Jostein Gaarder: "Das Orangenmädchen"

"Tele-skop bedeutet ungefähr, das zu sehen, was weit entfernt ist. Aber konnte diese Geschichte über ein 'Orangenmädchen' wirklich etwas mit einem Weltraumteleskop zu tun haben?"

(Auszug aus "Das Orangenmädchen")


Eine Hommage an das Leben 

Mit dieser Geschichte begibt sich Jostein Gaarder auf eine Gratwanderung zwischen Liebe und Trauer, zwischen Lebensfreude und Verzweiflung und zwischen spannender Erzählung und tiefsinniger Fragestellung. 
Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Jostein Gaarder ist voll gefordert, wenn es um die Behandlung zwischenmenschlicher Probleme, um jugendliche Verwirrungen und um Grundfragen der menschlichen Existenz geht. Es besteht kein Zweifel daran, dass Gaarder diesem schwierigen Themenkomplex gewachsen ist. Die Geschichte macht neugierig, ist durchweg lesenswert und wirkt nicht aufgesetzt. 

Der 15-jährige Georg wohnt mit seiner Schwester, seiner Mutter und seinem Stiefvater in Oslo. Sein Vater Jan Olav ist vor elf Jahren gestorben. Eines Tages taucht ein Brief auf, den Jan Olav kurz vor seinem Tod an seinen Sohn Georg geschrieben hat. Der Brief war über viele Jahre gut versteckt und wurde zufällig beim Aufräumen entdeckt. Von diesem Brief handelt der Roman.

Jan Olav konnte nicht ertragen, dass er seinen 4-jährigen Sohn zurücklassen musste, ohne ihn wirklich kennen gelernt zu haben. Aus diesem Grund hat er ihm einen Brief geschrieben, in der Hoffnung, dass dieser Brief gefunden werden würde, wenn Georg alt genug wäre, den Inhalt zu verstehen. 
Der Brief beschreibt im Kern eine Liebesgeschichte, die Jan Olav als 19-jähriger mit dem geheimnisvollen "Orangenmädchen" erlebt hat. Die Begegnungen sind voller jugendlicher irrationaler Verhaltensweisen. In diesen Beschreibungen kommt eine Originalität zum Ausdruck, die zum Ziel haben muss, die Bedeutung individueller Erfahrungen heranwachsender Menschen besonders zu betonen - Erfahrungen, die ihrer Einmaligkeit wegen zeitlebens prägend sind. 

Der Roman ist voller Rätsel, die gekonnt verpackt wurden. Wer ist dieses "Orangenmädchen" und welche Bedeutung hatte es für Jan Olav? Der Leser findet überraschende Antworten auf diese Fragen und kann auch die Motivation des Vaters für diesen Brief verstehen, dem es um eine existenzielle Frage ging, die nur Georg beantworten kann. 

Das Hubble-Teleskop, welches an vielen Stellen des Romans erwähnt wird, und für das sich Georg interessiert und das auch seinen Vater begeistert hat, ist ein Synonym für die unendliche Entfernung zwischen Leben und Tod, aber auch für die tiefe Verbundenheit und geistige Nähe zwischen Georg und seinem Vater. Metaphern dieser Art sind nicht untypisch für Jostein Gaarder, der damit Unaussprechliches zum Ausdruck bringt. 

Georg setzt sich mit seinem persönlichen Rätsel auseinander, und der Vater erhält posthum eine Antwort auf seine drängende Frage. Die Antwort wird geschickt in den Roman eingewoben. Georg vollendet die Geschichte auf dem alten Computer des Vaters, auf dem auch einst der Brief entstanden ist. Gaarder schreibt gleichzeitig tiefsinnig und originell. Er beweist, dass er mit dem Thema Tod umgehen kann, indem er dessen vernichtende Kraft in neue Lebensenergie transformiert - eine Hommage an das Leben. 
Es ist nur ein Roman, aber man hat den Eindruck, dass Jostein Gaarder hier ein persönliches Buch geschrieben hat. 

(Klemens Taplan; 10/2003)


Jostein Gaarder: "Das Orangenmädchen"
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Hanser, 2003. 192 Seiten.
ISBN 3-446-20344-3.
ca. EUR 14,90. Buch bestellen

Zur Rezension von Jostein Gaarders "Das Kartengeheimnis"