Noch eine Geschichte von Günther


Eine Kurzgeschichte von Alexander Roman Varga


Ich kannte Günther nun schon eine ganze Weile, ohne hinter sein Geheimnis oder das Traurige, das ihn umgab zu kommen.

Zeitweise glaubte ich, dass es zwecklos wäre und ich vermutlich niemals mehr über ihn erfahren würde – und doch versuchte ich es immer wieder.

Irgendwann saßen wir beieinander, als ich ihn einfach fragte: „Günther, warum bist Du so oft traurig?“, und er mir erwiderte: „Warum soll ich glücklich sein?“ Ich nannte ihm Gründe, wie gesund zu sein, froh zu sein, dass es ihm besser erginge, als vielen anderen Menschen, dass er in Frieden leben könne, ....“ , worauf er antwortete: „Gut, dann nenn mich undankbar, aber das wird auch nichts daran ändern.“

Ich fragte ihn: „Du Günther, magst Du mir nicht eine Geschichte erzählen? Ich möchte Dich so gerne verstehen?“.

Lange sah er mich an, sah weg und wieder zu mir her, bis er schließlich sagte: „Nun gut, ich vertraue Dir, das weißt Du, deshalb werde ich Dir diese Geschichte erzählen.“

 

Und damit begann er wieder und ich hörte eifrig zu, um nichts zu versäumen.

 

Nach Wochen und Monaten, in denen sich sein Leben wie eine Galgenschnur immer enger um seine Kehle geschnürt hatte, war Günther an einem Punkt angelangt, da er erkannte, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, deshalb zog er einen Schlussstrich unter allem und reiste gleich am folgenden Tag aus der Stadt ab.

Sein Ziel war eine kleine Ortschaft, irgendwo im Nirgendwo, zwischen sanften Hügellandschaften, mit einem See.

Hier kannte ihn niemand, hier hatte er Zeit zur Ruhe zu kommen und zu überlegen, was nun werden sollte.

Er schlenderte eine kleine Uferpromenade entlang und setzte sich an deren Ende, dort wo sie in ein Wäldchen überging, auf eine Bank und sah auf den See hinaus. Die kleinen Wellen glitzerten im Schein der untergehenden Sonne. Dieses Bild strahlte so viel Ruhe und Frieden aus, beinahe gierig, so als ob er am Verhungern wäre und plötzlich eine reichliche Mahlzeit vor sich hätte, so sog er dieses Bild, diese Stimmung in sich auf, und er spürte wie wohl es tat, einfach nur zu sein, nicht Schmerz, nicht Liebe, nicht Leid, einfach nur Frieden zu vernehmen.

Stunden saß er nur da, und erst in der Dunkelheit ging er.

Am nächsten Tag kam er wieder, teilnahmslos betrachtete er die Menschen; die, die mit Booten auf den See hinaus fuhren, die, die auf einer nahen Hotelterrasse saßen; die, die am Ufer standen und ins Unendliche blickten.

Lange rührte sich Günther nicht von der Stelle. Irgendwann stand er auf und ging. Er lief durch den nahen Wald, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft gestand er sich die Frage ein, die schon die ganze Zeit auf sein Gemüt drückte: „War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, alle Brücken hinter sich abgebrochen zu haben?“

Er war sich nicht sicher, aber er wusste, dass es so nicht hätte weitergehen können. Er hatte eine Entscheidung getroffen , sich für einen Weg entschieden und den musste er nun wohl auch gehen, was immer das bedeuten würde, wie auch immer er sein Leben dadurch verändert hatte.

Er befreite sich von allem Übel, aber auch von allem Guten und stand damit vor dem Nichts. Er alleine war das, was übrig geblieben war.

Später, als es schon Nacht war, kehrte er zum See zurück, stand am Ufer, blickte in die Ferne, wusste, dass er die erhoffte Freiheit wiedererlangt hatte, zu dem Preis, verlassen und einsam zu sein.

Leise sagte er: „Ich halte das alles nicht mehr aus“ , und begann zu weinen; Tränen die er sich seit Jahren gewünscht hätte, aber niemals hatte, denn irgendwann waren sie einfach vertrocknet. Aber nun stand er hier und weinte, er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Er weinte, weil ihn der Schlussstrich seine letzten Kräfte gekostet hatte, er weinte aber auch, weil er sich endlich befreit hatte, von allem, was nur Schmerz und Leid gebracht hatte, und er weinte, weil niemand mehr übrig geblieben war, in seinem Leben, der ihm zur Seite stehen hätte können.

Glücklich und traurig waren jene Tage in der Hügellandschaft am See.

 

Jahre waren vergangen seit dieser Zeit und langsam hatte sich Günther wieder ein Leben aufgebaut. Es war ein harter Kampf gewesen und schwierig war es, Vertrauen zu finden, Vertrauen zu haben.

