Tag neun


Das Licht ging an. Lisa kratzte mit dem abgebrochenen Nagel des rechten Daumens eine Linie in die feuchte Wand. Neben ihr standen vier, eine, die diese vier quer durchstrich, dann, nach einem Abstand, noch drei. Tag neun.

Es war alles so schnell gegangen.

Bei der Vernissage war es gerammelt voll. Die Bilder zeigten Landschaften und Körper, in weichen Farben gemalt, vieles durch feine Pinselstriche nur angedeutet. Es war ein Must-Event. Lisa trug eines dieser Fototapeten-Kleider mit raffiniertem Schnitt und knielang. Sie sah, wie sie fand, besser aus als fas alle ihre Freundinnen, die sie dort traf. Die Freundinnen waren eher Bekannte, so wie sie mit Gunther mit erfolgreichen Männern verheiratet, denen sie zur Hand gingen und als Aufputz dienten. Veronika, ihre wirkliche Gefährtin von Jugendzeiten an, war nicht erschienen, sie fühle sich mies und bleibe zuhause, hatte sie ihr als Nachricht auf ihr Handy geschrieben. Strahlend und unverfänglich plauderte Lisa, an Sekt-Orange nippend, mit einigen der Anwesenden über Mode und Kunst, drängte sich zur Künstlerin vor, als sie bemerkte, dass Fotografen präsent waren. Was ihre Bilder denn aussagten, wollte sie wissen, das war die Standardfrage. Sie nahm die Antwort nicht wahr. Als einer der Fotografen sie mit der Künstlerin mehrmals abgelichtet hatte, entfernte sie sich wieder von ihr. Zum Abschluss trank sie einen Großen Braunen. Sie wollte frisch sein, denn daheim würde sich Gunther noch etwas von ihr erwarten, spätestens dann, wenn er ihre roten Zehennägel in den hochhackigen Schuhen sähe.

Ihr Auto stand einige Straßen weiter. Es hatte einen Wolkenbruch gegeben, an einem der ersten Sommertage. Der Untergrund war glitschig, vorsichtig setzte Lisa Pfennigabsatz auf Pfennigabsatz. Auch Gunther würde jetzt zur Hauptsendezeit bestenfalls CNBC oder Bloomberg Television schauen, um Investitionsmöglichkeiten zu sichten, wenn er nicht noch über den Gerichtsakten säße. Der Tag wechselte nun langsam zur Nacht, es war noch recht hell.

Lisa dachte daran, wie sie vor eineinhalb Monaten im Reptilienzoo am Stadtrand gewesen waren. Eine Riesenschildkröte wälzte sich von hinten auf die andere, die aß währenddessen Gras, hinterher aßen sie beide, das Männchen langsamer, als sie aus dem Saurierpark zurückkamen, hatte es immer noch denselben langen Halm in der Schnauze. „Die gehen es gemütlich an“, sagte da Gunther. Die Smaragdeidechsen waren hingegen sehr flott, die eine verfolgte die andere wie Dominique Strauss-Kahn das Stubenmädchen, bis es auch hinten auf ihr lag und ihr seine rechte Pfote gegen den Kopf drückte. Lisa spürte, wie Gunther sie musterte, aus seinen Augen Hände wuchsen, die ihre Brüste, ihren Rücken, ihren Hintern angriffen.

An der Ecke, hinter deren Gasse ihr Auto abgestellt war, stand ein Clown. Er hielt Heliumballons. Mit seiner roten Nase, dem großen Mund und den riesigen Schuhen brachte er sicherlich viele kleine Kinder zum Lachen. „Junge Dame, wollen Sie einen Ballon? Rosa wie die Liebe und in Herzform so wie Sie. Er kostet nichts. Ich schenke ihn Ihnen, weil Sie so schön sind“, sagte er, als er sie sah. Warum denn nicht?, fragte sich Lisa, der Clown, der sich verliebt hat, das würde Gunther gefallen, und sie sagte: „Ja gerne, das ist sehr nett, danke.“ Nur noch zehn Meter bis zu ihrem Mini. Der Clown folgte ihr mit seinen Ballons. Sie entsperrte das Auto und setzte sich hinter das Lenkrad. Neben der Beifahrertür stand der Clown und hielt mit der linken Hand einen zuckerlrosafarbenen Herz-Ballon, auf dem „Love“ stand, gegen die Scheibe. Sie öffnete die Tür, und der Clown streckte die Hand in den Innenraum und löste den Ballon von ihr, der sogleich an der Innendecke klebte. Gleichzeitig ließ seine rechte Hand die anderen Ballons aus, sie stiegen empor und der Himmel wurde bunt, und er setzte sich rasch auf den Beifahrersitz. „Was?“, fragte Lisa nur verblüfft, worauf der Clown begann: „Wenn du nicht willst, dass das mit dir passiert, Kleine“, und er den Love-Ballon anscheinend mit einer Nadel zum Platzen brachte, „dann tu genau das, was ich dir sage.“

