(...) Um sieben Uhr überschritten wir mit donnerndem Hurra die Grenze. Wir waren in Feindesland. Hart hinter ihr lag ein erschossener Österreicher. Er war bis an die Haare mit seinem Mantel bedeckt.
Es war der erste Tote.
Dann durchzogen wir ein böhmisches Städtchen und machten ein kurzes Rendezvous im Korn. Ein eigentümlich Gefühl, in das reifende Weizenfeld zu treten. Aber kein Platz war sonst zu finden. Und jede Schonung hat aufgehört. Den Teufel auch, jetzt gilt's. Du oder ich; mit äußerster Anspannung aller Kräfte. Das Friedensland mit seinen Satzungen und Gesetzen dämmert irgendwo weit, weit hinter uns.
Und wieder vorwärts! Die Sonne brannte wie in Innerafrika. Ein sengend heißer Tag stand uns bevor.
Kaum waren wir drei bis vier Minuten im Marsch, als die Riesengestalt des Brigadegenerals auf seinem gelben flandrischen Hengste uns entgegenraste. Sein Adjutant konnte kaum folgen. Von fern schon schrie er: »Linksum machen, die Österreicher sind da!« Und kurz vorm Bataillon brachte er mit mächtigem Ruck, sich tief im Sattel zurückbiegend, sein Pferd zum Stehen, um es augenblicklich wieder herumzureißen und, dem Gaul die Zinken einsetzend, in die Richtung gegen den Feind uns voran zu sprengen. Noch seh' ich die fliegenden Quasten der Schärpe.
»Linksum!« und wir steigen in »Kolonne nach der Mitte« die Anhöhe hinan. Der Schützenzug schwärmte aus. Schneidig ging er vor. Der Hauptmann ritt selbst mit. Ich führte das Soutien. Wir Offiziere zogen die Säbel (ich mit einem gewissen theatralischen Schwung) und ließen sie im gleißenden Sonnenlichte ihre Freude haben. Bald kam der Hauptmann zu uns zurück. Nichts war zu hören, nichts zu sehen.
Da . . . b s s s s s s s s s t – b u m ! die erste Granate.
Sie flog weit über unsere Köpfe fort. Aber wir alle, ohne Ausnahme, hatten eine tiefe Verbeugung gemacht. Selbst der Hauptmann schien einen Augenblick die Mähne seines Pferdes mit den Lippen berühren zu wollen. Die zweite Granate flog über uns weg. Die Verbeugung war schon weniger tief.
Der Hauptmann, die Faust mit dem Säbel auf die Gruppe seines Pferdes setzend, sah uns lächelnd an. Aus seinen Augen strömte eine solche Ruhe, daß wir wie auf dem Exerzierplatz vorgingen.
Nun knallten die ersten Gewehrschüsse. Bald hatten wir ein Wäldchen erreicht und breiteten uns hier am andern Rande hinter den Bäumen aus. Tak, tak, tak, sagte es, tak, tak, tak–tak–taktak–taktaktaktak–taktak–tak–taktaktak . . . Wie in einem großen Telegraphenburean hörte sich's an. Es waren die feindlichen Kugeln, die mit diesem Geräusch in die Stämme schlugen, hinter denen wir standen. Wir konnten nichts vom Feinde sehen.
Zum Kuckuck, wo kommen die Schüsse her? Ah so, ja, ja! Von der Kirchhofsmauer uns gegenüber.
Da trifft die erste Kugel. Dicht neben mir sinkt einer meiner Füsiliere, mitten durch die Brust geschossen. Ich seh's vor mir: das Gewehr entfällt ihm, sein Mund öffnet sich weit, es ist wie ein krächzender Ton, die Augen werden ganz groß, dann bricht er, mit den Händen greifend, zusammen.
Und nun blieb mir wirklich nicht viel Zeit mehr, mich mit Toten und Verwundeten zu beschäftigen. Der Hauptmann rief mich, und wir sahen von einer dicken Buche aus mit unseren Krimstechern ins Gefecht. Das glänzte! Das blitzte, das funkelte! Ein weißes Regiment neben dem andern, vor und hintereinander, zog auf uns zu. Deutlich hörten wir hier, da, dort, rechts, links, fern, nah die Regimentsmusiken. Alle spielten den Radetzkimarsch.
Wir standen in der äußersten Avantgarde.
»Hier bleiben wir!« sagte der Hauptmann zu mir. »Zu Befehl, Herr Hauptmann,« antwortete ich ein wenig hastig. Er legt mir lächelnd die Hand auf die Schulter.
Plötzlich, in ausgreifendem Schritt, kommen zwei Pferde auf uns zu, zwischen uns und der Kirchhofsmauer. Der Brigadegeneral, mit einem Schuß durch den Unterleib, liegt in den Armen seines Adjutanten. Die feindlichen Jäger schießen wie toll auf die beiden. Aber sie kommen in unserem Wäldchen an. Der General, bewußtlos, wird weiter rückwärts getragen. Der kühne, schöne General. Vor einer Viertelstunde noch ein blendender Achill, strotzend vor Mut und Kampflust! und nun ein Häufchen Elend.
