Graham McNamee: "Alice im stummen Land"


"Alice im stummen Land" ist ein unglaubliches Buch. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so ein gutes Jugendbuch gelesen habe. Ich habe es beim ersten Mal auf einen Sitz gelesen und dann gleich nochmal - gaaaaaanz langsam, um jedes Wort auszukosten. Es hat mich gefesselt und ich bin jetzt noch ganz weg davon.

Alice hat eine "Frankenstein-Stimme, ganz brüchig, kratzig und kaputt. (Sie) schaff(t) es kaum durch einen Satz, ohne dass (ihr die Stimme) durchdreht und Hunden oder kleinen Kindern einen Schrecken einjagt". Diese Stimme verdankt sie einem Gewalt-in-der-Familie-"Zwischenfall". Wie sonst immer die Mutter hat dieses eine Mal ihr Vater sie an der Kehle gepackt und hochgehoben. Ihr Kehlkopf, ihre Stimme haben das nicht überlebt.
Alice schreibt Songs. Eric ist Alices Freund. Er hat "diese Nerven-Muskel-Geschichte (...), sodass die (rechte) Hand die meiste Zeit zittert". Die beiden sind auf liebevolle und respektvolle Art und Weise miteinander verbunden. Einer ihrer besonderen und intimen Momente ist, wenn Alice Erics Kopf rasiert. Rachel ist Erics Cousine, und der dritte jugendliche Hauptcharakter. Sie hat "hundert Kilo Übergewicht" und versucht sich durch schwarze Kleidung unsichtbar zu machen. Rachel besitzt die Stimme, von der Alice nur träumen kann: ein wundervolles Timbre und warmen Schmelz. Eine wichtige Person aus der Alice umgebenden Erwachsenenwelt ist ihre Mutter, "(die) so damit beschäftigt (ist), sich wegen Fleisch zerfressender, Busse entführender Serienmöder zu sorgen, dass sie nie einen Augenblick Zeit hat, über die Sachen nachzudenken, die ihr wirklich Angst einjagen sollten, zum Beispiel dass sie mit vierzig ohne Freunde dastehen könnte".

Alice beobachtet Personen genau und trifft mit ihren Beobachtungen schonungslos ins Schwarze. Auch zu sich selbst ist sie streng, was ihre Gefühle betrifft. Sie muss sich in ihrer Geschichte noch einmal dem Vater, der nach dem Vorfall die Familie verlassen hat, stellen. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie sich auch dem Klang ihrer Stimme noch einmal stellen muss. Nicht nur scharfe, treffende Worte und ihre emotionalen Liedertexte sind ihr Ausdrucksmittel, sondern auch ihre Stimme selbst.

Alices Mutter ist ein perfektes Psychogramm einer realitätsverweigernden Mutter, die selbst nicht den Mut aufgebracht hat, sich rechtzeitig vom gewalttätigen Ehemann zu trennen. Die nicht-stattfindende Kommunikation, wenn sich Alice und ihre Mutter miteinander unterhalten, ist erschreckend .

Eric ist der einzige positive männliche Charakter in diesem Buch. Er ist an Schlüsselstellen der Handlung sehr wichtig, ohne aber je seine zurückhaltende Position im Hintergrund zu verlassen.

Auffallend war noch der Einsatz der Farben in diesem Buch. Rachels schwarze Kleidung, ihre orangen Haare, Alices sonnengelbes Zimmer, ... Sie sind nicht zur Erläuterung des Seelenlebens der Personen da, sondern eher ein malerischer Kontrapunkt zum Auftreten der Jugendlichen. Wie wenn ein Graffiti hin und wieder durch die Worte blitzt.

Ich bin ehrlich verblüfft, dass ein männlicher erwachsener Autor - in der Kurzbiografie als "Büchermensch" bezeichnet - eine derart treffende Sicht auf die Welt aus den Augen einer jugendlichen weiblichen Person zustande bringt. Alice erzählt ihre Geschichte selbst. Der Erzählstil ist so unglaublich authentisch, dass man sie regelrecht zu den Lesern sprechen hört. "Ihre" Liedertexte sind zwischen den Kapiteln eingefügt und im Anhang stehen sie sogar noch einmal in originaler Sprache (Englisch). Diese lyrischen Texte heben den knappen, präzisen Stil des Buches noch deutlicher hervor.

(Die Prinzessin - begeistert; 05/2002)


Graham McNamee: "Alice im stummen Land"
Ueberreuter, 2001. 144 Seiten.
(Ab 14 J.). ISBN 3-8000-2687-2.
ca EUR 9,90.
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