Der Plan

Es ist Winter und Mutter kommt wieder einmal von einem ihrer vielen Besuche aus Tokat zurück. Doch dieses Mal spüre ich, daß sie etwas Bestimmtes vorhat. Sie spricht mit Oma und mir und läßt die Katze aus dem Sack:
»Inci, ich will, daß du und Hikmet heiraten.«
Mutter holt ein Foto aus der Tasche, gibt es Oma.
»Inci, das ist ein Mann mit Zukunft. Er geht auf die Schule, wird einen ordentlichen Beruf haben – nimm ihn.« Oma rät mir mit großem Ernst.
»Ich will nicht! Ich heirate Hüseyin!« Tränen laufen über mein Gesicht.
Mutter greift ein, macht ihn schlecht: »Inci, er hat dich belogen. Er taugt nichts. Er wird nie kommen. Und ich werde nie erlauben, daß du ihn heiratest.«
Das ist also ihr Plan. Damit Papa nicht mißtrauisch wird, braucht sie eine Erklärung, warum sie so oft nach Tokat fährt. Wenn sie mich mit dem Sohn ihres Liebhabers verheiratet, wird er mein Schwiegervater und gehört zur Familie. Sie kann ihn besuchen, so oft sie will, schießt es mir durch den Kopf. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen.
Wie kann ich mich dagegen noch wehren?
Ich fahre wieder mit nach Tokat.

Wir stapfen durch den knietiefen Schnee. Unter grauem Himmel ducken sich die Häuser hinter schneebedeckten Bäumen. Alles wirkt kalt und feindselig. Trotz der Wärme in Samis Wohnzimmer zittere ich am ganzen Körper wie Espenlaub.
Raki steht auf dem Tisch. Wie immer. Mutter trinkt. Wenn sie genug getrunken hat, will sie zärtlich werden, mir übers Haar streichen. Sonst wehre ich sie ab. Jetzt bin ich nur noch müde. Mürbe geworden. Es geht alles sehr schnell. Ich bin verlobt.
Vielleicht ist es das beste und ich habe endlich meine Ruhe, resigniere ich. Weder Hikmet noch ich hegen Gefühle füreinander. Wir haben bisher noch nicht einmal miteinander geredet. Über unsere Pläne, über unsere gemeinsame Zukunft, wie wir eigentlich zueinander stehen.
Ich vermisse das auch nicht sonderlich. »Dein Mann wird für die Zukunft deiner künftigen Familie sorgen.« So ist es uns jahrelang eingetrichtert worden.

Zum Glück gibt es keine große Verlobungsfeier. Hikmet hütet am nächsten Tag wieder seine zwanzig Kühe. Nebenbei arbeitet er an seinem Fernkurs für seinen künftigen Beruf als Steuerberater. Mit Sema besuche ich ihn.
Im Stall treffen wir auch Hakki, Hikmets Knecht. Er ist leicht geistig behindert. Beim Lachen zeigt er seine Zahnlücken. Er sieht unglaublich häßlich aus. »Schwester« nennt er mich. Hakki ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter. Hikmet schlägt ihn, wenn er etwas nicht richtig versteht oder falsch macht.
»Sag mal Inci, ißt du gern Küspe?« fragt Hikmet. Er sieht verschlagen aus, Hakki schaut mich mit einem ganz eigenartigen Blick an.
»Ich esse alles, was mein Gastgeber auf den Tisch bringt.« Was hätte ich auch sagen sollen? Küspe kenne ich nicht.
»Was, du würdest Kuhfutter essen? Mein Gott, wie unsagbar blöd du bist.« Hikmets Stimme trieft vor Hohn. Hakki zeigt seine Zahnlücken. Beide lachen sich halb tot.
Hikmets Giftpfeil trifft meinen Stolz ins Mark: Ich kann nicht richtig Türkisch, dabei bin ich Türkin und fühle mich als Türkin. Deutsch verstehe ich zwar recht gut, aber Grammatik ist für mich ein Fremdwort. Überhaupt: Wo gehöre ich eigentlich hin?
Ständig findet Hikmet einen Anlaß, mich lächerlich zu machen. Immer wieder stellt er mich vor allen Leuten bloß. Almanci gelin, deutsche Braut, nennen mich die Einheimischen bald, als wenn ich nicht in die Türkei gehörte. Das macht mich wütend und deprimiert zugleich.
Wie ein Bienenschwarm überfallen uns Besucher aus den umliegenden Dörfern. Sie kommen mit nackten, schmutzigen Füßen, mit dreißig Jahren Dreck in den Gesichtern. Sie riechen nach Schweiß, Schmutz und Tieren. Hikmet auch. Ich muß ihre Hände küssen. Sie küssen mich ins Gesicht. Speichel läuft meine Wangen herunter. Ich ekele mich, bekomme Ausschlag. Mit allen diesen Menschen werde ich nach der Hochzeit verwandt sein.
»Du mußt bei ihnen stehenbleiben, wenn die Besucher essen und trinken. Du mußt sie bedienen. Du darfst nicht laut reden. Du darfst nicht lachen. Du darfst keinen unterbrechen. Du darfst keinem widersprechen.« Jeder fühlt sich für mein Benehmen zuständig.
Und vor allem: »Du darfst keine Hosen tragen.« Die altbackenen Kleider – knöchellange Röcke, hochgeschlossene Blusen – sind genau das richtige. Die flirrende Mode aus Izmir wird weggeschlossen. Ich fühle mich nur noch erniedrigt.
Besonders von Hikmet. Der spricht nur im Befehlston mit mir: »Bring mir Tee. Koch das Essen. Putz meine Schuhe. Zieh was anderes an.«
Für ihn, der so mit mir umspringt, soll ich mich hübsch machen? Wenn nicht, für wen dann sonst? Ich finde keine Antwort auf meine Frage. Deshalb trifft mich die »anatolische Kleiderordnung« nicht sonderlich. Und mit dem Kopftuch, das hier alle Frauen tragen müssen, habe ich sowieso keine Probleme. Wahrscheinlich bin ich eine der wenigen Frauen, die sich aus religiösen Gründen damit identifizieren kann.