Böser Clown.

Es war kein Mensch zu sehen, aber das hier war eine Wohngegend und einige Fenster in den oberen Stockwerken standen offen. Sie blickte nach rechts. Der Clown präsentierte ihr ein doppelschneidiges Messer, das sehr scharf wirkte. „Damit schneide ich dir in Null-Komma-Josef die Kehle durch, wenn du Blödsinn machst“, sagte er, leise und ohne Hast, er meinte es ernst. Nein, nicht schreien. Besser still halten und es über sich ergehen lassen. Und Gunther nichts davon erzählen, er könnte in seiner Eitelkeit gekränkt sein. Wenn er sich scheiden ließe, wäre sie wieder dort, wo sie hergekommen war, unten. „Nein, nein“, Lisa schüttelte den Kopf, „ich tue, was Sie von mir verlangen.“

„Fahr los!“

„Wohin?“, fragte sie. „Zur Schottergrube, östlich ein wenig außerhalb der Stadt, hinter dem Industriegürtel. Kennst du die?“ „So ungefähr, aber Sie müssen mir sagen, wie ich genau fahren muss.“ „Klar mache ich das, du Nutte, sei dir da sicher.“ Er dirigierte sie durch die sich in die Nacht senkende Stadt, die Fabriksgebäude. Von einem Clown vergewaltigt zu werden, das ist doch irgendwie lächerlich, dachte sie, während sie aus der Stadt herausfuhr. „Da nach links und dann immer geradeaus“, wies der Clown sie an. Sie bog ab. Die Straße wurde schmaler und kurviger, es ging leicht aufwärts. Im Hügel klaffte nun ein Loch. „So, wir sind da, fahr rechts ran und stell den Motor ab.“ Lisa tat, was der Clown forderte. Sie sah ihm ins Gesicht, spreizte etwas die Beine und zog das Kleid bis kurz vor den Slip hoch. Seine Augen waren blau wie Hochseewasser. Sie würde sie sich merken. Der Clown behielt seine behandschuhten Hände auf den Knien, das Messer hatte er mittlerweile in einer Tasche seines Kostüms verstaut. „Lass das! Ficken soll dich dein Mann, wenn du wieder zuhause bist, aber vorher soll er für dich zahlen.“

So hatte es begonnen.

Hier war nichts außer Erde und Steine und zwei Baggern, das kleine Bürogebäude war unbeleuchtet. Wozu um Hilfe rufen, wenn niemand da ist, der sie anbieten kann? „Das können Sie nicht tun“, sagte Lisa zum Clown. „Hast du eine Ahnung, was ich alles kann“, er lachte. Unbändige Wut stieg in ihr auf. Sie ballte ihre rechte Hand zur Faust und schlug sie in das Clowngesicht. „Du Schwein“, schrie sie, „du Schwein!“ „Das war dein erster Fehler, du Schlampe, die Chance auf noch einen kriegst du nicht“, er hielt ihre Unterarme fest. „Gib mir dein Handy!“ Sie fischte es aus ihrer Handtasche. Er schaltete es ab und nahm den Akku raus. „Los, auf die Rückbank!“ Er zog zwei dicke Nylonschnüre und eine Rolle mit Klebeband aus einer der Kostümtaschen. Sie musste sich auf den Bauch legen. „Mach mich reich, Schätzchen“, sagte er, während er ihre Hand- und Fußgelenke hinter ihrem Rücken zusammenband, er ihr Mund und Augen verklebte.

Lisa, das Paket im Auto, stumm und blind.

