Joanne K. Rowling: "Harry Potter und der Halbblutprinz"


Terror im Muggel-Land

Am 16. Juli 2005, Punkt 1.01 Uhr MESZ, als drüben auf der Insel die Geisterstunde gerade mal eine Minute alt war, ereignete sich auch im von nächtlicher Dunkelheit durchströmten Herzen Wiens Sonderbares. Kostümierte Menschen mit spitzen Hüten, angeknickten Brillen, Zauberstab-Talmi und erwartungsfrohem Lächeln harrten vor dem Verkaufstresen eines Buchladens auf ein Ereignis, das gemäß dem Gesetz der Marketingmagie nur alle zwei Jahre eintritt. Und dann, endlich, - als hätten alle belesenen Zauberer unisono "Jetzt!" geschrieen - wechselte J.K. Rowlings neuer Roman "Harry Potter and the Half-Blood Prince" in großer Stückzahl die Besitzer.

Gespenstisch-makaber geht es dann gleich im ersten Kapitel zur Sache. Nur neun Tage nach den Bombenanschlägen von London und fünf Tage vor weiteren Attentatsversuchen in Britanniens Hauptstadt, öffnet Mrs Rowling dem Leser ein Zeitfenster, in dem der Premier der Muggles vor ähnlichen Problemen steht wie sein realer Amtskollege in 10 Downing Street (Vorahnung der Autorin?). Es ist Juli (!) und Terror überzieht das Land, Brücken stürzen ein, Menschen verschwinden oder werden ermordet. Ursächlich sind natürlich Lord Voldemorts Mordschergen, die Todesser. Doch verglichen mit dem, was nach dem Willen des Dunklen Lord noch kommen soll, ist das erst eine sanfte Brise vor dem Sturm.

Das weiß auch Harry Potters weiser Mentor, der mächtige Zauberer Albus Dumbledore. Diesmal holt er seinen Schützling höchstpersönlich von dessen spießiger Ziehfamilie, den Dursleys, ab. Harry ist in höchster Gefahr, schließlich besagt die Prophezeiung, dass nur einer von beiden überleben darf - entweder er oder Voldemort. Ehe das Zaubererinternat von Hogwarts noch erreicht ist, geht es schon auf der Zugfahrt dorthin brutal zu. Mit gebrochener Nase und paralysiert bleibt der Potter-Spross im Abteil liegen. Sein albinoartiger Gegenspieler und Mitschüler Draco Malfoy scheint selbst zum Todesser geworden zu sein, wie Harry sowohl Dumbledore als auch seinen besten Freunden, Hermine und Ron, begreiflich zu machen versucht. Niemand glaubt ihm. Tief beunruhigt ist Harry auch von Dumbledores Verletzung: eine Hand des großen Meisters wirkt ledrig und verbrannt. Zur Krönung der Misere erhält der finstere Slytherin-Professor Severus Snape auch noch den lang begehrten Lehrstuhl zur Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Krönung der Misere? Fast: Fenrir Grayback ist der wohl schlimmste Ausfluss aus JKRs Feder. Der psychisch derangierte Werwolf liebt Kinderfleisch.

Doch Joanne Kathleen Rowling wäre nicht die Könnerin ihres Fachs, die sie nun mal ist, würde der Humor zu kurz kommen. Auf manch ein düsteres Kapitel folgt eines mit vielen skurrilen Einlagen, um das jugendliche Leserpublikum nicht allzu sehr in Angst und Schrecken zu versetzen. So trinkt Ron einen Liebestrank, den eine Verehrerin eigentlich Harry unterjubeln wollte - mit heiteren Folgewirkungen. Die schrullige Luna Lovegood wartet mit gewohnt verqueren Verschwörungstheorien auf, und eine neue Figur, der beleibt-joviale Professor Slughorn, lädt zu amüsanten Promi-Partys. Freilich fordert auch die Pubertät ihren Tribut, das amouröse Karussell legt an Tempo zu. Endlich erfährt die Lesergemeinde, ob Hermines Herz nun für Ron oder doch für Harry schlägt, wie es Ginny Weasley mit dem Küssen hält, oder ob Bruder Bill Weasley gänzlich dem frankophonen Gesäusel Fleur Delacours erliegt. Rowling schildert das Innenleben ihrer verliebten Zaubererzöglinge mit viel Selbstironie und absolut realitätsnah.

Mit Fortschreiten der Handlung lässt Dumbledore tief in das Vorleben Lord Voldemorts blicken, der ja von ihm als Waisenkind nach Hogwarts geholt worden war. Beim Werdegang vom hochbegabten, aber soziopathischen Zauberlehrling zum entseelten Mörder kommt Beklemmung auf. Niemand möchte dieser Person wohl selbst realiter begegnen. Dumbledore führt Harry aber zugleich auch die größte Schwäche des mächtigen Dunklen Lord vor Augen: dessen Unfähigkeit zu lieben! Nur durch die Kraft der Liebe und durch das Vernichten aller Horcruxes kann der oberste Schwarzmagier ausgelöscht werden. Was die Crux mit den Horcruxes ist, möge der Leser selbst in Erfahrung bringen.

Vom Tarot her mag die Karte "Turm" bekannt sein, meist deutet sie auf ein unerwartetes Ereignis mit verheerenden Folgen hin, wie schon der auf ihr abgebildete Blitz, welcher das Gemäuer bersten lässt, versinnbildlicht. Am Astronomieturm von Hogwarts tritt dieses Desaster ein. Zuerst erscheint am nächtlichen Firmament ein grün schimmernder Totenkopf, aus dessen Augenhöhlen eine Schlange empor kriecht: das Symbol der Todesser. Dann geschieht ein kaltblütiger Mord. Wer das Opfer ist, das verrät Seite 556 (der englischen Ausgabe). Schlussendlich bleibt noch die zentrale Frage, jene nach dem Buchtitel: Wer ist denn nun der "Halbblutprinz": Harry, Voldemort, weder noch? Selbst wenn diese Namenschiffre entschlüsselt ist, folgt alsgleich eine weitere: R.A.B. Drei Buchstaben, durch die die Potter-Gemeinde bis zum Erscheinen des VII. und letzten Bandes in wohl nie gekanntes Rätselraten gestürzt werden wird.

Kurz vor der Veröffentlichung von "Harry Potter und der Halbblutprinz" zeigte sich J.K. Rowling sehr zufrieden, nach eigener Angabe, viel zufriedener als nach Band II, IV oder V. Eine ähnliche Wertung trifft auch der Rezensent. Neben Band III ist der VI. sicherlich der bislang atmosphärisch dichteste. Der zwei Schuljahre zurückhängende Kinofilm "Harry Potter und der Feuerkelch" läuft am 18. November 2005 an, dann, wenn es auf der Leinwand heißt: "Lumos!"

(lostlobo; 07/2005)


Joanne K. Rowling: "Harry Potter und der Halbblutprinz"
Originaltitel: "Harry Potter and the Half-Blood Prince"
Übersetzt von Klaus Fritz.
656 Seiten, Carlsen 2005
Buch bei amazon.de bestellen