Der Feind kommt! Alle Wetter! Wir stehen ja ganz allein. Schon über eine Stunde halten wir das Wäldchen. Der Hauptmann geht mit einem Hornisten nach rechts, um sich die Lage anzusehen. Ich übernehme für den Augenblick das Kommando. Just krabbelt's und kribbelt's an der uns gegenüberliegenden Mauer herunter, und rechts und links von dieser brechen dicke Kolonnen auf uns ein. Ich ziehe im Laufschritt das Soutien an den Waldrand. Dann schrei' ich mit der Fistel:
»Rechts und links marschiert aus! Marsch! Marsch!« Dann, langgezogen: »Schnellster!«
Und die Hölle tut sich bei uns auf. Mit wundervollem Mut, mit prächtigem Vorwärts, weit die Offiziere voran, und wenn sie fallen, springen andere vor, so dringt's her gegen uns. Aber der Feind kann nichts machen gegen unser Blitzfeuer. Er muß zurück. Verwundete schwanken auf uns zu.
Da kommt der Hauptmann wieder. Er drückt mir die Hand. Und ein Funkelfeuer wirft sein Auge in mein Herz. Ich weiß, was er will: »Auf!« schreit er, und vorwärts, glühend er voran, mit Marsch, Marsch auf den Feind. Wir sind an der Mauer. Hinaus! Hinab! Mann gegen Mann. Ein langer österreichischer Jäger hebt mich am Kragen hoch und will mich wie einen Hasen abfangen. Aber: »Ha!« faucht es neben mir durch die Nase, und Cziczan »flutscht« ihm das aufgepflanzte Seitengewehr durch die Rippen. Einen Augenblick schau' ich mich um: der alte Sergeant steht neben mir. »Ha!« schnaubt er durch die Nase. Seine Augen rollen. Er ist der einzige, der auch in diesem Augenblick nicht einen Knopf, nicht den Kragen geöffnet hat.
Und Stoß auf Stoß und Schlag auf Schlag. Ein feindlicher Offizier zielt zwei Schritte vor mir auf mich mit seinem Revolver. Ich springe mit dem Degenknauf auf ihn zu. Bums! lieg' ich. Aber es war nicht gefährlich. »Ha,« hör' ich Cziczan, und der Offizier hat von ihm einen Schuß durch die Stirn. Ich bin schon wieder hoch. Meinen Hauptmann erblick' ich, von drei, vier Jägern angegriffen. Den einen würgt er, gegen den zweiten, der wütend mit dem Kolben auf ihn ein schlägt, hält er den Säbel hoch. »Cziczan, Cziczan,« ruf' ich heiser, »Cziczan, Cziczan! Der Hauptmann, der Hauptmann!« »Ha!« und wir springen wie wilde Katzen auf den Raub. Das war hohe Zeit.
Auf dem Kirchhof sieht's greulich aus. Der Feind, immer wieder unterstützt, wehrt sich verzweifelt. Auch wir haben Hilfe erhalten. Nach wie vor ist der Kirchhof umstritten.
Aus der offenen Tür der Kapelle quillt ein dicker schwarzer Qualm; er schlägt draußen nach oben zum Turm. Dieser steht in Flammen.
Grausig sieht's drinnen aus. Es wird gekämpft hier bis zum äußersten, fast um jeden Stuhl. Ein österreichischer Infanterist hat im Todesschmerz die halb herabgeschleuderte Madonna umfaßt. Er ist längst tot. Über und über sind er und das Muttergottesbild in Blut gebadet. Cziczan ist es gelungen, auf die Kanzel zu klettern. Von hier gibt er sicher Schuß auf Schuß in den Knäuel. Vom Altar sind Decke und Gefäße heruntergerissen; sie rollen hin und her zwischen den Kämpfenden. Die Orgelpfeifen, der Erbarmer, die Fenster, alles ist durchlöchert von Kugeln. Vergebens suche ich in die brennende Kirche zu kommen; sie muß endlich unser werden. Da gelingt's mir fast, aber schon bin ich im Strudel wieder draußen. Einer packt mich von hinten an der Schulter, eisern. Ich dreh' den Kopf. Ein graubärtiger Stabsoffizier, mit blutunterlaufnen Augen, will mich herunterreißen. Ich nehme alle Kraft zusammen, zerre mich los und drück' ihn auf ein kleines schiefes Kreuz. Er macht ein Gesicht wie eine scheußliche Maske . . . Schindeln fliegen vom Dach. Und im Pulverdampf, im Dunst, im Qualm ist nichts, nichts mehr zu sehen.
Einer meiner Rekruten vom vorigen Winter ist immer neben mir geblieben. Jetzt seh' ich ihn noch . . . wo . . . wo . . . alles Rauch, Flammen, Schaum, Wut . . . Da hör' ich durch all den Lärm seine gellende Stimme: »Herr Leutnant, Herr Leutnant! . . . Wo . . . wo bist du . . . Mehrkens, Mehrkens, wo bist du . . . Einer umklammert meine linke Hand, fest, schraubenartig. Ich beuge mich zu ihm. Es ist mein kleiner Rekrut, der mich hält. Ein Schuß von der Seite hat ihm beide Augen weggenommen. Aber schon lösen sich seine Hände. Die Finger lassen ab, werden starr, bleiben gekrümmt . . . und er sinkt in den Blutsee.
Der Kirchhof ist unser! Hurra! Hurra!
(...)


(aus "Eine Sommerschlacht" von Detlev von Liliencron) 
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