Sie hörte, wie der Clown die Autotür schloss und von den vielen Steinchen knirschend wegging. Was käme jetzt? Sie versuchte, sich zu befreien. Völlig aussichtslos. Wie ein Fisch im Trockenen war sie, der bald wieder ins Wasser müsste. Ein grausamer Bruch war das in ihrem Leben. Über Jahre hatte sie sich emporgevögelt, hatte extra eine Benimmschule besucht, und war schließlich bei einem prominenten Anwalt gelandet, der sie geheiratet hatte. Sie war versorgt, gewesen. Es hätte ja wohl geradezu witzig ausgesehen, wenn dem Clown sein Ding aus der Hose gestanden wäre und sie daran rumgemacht hätte, doch so billig, das war ihr nun klar, würde sie nicht davonkommen.

Motorenlärm, ein Auto näherte sich, ein klopfender Diesel. Kurz aufflackernde Hoffnung. Das Auto hielt neben ihrem. „Hallo Liebling“, die gleich wieder erstickt wurde, „ich komme dich jetzt holen.“ Schritte, das Aufspringen einer Tür des angekommenen Autos. Der Clown öffnete die Hintertür ihres Minis und hob Lisa hoch, sie war ziemlich genauso schwer wie ein Zementsack, und er hatte Kraft. Er trug sie einige Meter und setzte sie ab. Wo? Offensichtlich im Kofferraum seines Autos. Sie lag auf der Seite, unter ihr war es flauschig, anscheinend war da eine Decke, ihr Kopf war in Fahrtrichtung. „So, meine Dotterblume, wir machen jetzt eine kleine Spritztour“, sagte der Clown und ließ den Kofferraumdeckel krachend zufallen. Sie hörte das Knarzen eines Schlosses. Augenscheinlich ein altes Auto, dachte Lisa, doch ihre Aufmerksamkeit galt etwas anderem: Luft. Hatte der Clown an ausreichende Luftzufuhr gedacht? Sie zappelte, erzeugte mit dem Mund keuchende Geräusche. Das Schloss bewegte sich wieder, der Kofferraumdeckel klappte hoch. Als ob der Clown von ihrer Furcht gewusst hätte, sagte er: „Mach dir keine Sorgen, Zuckerpuppe, der Karren hat so viele Rostlöcher, dass du genügend Luft haben wirst.“ Lisa lag wieder still. Erneut ging der Kofferraumdeckel zu und das Schloss wurde versperrt.

Der Clown fuhr bedacht, der Wagen ruckelte nicht, er war ein geübter Autofahrer, das merkte das zugeschnürte Stück Leben im Kofferraum. Aus Autoradio spielte nicht Heavy Metal, wie es es erwartet hatte, sondern es waren sanfte elektronische Klänge, die nach hinten drangen, noch aus Moog-Synthesizern erzeugte, das könnte Tangerine Dream sein, ein Freund von ihm, das Musik produzierte, hatte ihm einmal einige Tracks von ihnen vorgespielt. Die Zeit der Fahrt abzuschätzen war dem menschlichen Rollbraten schwer möglich, zwei Stunden vielleicht?, meldete sich da seine innere Stimme.

Das Auto verlangsamte nun seine Fahrt, bog nach rechts, wurde noch langsamer, der Untergrund wurde holpriger, als ob er nicht mehr aus Asphalt bestünde, das Auto hielt. Der Clown stieg aus, entfernte sich vom Auto, kam eine halbe Minute in etwa später wieder. Mit seinen Schritten, die wie auf trockenem Lehm klangen,  vernahm Lisa das ihr von ihrer Kindheit auf dem Bauernhof in der Einschicht bekannte singend quietschende Geräusch einer nicht geölten Schubkarre. Der Kofferraumdeckel ging auf. Lisa atmete schwer. Ein Hund bellte, sie hörte eine Eule, sie achtete auf menschliche Stimmen, aber es waren keine da. Diesmal war sie fast froh darüber. Nur die des Clown drang an ihr Ohr: „Hallo Herzilein, willkommen in deinem neuen Zuhause.“ Er hob sie in die Schubkarre, Lisa war feucht, weil sie schwitzte, sie zitterte in mikroskopischer Amplitude, und schob sie wie ein Nutztier, das zur Schlachtung geführt wurde, zirka fünfzehn Meter weit. Der Clown hob sie wieder hoch und trug sie Stufen abwärts, nach jeder roch es muffiger. Dann ging es wieder geradeaus. Den Schritten nach zu entnehmen, war es ein Estrichboden, jetzt in einem Raum. Er setzte Lisa ab. Es war weich. Er entschnürte sie, zog das Klebeband von ihren Augen und ihren Mund. Das Weiche war eine Matratze. Jetzt sah Lisa, wo sie war.