»Inci hat hier im Busdepot einen Jungen kennengelernt und mit ihm geschlafen.« Mutter telefoniert mit Papa. Er muß in Deutschland die Einwilligung für meine Hochzeit unterschreiben, weil ich erst sechzehn bin.
»Du kannst beruhigt sein, er kommt aus einer guten Familie, ist Steuerberater. Sie lieben sich sehr«, lügt sie das Blaue vom Himmel herunter.
Ich höre mit. Am liebsten würde ich schreien, daß das alles nicht stimmt. Daß Mutter mich in die Ehe mit einem Wildfremden treibt. Daß ich noch Jungfrau bin. Daß ich Hüseyin will.
Du hast gegen Mutter nicht die Spur einer Chance, Papa wird dir nicht glauben, resigniere ich. Bis heute ist er überzeugt, daß Mutters Lügen Wahrheit sind.

Ausgeliefert

Im April, kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag, heiraten Hikmet und ich vor dem Standesamt in Tokat.
Sie kaufen mir ein weißes Satinkleid mit langen Ärmeln und einem perlenbesetzten Dekolleté. Es ist das häßlichste Kleid, das ich je getragen habe. Während der Zeremonie trete ich Hikmet auf den Fuß und sage: »Die Frau führt den Haushalt.« Dies ist ein alter türkischer Brauch – wer schneller mit dem Treten ist, hat das Sagen.
»Was soll der Quatsch?« Hikmet stößt heftig gegen mein Schienbein. Nicht einmal den kleinsten Scherz gönnt er mir. Er läßt alle meine Träume zu Seifenblasen werden. Ich werde rot und schäme mich.
Eine Enttäuschung folgt der anderen. Allmählich durchschaue ich, mit was für einem Typ Mann ich es da zu tun habe. Gut, wir lieben uns nicht. Das akzeptiere ich. Aber Respekt erwarte ich.

Warum ich mich damals nicht gewehrt, das alles fast geduldig hingenommen habe? Wieder und wieder stelle ich mir bis heute diese Frage. Wieder und wieder finde ich nur die gleiche Antwort: Es war der Moment gekommen, auf den wir alle – meine Schwestern, meine Freundinnen und ich – jahrelang systematisch vorbereitet wurden. Die Gehirnwäsche zeitigte Erfolg.
Das Ziel der Erziehung türkischer Mädchen ist, dem Mann, der ihr zugewiesen wird, eine gute Ehefrau zu sein. Von Liebe hat keiner was gesagt.
Ist es da nicht schon eine Sünde, daß ich Hüseyin liebe und begehre, obwohl Mutter will, daß ich Hikmet heirate? Betrüge ich meinen künftigen Mann nicht schon vor der Ehe?
Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Am liebsten würde ich mit einem Imam sprechen. Aber sie würden es mir niemals erlauben, allein in die Moschee zu gehen.
Jetzt geht es mir wie Yasemin, meiner Klassenkameradin, die so früh verheiratet wurde. Voller Zuversicht sprang sie in die Ehe – nur Wochen später folgte die Ernüchterung. Wie sagten wir damals?
»Pech gehabt.« (...)


aus: "Erstickt an euren Lügen – Eine Türkin in Deutschland erzählt" von Inci Y.
Unter dem Pseudonym Inci Y. bricht eine Türkin das Schweigen der Frauen und erzählt stellvertretend für Hunderttausende ihr Leben: als Mädchen eingesperrt, als Frauen gedemütigt, geprügelt, vergewaltigt. Von Liebe spricht keiner. Die einen hintergehen ihre Männer, die anderen sind stumme Dulderinnen. In Anatolien genauso wie im Land der Verheißung, in Deutschland.
Nach außen hin sieht es aus, als würde sie ein ganz normales Leben führen, in Deutschland. Sie lebt in einer Mietwohnung in unserer Nachbarschaft. Ihre Kinder gehen mit unseren zur Schule. Aber Inci Y., 34, ist Türkin, und was ihr ganz normales Leben zu sein hat, bestimmt die Familie. Ganz normal ist die erzwungene Heirat mit dem Sohn des Geliebten der Mutter. Die Vergewaltigung durch den eigenen Mann vor der Hochzeitsnacht. Der Betrug mit dem Jungfrauentuch. Ganz normal ist, daß die Familie ihres Mannes versucht hat, sie in dem anatolischen Dorf zu töten, als sie nach der Scheidung das Sorgerecht für die Kinder durchsetzen wollte. Ganz normal ist auch, daß sie bis zu ihrem 29. Geburtstag mit keinem Mann freiwillig geschlafen hat, dafür aber mit Männern aus dem engsten Umkreis der Familie. Ganz normal wäre, daß Inci ihren Mund hält – aus Gründen der Familienehre. Aber sie redet ... (Piper)
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