Reingard  Witzmann: "wunder.orte|zauber.zeichen"

Sagenwege durch Wien

"Die Menschen wussten seit Jahrtausenden von der geheimen Macht der Zeichen. Sie bemalten tiefe Höhlen, bauten riesige Tempel nach astronomischen Gesetzen ausgerichtet, formten Wundertiere und waren stets Suchende, ob sich nicht hinter der wahrnehmbaren Welt noch eine andere, schwer erfahrbare Welt verborgen hält. Einen Schlüssel dazu bilden die Mythen - Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und werden."

(Reingard Witzmann)


Kommt der Reisende nach Wien, wird er zuerst einer Großstadt modernen Zuschnitts gewahr, in welcher es nur allzu hektisch brodelt und immerzu rumort, wo raumgreifend sich ausweitende Kulturlandschaften von übel geplanten Fahrbahnen zerschnitten sind und auf aller imperialer Erhabenheit das Paradigma automobilen Bewegungskults lastet. Schönheit bietet sich dem Auge, wohin es auch immer blickt, bewelkt von den Hässlichkeiten eines in seiner kinetischen Neigung entfesselten Zeitgeistes. Und doch finden sich inmitten all des Trubels steinerne Zeugnisse der Stille und des Beharrens einer von Mythen umwitterten Vergangenheit, welche von einem archaischen Wien, von einem Wien der Wundertiere, der Dämonen, Teufelsgeschöpfe, Glücksritter, Spielleute, Donaunixen, und dergleichen Sagengestalten mehr erzählen.

Den passionierten Stadtbegeher durch diese verflossene Welt des Gestern zu geleiten ist Sinn und Zweck des von Witzmann verfassten literarischen Wien-Führers. Untergliedert nach Stadtteilen, vom musealen Stadtzentrum bis zur sanft alpinen Peripherie schweifend, schlägt die Autorin vermittels Plänen der jeweiligen Stadtviertel Wanderrouten vor, welche an - im Buch sorgsam abgebildeten - Sehenswürdigkeiten vorbeiführen, um die sich allemal noch die abenteuerlichsten Sagen ranken. Witzmann gibt diese volkstümlichen Erzählungen zuerst einmal unkommentiert wieder, lässt solcherart den Leser teilhaben an der ungestillten Sehnsucht des Menschen, übernatürliche Kräfte und daher Macht zu besitzen. Doch hält die Kuratorin für Stadtvolkskunde und Soziologie der Stadt Wien nicht darin schon inne, einfach nur Sagenhaftes und Wunderliches zu repräsentieren, sondern stellt dazu die Frage, was denn nun wirklich geschehen ist, was also die Geschichtswissenschaften dazu anzumerken haben, wie es in dem jeweiligen Zusammenhang um die Daten und Fakten bestellt ist, und inwieweit Dichtung und historische Wirklichkeit ineinander verflossen sind. Die magischen Vorstellungswelten der Menschen vergangener Jahrhunderte werden nach ihren Ursprüngen hinterfragt, ohne sich dabei in haltloser Manier auf langatmige kulturwissenschaftliche Ausführungen einzulassen. Auf diese Weise wird wohldosiert die kindliche Lust am Märchen gleichermaßen wie das kritische Verstandesvermögen und der Durst nach Gelehrsamkeit bedient. Gilt es doch, die Welt nicht nur zu erleben, sondern auch in ihren Begrifflichkeiten zu verstehen. Ein letztlich also ebenso vergnügliches wie bildendes Leseerlebnis.

Reingard Witzmann spannt mit ihrer Auswahl volkstümlicher Sagen aus Wien einen Bogen über die abwechslungsreiche und nicht selten kriegerische Geschichte der alten Donaumetropole, welche im Laufe der Jahrhunderte zur Residenzstadt des deutschen Kaisers avancierte, lange Zeit über Mittelpunkt eines letztlich nur wenig geliebten Vielvölkerstaates war und in unseren Tagen die Hauptstadt eines auf seine deutschsprachigen Kernzonen geschrumpften ehemaligen Großreichs ist. Nach wie vor zu groß dimensioniert, zu eitel und zu pompös, ist diese Weltstadt namens Wien, ihrer gefräßigen Dominanz wegen, heute für so ein kleines Land wie Österreich vielen Österreichern selbst ein Ärgernis. Das unfreundliche Gerede vom "Wasserkopf" geht um, wovon sich in dem Buch Witzmanns allerdings keine Erwähnung findet. "Sagenwege durch Wien" ist viel mehr eine verliebte Hommage an eine Stadt voll der wundersamen Dinge, ein durchaus amouröses Buch für deklarierte Wien-Freundinnen und Wien-Freunde aus aller Welt, an welche sich die Autorin dann auch gleich in ihrem Vorwort, das ausdrücklich statt eines Vorworts geschrieben ist, mit einer vertrauensseligen Du-Anrede wendet. Einer liebenden Gesittung folgend breitet Witzmann diese Welt der "Wunderorte" und "Zauberzeichen" vor dem wohl allemal noch verzückten Leser in ihrer vollendeten Pracht aus. Die Errichtung des mit Dämonenfiguren gezierten mächtigen Stephansdoms gehört als epochales Stadtereignis dann ebenso zu dieser von magischen Gestalten beseelten Sagenwelt, wie die weitaus nüchterner sich gerierende Befreiung - eigentlich eine immense kostspielige Auslösung - des in Erdberg bei Wien inhaftieren englischen Königs Richard Löwenherz durch seinen getreuen Hofsänger, den sagenhaften Blondel, oder die Erzählung über den gewitzten Musiker Augustin, welcher, da dem Weintrank nicht abgeneigt, sich eines frühen Morgens beim Erwachen zu seinem Schrecken in einer tiefen Pestgrube inmitten von Leichen wiederfindet. Eine ebenso missliche wie nicht ungefährliche Situation, doch macht sich der Sänger den Pestknechten durch die Anstimmung seines populären Walzerlieds "O, du lieber Augustin" bemerkbar, sodann sie ihm sofort beim Ausstieg aus dem Massengrab behilflich sind. Ein Lied übrigens, das bis unsere Tage hinein in Wien populär ist und dessen Kenntnis gewissermaßen den echten Wiener ausweist.