Im Verlies.

Der Raum war fensterlos, das war das Erste, was Lisa ins Auge stach, hinter einem Gitter sorgte vermutlich ein schmäleres Rohr für die Frischluftzufuhr. Die Tür war aus schwerem Stahl, in die im unteren Bereich eine rechteckige Öffnung, die von außen verdeckt war, eingelassen war. Neben der Matratze standen einige Mineralwasserflaschen aus Kunststoff zu je eins Komma fünf Liter. Eine nackte Glühbirne brannte an der Decke, aber sie fand innerhalb des Raumes keinen Lichtschalter. Da war ein Blecheimer und daneben zwei Klopapierrollen.

Lisa lehnte sich gegen die weiße Wand. Wozu sollte sie fragen: „Wo bin ich?“ Sie war eine kontrollierte Person, und der Clown würde es ihr nicht sagen. Was er wollte, hatte er ihr ja bereits mitgeteilt, und wie er es zu erreichen gedachte, war recht klar ersichtlich. Er stand ungefähr zwei Meter von ihr entfernt in der Mitte des Raumes. „Hast du die private Handynummer von deinem Mann im Kopf?“, erkundigte er sich. „Das könnte nämlich deinen Aufenthalt hier erheblich verkürzen.“ Ja, sie hatte, er war ihre Lebensversicherung, und auf die gibt man Acht, seine Nummer war förmlich in ihr Gedächtnis geschrieben. Sie nannte sie ihm. „Gut, mein Kleeblatt. Ich lasse ihm jetzt eine Nachricht zukommen.“ Er notierte sie auf einem Zettel.

Nein, der Clown würde keinen Fehler machen. Er würde ein Wertkartenhandy verwenden, das er gleich nach dem Absetzen des SMS vernichtete. Er würde die Summe für ihre Freilassung nennen, und Gunther ein Zeichen diktieren für seine Bereitschaft zu zahlen. Das könnte ein rotes Blatt Papier an einem bestimmten Gebäude sein oder eine ihm vorgegebene Textzeile auf der Website seiner Kanzlei oder irgendetwas anderes. Nur etwas wollte Lisa wissen:

„Was bin ich wert?“, fragte sie. „Fünfhunderttausend. Falls dein Göttergatte bereit ist, die für dich auszugeben. Aber jetzt entschuldige mich bitte, ich muss mich an die Arbeit machen.“ Der Clown verließ den Raum. Das Schloss wurde zwei Male gedreht, zusätzlich, Stahl auf Stahl, ein solider Riegel vor der Tür fixiert. Lisa ritzte die erste Linie in die Wand.

Dann ging das Licht aus.

Es war völlig dunkel. Alles war schwarz. Alles blieb schwarz, bis, nach einiger unbestimmbarer Zeit, ein schmaler dunkelgrauer Streifen unterhalb des Türkörpers. Lisa zog ihre Schuhe aus. Es war ein wenig frisch. Sie ertastete eine Decke und legte sie über ihre Schultern. Kein Kopfpolster. Der Clown wollte ihr keine konventionelle Methode erlauben, sich bei Bedarf selbst zu töten. Der Preis für sie war okay. Sie hatte die Million verfehlt, das wurmte etwas, doch egal. Die Fünfhunderttausend konnte Gunther zwar nicht aus der Portokassa zahlen, aber innerhalb von Stunden aufbringen, sie war eine realistische Summe. So wie sie ihn kannte, würde er sie sogar als Außergewöhnliche Belastung in seiner Steuererklärung geltend machen. Er war eben doch ein kleinkarierter, raffgieriger Scheißer. Sollte das Liebe sein? Nein, natürlich nicht. Hatte Lisa jemals sich selbst gegenüber behauptet, und nur das zählte, dass sie Gunther liebte? Nein, hatte sie nicht, eben. Aber Gunther liebte sie. Und darauf kam es an.

