zwischenmenschlichen Bindung innewohnenden Gefahr für die Würde des Menschen. Denn der Mitmensch scheint die Bedrohung dessen zu sein, das was, nach aufgeklärter Meinung, jeder Frau und jedem Mann unveräußerlich anhaftet: die Würde der Person.

Dazu eine kurze Erzählung von einem unerquicklichen Vorkommnis, welches mir soeben widerfahren ist. Ich frönte gerade einer der größten Vergnügungen, welche mir das irdische Dasein zuweilen bescheren mag. Dieses war dergestalt, dass ich in der Badewanne lag und ein heißes Vollbad nahm. In der Badewanne liegend, von einer Wolke erlesener aromatischer Düfte eingehüllt, las ich soeben ein Buch meiner Wahl, was eine der freudvollsten Wahlmöglichkeiten ist, die uns das Leben bietet. Und zwar handelte es sich um das Buch "
Jesus in schlechter Gesellschaft" von Adolf Holl. Der Buchtitel bzw. viel mehr der konkrete Inhalt und die Person des Autors sind wichtig für das weitere Verständnis meines Ansinnens. Holl thematisiert in seiner Schrift die keusche Würde der geschlechtlichen Enthaltsamkeit; etwa am Beispiel der Person des Philosophen und Kirchenfürsten Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.), der sich nach einem Vorleben wüster Ausschweifungen im Alter von 32 Jahren zu einer zölibatären Lebensführung durchrang und noch fünfzehn Jahre danach in seinen "Bekenntnissen" darüber klagte, wie lästig ihm die nicht mehr sublimierbaren Reste seiner Manneskraft immer noch seien. Des Weiteren fragt sich Holl, ob die unzweifelhafte Familienfeindlichkeit des Jesus Christus - als eine Angelegenheit einer zu Ende gehenden Weltordnung - auch einen prinzipiellen Vorbehalt gegen alles Sexuelle enthält. Ob Jesus - aus einer apokalyptischen Grundstimmung heraus - zum freiwilligen Eunuchentum der Sexual-Askese tatsächlich geraten hat, lässt sich wissenschaftlich nicht endgültig entscheiden, meint Holl. Die Evangelien - gleich welche - berichten uns zu wenig darüber und hüllen sich, was das Privatleben des Gottessohns betrifft, in diskretes Schweigen oder negieren es in Hinblick auf die Göttlichkeit seiner irdischen Person. Was uns noch bleibt ist der berüchtigte Kastrationsspruch in der Überlieferung des Evangelisten Matthäus, der von Verschnittenen um des Reiches der Himmel willen spricht, was konkret aber auch nur auf einen Zustand verweist, welcher der Ehe überlegen ist. Ein Gebot, alle geilen Regungen auszulöschen, ist daraus nicht mit hinreichender Sicherheit abzuleiten, meint der bezügliche Religionswissenschafter Adolf Holl, welcher einstmals selbst zum Pfarrer geweiht, von der Kirchenhierarchie ob seiner eigenständigen Denkweisen der Häresie verdächtigt wurde, schließlich aller kirchlichen Amtsbefugnisse verlustig ging und sodann selbst nicht länger unbeweibt blieb.

