Konrad Adam: "Die alten Griechen"


Wurzel europäischen Denkens

Die griechische Kultur ist eine Hauptwurzel des heutigen Europas, auch wenn ihr Einfluss sehr stark durch das Christentum überlagert wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass sie ihre Blüte vor zweieinhalbtausend Jahren hatte, war sie erstaunlich fortgeschritten und in vielerlei Hinsicht recht modern: Der Aufbau aller Materie aus Atomen und auch das heliozentrische Sonnensystem wurden beispielsweise von "alten" Griechen postuliert, Jahrtausende, bevor diese Gedanken in Europa wieder aufkamen. Manche Aspekte der griechisch-antiken Kultur hingegen muten ausgesprochen archaisch an, so das verwirrende Pantheon mit Göttern, denen außer der Sterblichkeit nichts Menschliches fremd ist.

Der Autor gibt einen gründlichen Überblick über die zahlreichen Facetten der griechischen Kultur, die seiner Ansicht nach im modernen Erziehungswesen völlig zu Unrecht ein Schattendasein führt. Zunächst befasst er sich mit der altgriechischen Sprache, die sich einerseits durch einen gewaltigen Formenreichtum, andererseits aber durch eine klare Systematik - die erste Grammatik - auszeichnet. Diese Sprache und die Verliebtheit der Griechen in sie und ihre unterschwelligen Feinheiten ermöglichten es, dass in ihrer Blütezeit praktisch alle heute noch gebräuchlichen literarischen Gattungen aufkamen.

Die Griechen, heterogen, wie ihre politische Landkarte aussah, hatten keine einheitliche Kultur, doch ein Hang zu Extremen einte sie, wie man auch aus ihren Mythen ablesen kann. Mut beeindruckte sie, sodass ein entschiedener Auftritt längst feststehende Pläne unmittelbar umwerfen konnte. Moral wussten sie zu ihren Gunsten auszulegen. Sie sehnten sich nach Ausgewogenheit und kamen dieser doch allenfalls in ihren vortrefflichen Bauten nahe.

Ein Kapitel ist, was nicht überrascht, den Göttern gewidmet - Göttern, deren Wesen das menschliche widerspiegelt, und die die Menschen nicht anders als Figuren in einem Spiel zu ihrem Vergnügen oder für ihre Machtkämpfe benutzen. Die Menschen nahmen es hin, denn sie kannten keine Ausrichtung zum Jenseits hin; für sie war allein das Diesseits von Bedeutung.

Zu den größten Erfindungen der Griechen gehört die Demokratie, freilich mit Einschränkungen, denn diese galt für die meisten Menschen in der Polis nicht - Frauen, Sklaven und Freie ohne Bürgerrechte. Der Autor begründet dies sehr gut nachvollziehbar: Mit unserem Begriff des politisch Korrekten kommen wir bei der Analyse der Antike nicht weit, weil für die Griechen galt, dass der Stimmberechtigte sich voll und ganz, unter Einbeziehung all seiner Zeit und seines Vermögens, in die Politik einzubringen hatte. Dies war nur den besagten Bürgern möglich. Es liegt nahe, dass sich das nächste Kapitel dem Verhältnis der Geschlechter zueinander, aber auch der "Sklavenhaltergesellschaft" und dem Überlegenheitsgefühl gegenüber den "Barbaren" widmet.

In einem weiteren Kapitel geht es um die griechische Literatur, die uns noch heute berührt, weil sie auf Mythen beruht, die von Menschen in Ausnahmesituationen handeln; die Geschichten sind im Grunde bei aller Tiefe einfach, zeitlos und daher für Menschen aller Epochen nachvollziehbar und anrührend. Von der Literatur wiederum ist es kein weiter Schritt zur Kunst, die ganz im Zeichen der Schönheit stand - der zudem ein Kapitel über das griechische Körpergefühl gewidmet ist -, und zur Philosophie, auch eine der typisch griechischen Erfindungen, die wie die Literatur ihre Aktualität großteils nicht eingebüßt hat.

Das Verhältnis der Griechen zur Natur können wir heute als Kinder der Aufklärung nicht mehr leicht nachvollziehen. Überdies lässt sich die griechische Kultur auch deshalb nicht leicht rekonstruieren, weil viele ihre sinnlichen Aspekte, so die Musik, verloren gingen.

Am Schluss steht das Prinzip Pandora: Hoffnung war den Griechen fremd. Wie man es dreht und wendet, im Gegensatz zum Christentum sahen die Griechen den Übeln der Welt ins Auge und versuchten allenfalls, ihnen auszuweichen.

Dem Autor gelingt es, die vielen Aspekte der griechischen Kultur trotz ihrer Widersprüchlichkeit und der Befremdung, mit der wir heute einem Großteil von ihnen trotz einer unterschwelligen Vertrautheit begegnen, gut nachvollziehbar und begreiflich darzustellen, wobei er immer wieder betont, auf welche Weise uns die lange christliche Tradition die Sicht auf sie verstellt - was stimmt, wenn es auch, vor allem im Mittelalter, teilweise auf fruchtbare Weise zur Synthese kam.

Es ist ebenfalls wahr, dass die griechische Kultur einen sehr unmittelbaren Zugang zur Natur vermittelte, der uns bedauerlicherweise abhanden gekommen ist. Freilich scheint es mir nicht ganz unbedenklich, das eher pragmatische Naturbild der Aufklärung in einem für Jugendliche gedachten Buch in Schwarz-Weiß-Manier negativ zu zeichnen. Dass es eine Verantwortung der Naturwissenschaft für Ernährung und Gesundheit einer rasch wachsenden Weltbevölkerung gibt, gehört natürlich nicht in ein Buch über die alten Griechen, sollte aber nicht ignoriert werden.

Das Buch bietet viel anschaulich und unterhaltsam angebotene, von etlichen Fotos ergänzte Information und damit eine sehr gute Ergänzung zum Schulunterricht. Es fragt sich jedoch, ob Jugendliche ohne ausgesprochene Neigung zu Geschichte und Philosophie weit über das Vorwort hinauskommen, weil ein Bezug zu ihrer Jahrtausende von der Antike entfernten Welt fehlt, der als Einstieg vielleicht gute Dienste geleistet hätte. Jugendliche hingegen, die dem Thema grundsätzlich Interesse entgegenbringen, werden sich über diese erfreulich umfassende Darstellung freuen und von ihr profitieren. Und auch Erwachsene können durch die Lektüre ihre Allgemeinbildung um einige bedeutsame Nuancen erweitern.

(Regina Károlyi; 10/2006)


Konrad Adam: "Die alten Griechen"
Rowohlt, 2006. 192 Seiten. (Ab 10 J.)
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Konrad Adam, 1942 in Wuppertal geboren, studierte Alte Sprachen, Geschichte und Rechtswissenschaft in Tübingen, München und Kiel. Von 1979 bis 2000 war er Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", anschließend politischer Chefkorrespondent der "Welt". Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, vor allem zur Innen- und Bildungspolitik.