Zuerst hörte sie nur ganz leise, Bellen, Schritte, Jaulen. Dieser Raum hier musste unter den eigentlichen Keller gegraben worden sein. Sie hörte den Clown einfache Arbeiten verrichten. Sie hörte leises Miauen. Sie hörte sehr gedämpft einen Fernseher laufen. Ihr Gehör schärfte sich, die Geräusche wurden lauter. Sie hörte das winzige Trippeln von Käfern. Sie spürte sie über ihre Haut laufen, und Ameisen, von denen sie manche bissen, Aua!, und Spinnenbeinchen. Angst hatte sie keine vor ihnen, die hatte sie nur vor Ratten, doch die Risse zwischen den Wänden des Raumes und seinem Boden waren weniger als einen Millimeter breit, wie ihr Zeigefinger fühlte, viel zu klein für sie, um durchzuschlüpfen.

Sie leckte über ihre Lippen, die rau waren, und die Zunge war trocken. Durst, Lisa empfand Durst. Sie nahm sich eine der Mineralwasserflaschen, schraubte sie auf und trank in tiefen Schlucken, dann stellte sie sie wieder ab. Der alte Spruch „Bis du heiratest, wird alles wieder gut“ kam ihr in den Sinn. Geheiratet hatte sie bereits, und was kam jetzt? „Es wird schon wieder werden“, sprach sie sich laut selbst Mut zu. Der Satz hallte wie in einer Kirche, oder besser: wie in einer Gruft. Nein, Blödsinn, ich komme hier wieder raus, dachte sie und rief sich die Songzeile von Mark Knopfler ins Gedächtnis, die ihr Viktoria einst auf ihr Handy gesandt hatte, als Lisa kummervoll gewesen war: „There will be sunshine after rain.“

Heute war der Mond ein ziemlich voller, den Lisa nicht sah. Morgens würde ihn die Sonne ablösen mit einer Myriade von wärmer werdenden Strahlen, die sie, anfangs zumindest, auch nicht sehen würde. Hier drinnen würde ewig Nacht sein, aber eine andere als die momentanige draußen, eine nämlich ohne ein einziges Gestirn. Der Fernseher war nun aus. Die festen Schritte hatten aufgehört, ganz leise hörte sie viel feinere, wohl die des Hundes. Nachtruhe. Auch sie sollte schlafen gehen.

Aber sie musste pinkeln.

Der Blecheimer müsste von Lisas auf der Matratze sitzender Position aus in etwa geradeaus und dann rechts gewesen sein. Auf allen vieren wie ein Tier bewegte sie sich in diese Richtung. Sie fand ihn nicht gleich, streckte mehrmals die Hände aus, bis sie schließlich dagegen stieß. Sie setzte sich auf ihn. Er drückte kreisförmig in ihren Hintern und die Unterseite ihrer Schenkel. Sie zog den Slip hinunter. Ließ es rinnen. Der am Boden auftreffende Urinstrahl war laut. Mit ein wenig Klopapier trocknete sie ihre Scheide. Sie krabbelte zurück auf die Matratze, legte sich nieder, hüllte sich in die Decke, die ihre Füße freiließ. Sie schloss die Augen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf, bis sie sich selbst als kleines Mädchen sah, dass mit ihrer Mutter Ostereier färbte.

Es stank.

Aber nicht in der Stube ihrer Kindheit. Dort schien die Sonne durch die Holzfenster, und Mama sagte: „Gut machst du das, Lisale.“

Sie schlief ein.

Im Traum fuhr sie Achterbahn. Sie ging noch zur Schule. Ihre Freundinnen waren mit ihr. Ihr Wagen und die an ihn gekoppelten fuhren ächzend hinauf und rasend beschleunigend hinunter. Die Runde hätte jetzt eigentlich aus sein müssen, doch die Wagen fuhren immer weiter.

Im zweiten Traum blickte sie in einen Teich, ihr Gesicht war das von jetzt. Er war voller Seerosen, Schilfgras stand an seinem Rand, doch sein Wasser war trüb. Sie erkannte nicht mehr, als dass ihre Augen ängstlich waren.

Ganz leise Vogelstimmen weckten sie. Die Vögel machen Laut beim ersten Licht. Lisa wusste vorerst nicht, wo sie war, doch als sie die Lider öffnete, wusste sie es sofort, denn es war kohleschwarz dunkel.

Das hier war die Hölle.