Besonders schlimm empfand er die Sehnsucht nach Nähe und Wärme und doch war da die Angst, irgendwann wieder verletzt, enttäuscht zu werden und vielleicht dadurch wieder zu einer derart folgenschweren Entscheidung gezwungen zu werden, wie damals – diese Angst war größer als alle Sehnsucht, die für ihn jemals existieren könnte, beschloss er für sich.

Deshalb wollte er alleine bleiben, auf sich gestellt durchs Leben gehen. Zwar würde er damit all die schönen Momente, Augenblicke der Zuneigung, nie mehr erleben und so auch niemals mehr richtig glücklich sein, aber im selben Maße würde er auch nie wieder eine derartige von Hoffnungslosigkeit erfüllte Traurigkeit erleben müssen – und das schien es ihm wert zu sein.

 

Insgeheim hoffte er natürlich darauf, dass eines Tages das Schicksal ein Einsehen mit ihm haben würde und er einem Menschen begegnen würde, bei dem von Beginn an klar war, dass er ihm vertrauen konnte, ein Mensch, eine Frau, die es für wert erachtete ihn richtig kennen zu lernen, ihn zu verstehen und zu begreifen, die ihn aufrichtig liebte. Sie müsste Geduld haben mit ihm, behutsam um ihn werben und ihm zeigen, dass sie bereit wäre, ihr Leben mit ihm zu teilen. Und er würde dann das Opfer bringen, das ihm am schwersten fiel, er würde sich ihr öffnen, würde ihr vertrauen, sich hingeben – mit Angst, mit großer Angst zwar, aber er würde es tun, für sie und für sich. Und er würde diese Frau lieben, dafür, dass sie ihm ein Glück schenkt und ihn von seinem Bann befreit.

 

So und nicht anders müsste es sein. Nach den Erfahrungen, die Günther gemacht hatte, zu urteilen, war die „Gefahr“ ziemlich gering, so jemanden zu treffen und dessen war er sich auch bewusst, aber er würde niemals mehr nachgeben, er hatte einmal alles zurücklassen müssen, war verraten, gedemütigt und ausgenutzt worden, und das würde ihm nie wieder geschehen, auch zu dem Preis für immer allein sein zu müssen, und diesen Preis zahlte er gerne – dieser Sicherheit wegen war er bereit zu verzichten, ohne Bedenken, auf dieses Glück, von dem er schon einmal gekostet hatte.

 

Günther saß mir gegenüber und blickte mich an. Ich fragte:  „Und das ist der Grund, warum du so oft traurig bist?“

Er erwiderte:  „Nein, das ist nicht der Grund.“

Ich gab zurück:  „Ja, aber was denn?“

Günther sagte: „Schau, das sind die Prinzipien, die ich damals erstellte, aufgrund  meiner Erfahrungen, damals war ich verletzt, stand vor dem Nichts, somit traf ich zumindest bis auf weiteres die Entscheidung, alleine zu bleiben, solange wenigstens, bis ich nicht sicher sein kann, dass ich aufrichtig geliebt werde. Das Alleinsein macht mich nicht traurig, es ist lediglich der Grund dafür, dass ich niemals dieses große Glück erlebe; aber der Grund, warum ich traurig bin, oft traurig bin, ist der, dass ich Tag für Tag Menschen kennen lerne, die kein Interesse daran haben zu entdecken, zu erfahren, was wirklich hinter einem steckt, sie sind einfach oberflächlich und manchmal sind sogar diejenigen schlimmer, die behaupten sie wären nicht oberflächlich. Das ist es, was mich traurig macht, dass Menschen vorgeben, sich für einen anderen zu interessieren und es in Wahrheit ganz anders ist, es sie in Wahrheit vielleicht gar nicht gibt.

Die Tragik dabei ist, .... vor Jahren erstellte ich meine Prinzipien nur aus einem einzigen Grund, Angst.

Angst vor Verletzung, Angst vor Enttäuschung und diese Ängste sind nicht nur bloße Ängste, nein sie sind auch noch begründet.“

 

Ich sah ihn verständnislos an: „Und was bedeutet das jetzt?“

Wieder sah er mich lange an, ehe er antwortete:  „Das bedeutet nichts anderes, als das, dass es die Liebe, die ich suche oder auf die ich warte, vermutlich gar nicht gibt und niemals geben wird.“

 

Jetzt verstand ich zumindest, warum Günther so oft traurig war, weil er das, was er sich im tiefsten Grunde seines Herzens wünschte, und das was wir alle uns wahrscheinlich wünschen, nicht zu finden glaubte. Ich habe beinahe das Gefühl, ....

Aber lassen wir diese Geschichte einfach so stehen, auch wenn für mich da noch einige Fragen offen sind, aber vielleicht treffen wir Günther ja bald wieder und wer weiß, kann sein, dass er dann wieder zu erzählen beginnt.

 

 

«