Bart Moeyaert: "Brüder"
Der Älteste, der Stillste, der Echteste, der Fernste, der Liebste, der Schnellste und ich
"Ich
habe nie gedacht, dass ich Schriftsteller werden würde, obwohl
ich gerne schrieb. Eigentlich dachte ich mehr an Förster oder
Tierarzt. Erst später wurde mir klar, dass ich die Berufe aus
Büchern hatte, denn auch lesen machte mir viel Spaß.
Ich war kein guter Schüler. Jede Wolke, die am Fenster
vorbeizog, hatte ich gesehen. Als Jugendlicher war ich nicht
glücklich mit meinen älteren Brüdern, die
Sachen machten, die ich noch nicht durfte. An meinem dreizehnten
Geburtstag begann ich ein Tagebuch und in Ermangelung einer Freundin
erfand ich eine: Judith. Sie wurde so wichtig für mich, dass
ich später ein Buch über sie schrieb. Dieses Buch
schickte ich einem Verlag, und es wurde veröffentlicht, als
ich neunzehn war. Die Leute nannten mein Buch plötzlich
'Debüt' und mich 'Autor'..."
So berichtet Bart Moeyaert, mittlerweile einer der bekanntesten und
bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautoren Belgiens, am Anfang seiner
Netzseite im Internet. Ich bin mir nach dem Lesen seines ersten bei
Hanser verlegten Buches "Brüder", das ursprünglich
schon 1999 erschienen ist, absolut sicher, dass sein Lebensschicksal,
als jüngster unter insgesamt sieben Brüdern in einer
intakten Familie aufzuwachsen, diese erstaunliche
Schriftstellerkarriere außerordentlich begünstigt
hat.
Er nennt sie nicht bei ihren Namen, seine Brüder, er hat
poetische Bezeichnungen für sie: der Älteste, der
Stillste, der Echteste, der Fernste, der Liebste, der Schnellste - und
eben "ich".
Das von Mirjam Pressler wieder auf das Beste übersetzte Buch
berichtet in etwa 40 gleich langen Geschichten von jeweils etwa drei
bis vier Seiten Begebenheiten aus der Zeit, als Bart Moeyaert noch
nicht in die Schule ging. Die Brüder spielen ihrem Vater
Streiche und akzeptieren ihn doch alle als Oberhaupt der Familie. Ein
anderes Mal wollen die Brüder sich in richtige
Bösewichte verwandeln, was ihnen aber nur ziemlich
unzureichend gelingt.
Diese zum Teil lustigen, zum Teil aber auch nachdenklichen Geschichten
dokumentieren eine kluge Beobachtungsgabe des Kleinsten, und enden oft
für den Leser recht überraschend. Manchmal muss man
noch einmal lesen, um den Clou zu verstehen, den geheimen Witz des
Jüngsten, der, hätte er damals schon schreiben
können, diese Geschichten genauso erzählt
hätte, wie später der erwachsen gewordene
Schriftsteller.
Das ganze Buch ist eine Hommage des Autors nicht nur an seine geliebte
Mutter, seinen geachteten und respektierten Vater und an seine sechs
Brüder, sondern an eine Kindheit, wie man sie sich
schöner und glücklicher nicht denken kann.
In einer solchen großen Familie aufzuwachsen, ohne materielle
Not - jedenfalls wird davon überhaupt nichts berichtet - ist
ein großes Glück und ein großer Segen.
Unsere Kinder, die oft als Einzelkinder heranwachsen, mögen
vielleicht im Kindergarten Freunde finden, aber eine solche
lebensprägende Clique gibt es wohl nur in der eigenen Familie.
Dennoch ist dieses wunderbare Buch eine geeignete Lektüre
besonders für Jungen ab dem Grundschulalter, speziell
vielleicht für wohlerzogene, die bei diesem Buch lernen
können, dass man Streiche spielen kann, dass man ein richtiger
Lausbub sein kann, ohne rabiat, brutal oder asozial zu werden.
Als erwachsener Leser, Vater eines dreijährigen Sohnes, habe
ich bei der Lektüre dieses Kinderbuches viel darüber
gelernt, wie man Kinder an der langen Leine, ihnen ihre eigenen, auch
manchmal grenzwertigen Erfahrungen lassen kann, und dennoch seinen
Respekt ihnen gegenüber nie verliert.
Es ist zu wünschen, dass der Hanser Verlag weitere
Bücher dieses außergewöhnlichen Autors
veröffentlicht.
(Winfried Stanzick; 08/2006)
Bart
Moeyaert: "Brüder"
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler.
Hanser, 2006. 168 Seiten. (Ab 10 J.)
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