Sie lehnte sich gegen die Wand, ihre Nässe drang durch den Stoff ihres Kleides in ihren Rücken. Sie trank etwas Mineralwasser. An diesem Ort bestand keine Veranlassung, sich schön zu machen. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Der Hund bellte. Sie hörte Schritte, einige Zeit später dudelte ein Radio. Würde sie auch Frühstück bekommen? Kaffee täte gut.

Nein, sie kriegte nichts. Sie versuchte, noch zu schlafen, um das zu schaffen, an etwas Schönes zu denken, doch es gelang ihr nicht, das Gefühl der Bedrohung war zu stark. Also döste sie, während die Insekten über sie liefen. Wie Blinde die Welt wahrnähmen, wusste sie jetzt. Doch wie taten es geistig Behinderte? Ihr Bruder Heinz war es, und sie fragte sich oft, welcher Art seine Eindrücke waren. Als Erwachsener schichtete er gerne bunte Holzklötzchen übereinander, und ganz besonders mochte er Schlagermusik. Was er aß, schnitt man ihm in kleine Würfelchen, da er keine Zähne mehr hatte. Er lächelte nicht. Reden konnte er nicht. Auch fernzusehen interessierte ihn. Nach einiger Zeit stand er immer auf und tippte gegen den Bildschirm, er verstand offenbar nicht, dass das Geschehen nicht real, sondern nur gesendete Signale waren. Ihre Mutter beurteilte den Charakter von Gästen daran, wie sie Heinz ansahen.

Die Schritte des Clowns, der kein Clown war, sondern ein rustikaler Mann mit aber Sprachwitz, immer klarer wurden sie in Lisas Ohren, wurden nun etwas rascher. Ein Auto wurde gestartet, und klopfend entfernte es sich. Die Katze maunzte. Mit ihrer Bitte um Fressen war sie zu spät gekommen. War das jetzt der Aufbruch ihres Entführers zur Geldübergabe gewesen? Hoffentlich!

Natürlich probierte sie es, zu fliehen. Lisa war jetzt ein großer Käfer, der zur Tür krabbelte. Sie riss an ihr, sie zerrte an ihr. Nicht den kleinsten Bruchteil eines Millimeters gab sie nach. Unmöglich. Die linke Hand an der Wand ging sie aufrecht zurück zur Matratze, wobei sie mit dem Fuß gegen den Blecheimer stieß, der stehenblieb, zum Glück, auf die sie sich wieder setzte.

Sie begann zu singen, alte Schlager, ganz für sich alleine. Sie konnte das. Als Kind hatte sie die vom Radio aus eingelernt und ihrer Mutter vorgesungen. Sie war recht gut darin. Damals hatte sie auch Schauspielerin werden wollen. Gereicht hatte es zum Model, na und für Gunther eben. „Ein Schiff wir kommen. Und das bringt mir den einen. Den ich so lieb wie keinen. Und der mich glücklich macht.“ Können Käfer applaudieren? Eher nicht. Doch wenn Lisa sang, spürte sie, dass sie vorhanden war, fühlte sich lebendig. Also sang und sang sie, bis ihre Stimme zu krächzen begann, woraufhin sie viel Mineralwasser trank.

„Ich vertreibe euch, Geister“, sagte sie zu sich selbst. „Nicht nur wir sind die Geister“, riefen die zurück, „sondern auch du bist eine von uns. Wenn du sehen könntest, würdest du erfahren, dass dein Körper nun durchscheinend ist.“ Nein, keine bösen Gedanken, nur das nicht, dachte Lisa, meine Sehnsucht soll lieber eine Brücke bauen über das sumpfige Gewässer.

Da, wieder das Auto. Sein Auto. Es wurde abgestellt. Bellen. Schritte. Hantieren. Was jetzt? Würde es gleich vorbei sein? Sie wollte es glauben. In Kindermanier überkreuzte sie die Finger hinter dem Rücken und schloss die Augen.

Die Schritte blieben oben. Das Radio lief. Wenn der Clown jetzt unvermittelt stürbe, durch einen haushältlichen oder Verkehrsunfall beispielsweise, dachte sie, würde sie elendiglich hier verrecken. Die Schritte gingen in den Garten. Bald hörte Lisa das Geräusch von Holz, das gehackt wird.

Was sollte sie tun? Es gab nichts zu tun. Wie sich beschäftigen? Sie las nicht ungern, doch hier war alles schwarz, und Buch hatte sie auch keines. Aber sie erinnerte sich an die Handlungen von gelesenen Romanen und Geschichten, ging sie im Geist durch und wechselte dabei die Blickpunkte.