So lag ich also im warmen, sinnenreizenden Wasser meiner Badewanne und betörte meinen Geist mit dem Gedanken sexueller Askese. Auf einmal hörte ich hastiges Getrampel am Gange, in einem der Stockwerke über mir knallte eine Türe, eine Frau kreischte und hörte nicht mehr auf damit. Zwischendurch knurrte eine missmutige Männerstimme ein "Ruhe", ohne dass diese, gleichsam als Bitte wie als Befehl, vorgetragene Empfehlung bei dem übel gelaunten Weibe das erhoffte Gehör fand. Sie kreischte, zankte und ließ Türen knallen. Nichts schien sie zu besänftigen, als der dann doch einsetzende Schwund cholerischer Energie. Dieses gar zornige Toben dauerte lange, viel zu lange um meine literarische Stimmung, die doch wieder der asozialen Stille bedurft hätte, nicht auf das empfindlichste zu stören. Schließlich resignierte ich vor ihrer Wut, so wie jener, in den oberen Stockwerken, über den sich das Donnerwetter entlud, längst resigniert haben musste. Muckte er doch kaum noch auf, sagte nichts mehr, schwieg nur noch und ließ über sich ergehen, was ein übel wollendes Schicksal ihm soeben bereitete. Ich dachte mir nur noch, zu meinem literarischen Thema zurück kehrend, dass, wäre er ein Priester, dieser Vorfall seine charismatische Würde nachhaltig beschädigen müsste. Der Anlass für dieses lautstarke Aufsehen ist mir zwar unbekannt, und ich verkneife mir die Anmaßung, ohne Wissen um den konkreten Sachverhalt über die Unglückliche ein Urteil zu fällen, doch nicht umsonst galt für Christenmenschen der Verlust von Contenance seit jeher schon als Sünde. Wohl als Sünde gegen die Würde des Menschen, dessen Würde ebenbildlich jener Gottes ist. Wer zürnt, und wer gar Grund hat zu zürnen, der mag auch zürnen, da er doch Mensch ist, dessen Recht es ist zu zürnen, wenn ein Grund zu zürnen vorliegt. Doch dies mag er mit Bedacht auf die Verletzlichkeit seiner Würde tun, da er ansonsten im Schmutz allzumenschlicher Regungen landet und solcherart sein Charisma auf allzu fahrlässige Weise nachhaltig schändet.

Das Zölibat mag den Priester in eine Welt der Kälte und Vereinsamung stürzen, es mag ihn dem weiblichen Geschlechte entfremden, wie überhaupt dem Streben nach dem Sinnengefälligen, doch - diese Erkenntnis drängte sich mir, unter Missachtung aller anderen Erwägungen, situationsgegeben auf - schützt es seine Würde vor den Attacken zwischenmenschlicher Rauflust. Nur der wahrlich Vereinsamte mag vor dem Fluch emotionaler Unbeherrschtheit im Miteinander der Gattung Mensch wirklich noch sicher sein. Mit dem Zölibat mag auf dem Priester eine schwere Last liegen, die ihn zuweilen in die Knie brechen lässt, doch was würde uns ein Priester noch gelten, den sein zänkisches Weib täglich an den Rand der Verzweiflung treibt, der gar vielleicht dabei seine eigene Beherrschung verliert und mit donnernder Stimme ein ganzes Wohnhaus in Aufruhr versetzt? Wie niedrig und seinem Gotte ferne müsste er uns dann doch erscheinen?

Mittlerweile ist wieder Ruhe im Wohnhaus eingekehrt. Es hat sich ausgebrüllt, und wer weiß, welcher Lustbarkeit der Schreihals jetzt frönt? Ich, für meine Person, habe mich in aller Stille an meinen Personalcomputer gesetzt und lustvoll auf die Tastatur eingehämmert. Ja! Heiße zudringliche Emotion gefriert somit zur misanthropischen Betrachtung und hat zu guter Letzt einen kleinen vergnüglichen Essay zur Folge, dessen ironischer Genügsamkeit man das schrille Geschrei nicht mehr anmerkt, würde er nicht davon berichten. Was die hysterische Dame wohl dazu sagen würde, täte man ihr kund, dass ihr lautstarkes Gehaben, ein bis zwei Stockwerke tiefer, als überzeugendes Argument für sexuelle Askese oder überhaupt zwischenmenschliche Enthaltsamkeit herhalten muss? Ja! Was täte sie dazu sagen?

(Misanthropos; 1. September 2002)


Und hier wäre das erwähnte Buch von Adolf Holl: Eine wahre Perle theologischer Literatur übrigens, die ich dem Leser wärmstens empfehlen möchte.

Adolf Holl: "Jesus in schlechter Gesellschaft"
Kreuz Verlag Stuttgart, 2000. 190 Seiten.
ISBN 3-783-11816-6.
ca. EUR 14,90.
Buch bestellen