Es verbietet sich ganz selbstverständlich, über den Inhalt des buchgewordenen Wiener Sagenschatzes auch nur ein Wort zu verlieren, soll der Spannung doch nicht voreilig ein Abbruch getan werden. Erwähnenswert ist jedoch die Fülle an originellen Details, die dank der akribischen Ausführungen Witzmanns aus dem Dunkel der Vergangenheit in das Licht der Gegenwart treten. Also in die bewusste Wahrnehmung des interessierten Zeitgenossen. So erzählt Witzmann von einem sogenannten Hasenhaus, das tatsächlich bis zum Jahre 1749 in der Wiener Kärntner Straße gestanden ist, und dessen Fassade mit sonderbaren Darstellungen von Jagdszenen bemalt war. Diese waren nämlich insofern sonderbar, als dass sie, zur hellen Freude eines jeden Kritikers der Jägerei, eine verkehrte Welt zeigten, in welcher nicht Hasen von den Hunden gehetzt und von den Jägern erschossen werden, sondern man sah auf diesen Malerein Menschen, gejagt, gefoltert und gerichtet von Hasen.
Und auch so manche Begriffsklärung entlockt dem Leser ein erstauntes Aha-Erlebnis. So erfährt man, dass das wienerische Springinkerl, eine nach wie vor übliche, doch in ihrem ursprünglich abergläubischen Sinngehalt kaum mehr verstandene Bezeichnung für zappelige Kinder, in der österreichischen Märchenwelt ein Teuferl beschreibt, gewissermaßen also einen kleinen Tattermann (diese Bezeichnung leitet sich von dem Wort "Tartarus" ab) oder auch koboldartigen Dämon, der den Menschen über dienstbare Gefälligkeiten mit List und Tücke dem Teufel zuführt. Interessant ist es auch zu erfahren, dass der prominente Platz beim Schottenstift, in der Wiener Innenstadt, deswegen Freyung heißt, weil über diese Namensgebung an das Privileg der Stiftsherren erinnert wird, von der weltlichen Obrigkeit verfolgten Menschen Asyl gewähren zu dürfen. Der Name des im Jahre 1155 gegründeten Stifts erinnert übrigens an jene irischen Mönche, die Herzog Heinrich II. Jasomirgott nach Wien holte und welche die "Schottenmönche" genannt wurden, obgleich es sich tatsächlich um Iren handelte. Ein Indiz für eine Zeit, zu welcher es noch galt, ansässiges Volk über die Einfuhr von Missionaren für den "einzig wahren Glauben" zu gewinnen.
Details wie diese bringen natürlich selbst noch dem Wiener seine Stadt näher, machen ihn heimisch in den eigenen "vier Wänden" und vermitteln dem neugierigen Gast eine erste anregende Bekanntschaft mit dem Gegenstand seiner Betrachtung. Insofern eignet sich Witzmanns Führer durch das Märchenland Wien ebenso für den an Heimatkunde interessierten Österreicher, wie auch für den wissbegierigen Stadttouristen, welcher ein Stadtgeleit der etwas anderen und anspruchsvolleren Art begehrt. Und schlussendlich wird wohl auch ein jeder Freund volkstümlicher Mythen an diesem Buch seine helle Freude haben. Auch selbst dann noch, wenn es nicht seine erklärte Absicht sein sollte, diese Stadt bei Zeiten zu bereisen.

Jede ältere Stadt erzählt ihre Geschichte aus ihren Wahrzeichen. In diesen Wahrzeichen gibt sich die Seele eines historisch gewachsenen Gemeinwesens zu erkennen, nicht zuletzt das lehrt Witzmanns Spaziergang durch den Sagenschatz der historischen Wienerstadt. Ein ebenso vergnüglicher wie gelehriger Lesestoff für Liebhaber städtischer Mythologie empfiehlt sich somit für Jung und Alt zur Lektüre, weil voll der volkstümlichen Kunde, wie denn als spannendes Märchenbuch wohl auch für jugendliche Leser im Volksschulalter bestens geeignet.

(Tasso; 11/2003)


Reingard Witzmann: "wunder.orte|zauber.zeichen"
NP-Verlag, 2003. ca. 180 Seiten. (Ab 8 J.)
ISBN 3-85326-271-6.
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