Noch bevor sie eingeschult wurde, hatte sie oft in Bilderbüchern geschmökert, hatte ihr ihre Mutter erzählt. Solche Kinder lesen später auch häufig geschriebene Bücher, wusste Lisa. Es muss der Akt des Betrachtens sein, der bleibt. Die Bilderbücher waren im Haus nicht so zahlreich gewesen, doch ihr Vater kaufte ihr manchmal eines. Später verunglückte er. Und es war ein hartes Durchkommen und Aufwachsen gewesen. Mit der Mutter Beeren klauben gehen, die sie verkauften. Der weite Schulweg den Berg hinunter und der noch viel beschwerliche wieder nach Hause.

Halt. Die Schritte näherten sich. Vor der Tür blieben sie stehen. Doch kein Schlüssel drehte sich im Schloss. Keine sie lächerlich machende Stimme. Nichts. Die Glühbirne ging an. Die Klappe hinter der Aussparung in der Tür wurde hochgehoben, und eine weiß behandschuhte Hand mit einem Arm im Ärmel des Clownkostüms reichte einen vollen Suppenteller mit einem Löffel hinein. Dann noch einmal drei Scheiben Brot. Die Klappe, die ganz wenig Tageslicht hereingelassen hatte, ging wieder zu. Die Schritte entfernten sich. „Sag mir, was los ist, sag mir, was los ist“, schrie Lisa dem Clownmann nach, doch der ging unbeirrt weiter die Stiege hinauf.

Sie ritzte eine zweite neben der ersten Linie in die Wand. Im Suppenteller war Chili con Carne, es war aus der Dose. Das Brot war pampig, es war mehr Chili als Carne, aber es war Essen. Lisa löffelte leer, was da war. Sie spazierte im Raum umher, suchte einen breiten Riss, irgendwas, eine wenn auch nur allzugeringe Möglichkeit zur Flucht. Sie fand keine, es gab keine. Das Licht ging wieder aus. Zu ihrer Matratze gelangte sie nun auch so, in aufrechter Haltung. Sie lehnte sich gegen die Wand, trank Mineralwasser. In ihrem Bauch rumorte es. Infolge einer chronischen Gastritis hatte sie einen Reizmagen.

Sie musste kacken.

Wieder auf Händen und Füßen hin zu diesem vermaledeiten Blecheimer. Es war so entwürdigend, auf ihm zu sitzen. Ihr Hintern machte „Pflop-pflop-pflop“-Geräusche, die so ähnlich klangen wie eine alte Dampflok. Die Scheiße floss aus ihr heraus, sie war ziemlich flüssig. Ein Geruch wie von einer Fabrikstoilette für chinesische Wanderarbeiter breitete sich aus. Mit  Klopapier, das auch nicht gerade Hakle Feucht und vierlagig war, wischte sie sich den Hintern ab.

Eine Klopapierrolle nahm sie gehend mit zur Matratze, wo sie etwas Papier mit Mineralwasser befeuchtete und so ihre rechte Hand notdürftig wusch. Auch zurück ging sie erhaben, wie ein vernunftbegabter und fühlender Mensch, kümmerte sich nicht um ein eventuelles Umkippen des Blecheimers, was nicht passierte, stellte die Klopapierrolle hin und eine Mineralwasserflasche dazu, entsorgte das gebrauchte Papier im Blecheimer, in dem ihre Exkremente auf einer dünnen Schicht ihres Urins schwimmen mussten.

Jetzt kamen die Fliegen, wohl durch die Fäkalien angelockt.

Und beim nächsten Essen, bei der nächsten Linie, beim nächsten Licht, sah sie einige daumennagelgroße Kakerlaken vor ihm zur Wand davonhuschen.

Am neunten Tag lag statt einer Mahlzeit eine Zeitung an ihrer Stelle. Unter „Leute“ las Lisa:

„Was wird es werden? Promi-Anwalt Dr. Gunther Pototschnig und seine Freundin Veronika Wiedegut im Babyglück. Mit der Scheidung von seiner Gattin, die mit unbekanntem Ziel verreist ist, beschäftigt sich seine Partnerin Dr. Andrea Fe.“

Das Licht ging aus.



(Johannes Tosin)