Nummer vierzehn

Kurzgeschichte für Kinder


Nicht nur Katzen heißen Felix, auch Felix hieß Felix. Felix war acht Jahre alt und schlief in seinem Zimmer. Das Fenster war offen, denn es war Sommeranfang und ziemlich heiß, sodass er abgedeckt lag. Zum Glück war morgen keine Schule, da morgen Samstag war, hätte er gedacht, dachte er aber nicht, weil er eben schlief und nicht dachte. Es muss so ungefähr in der Mitte der Nacht gewesen sein, da hörte er ein Geräusch. Wird wohl der Papa aufs Klo gehen oder die Mama plündert gerade den Kühlschrank, glaubte er, doch da hörte er es nochmals, lauter. Es war kein unabsichtlich erzeugtes Geräusch, es galt ihm, es klang wie: „Ähemm.“

Da saß ein Kobold auf der Fensterbank, etwa fünfundsiebzig Zentimeter hoch, aber mit Schuhgröße 41. Seine Beinchen baumelten herunter, er hatte schadhafte Zähne und eine Knollennase, aber sehr große, lustige Augen. Felix rieb seine kleineren. Er träumte natürlich nur. Aber als er mit dem Reiben fertig war, saß der Kobold immer noch da. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, fragte er. „Nein, lass mich, ich will schlafen“, sagte Felix. „Aber ich habe eine ganz tolle Geschichte für dich auf Lager, willst du sie nicht hören?“, beharrte der Kobold. Felix setzte sich auf: „Okay, schieß los.“ 

So toll war die Geschichte nicht, wie der Kobold versprochen hatte. Er kramte nach Worten. „Astronaut“ war eines der ersten, bald kam „ferne Welten“, „neue Erde“, „Besiedelung“ und „Held“. Es klang alles ziemlich einfach und unbeholfen zusammengesteckt, wie aus Bauteilen, die nicht richtig zusammenpassten. „War doch spannend, die Geschichte, nicht?“, erkundigte sich der Kobold zum Schluss. „Sie hat dir doch gefallen, oder?“ „Naja“, entgegnete Felix. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte er. „Heißen? Was bedeutet das?“, fragte der Kobold, jetzt etwas enttäuscht, aber er freute sich offenbar, das sich jemand, nämlich Felix, mit ihm beschäftigte. „Na, du hast doch einen Namen. Hast du doch, oder?“, ließ Felix nicht locker. „Nicht direkt“, sagte der Kobold. „Und wie dann?“, fragte Felix. „Tja, das ist so: Ich bin Nummer vierzehn.“ 

Und dann, zögerlich, begann der Kobold Nummer vierzehn zu erzählen. Er sagte es nicht direkt, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, wie in einem Rundkurs, verfahren und umständlich, ließ er es Felix zuerst ahnen und dann wissen, dass er von der Mond-Erzählerriege, die den Kindern die Traumgeschichten in die Ohren flüstert, ausgeschlossen worden war, weil seine Geschichten zu schlecht waren. Und nun probierte er es auf eigene Faust. 

Er wollte unbedingt wieder bei seinen Kollegen auf dem Mond aufgenommen werden. Da herrschte richtiges Teamwork, die Aufgaben wurden verteilt. Es gab Plotter, Storyliner, Geschichtenweber, Dialogspezialisten. Die schönsten Stimmen sprachen die Geschichten, die ausgestrahlt wurden. Praktisch war es ein Koboldradio. Das war für die Kinder, die leicht einschliefen und einen tiefen Schlaf hatten. Die anderen brauchten eine Spezialbehandlung. Da war dann oft Not am Kobold, denn einer alleine musste sich eine Geschichte ausdenken und sie dem Kind vortragen. Ganz schlimm war es, wenn sich ein Kind, die Eltern waren vielleicht ausgegangen oder die Oma hatte nicht aufgepasst, einen Horrorfilm angesehen hatte. Die Schweißtropfen sammelten sich dann an des Kobolds Stirn und seine Stimme war schon ganz rau, und das Kind traute sich nicht, seine Augen zu schließen, denn dann würde das Monster kommen und es fressen. 

Das war die Sachlage. Bei Kobold Nummer vierzehn hatten aber die Buben gar keine Horrorfilme gesehen und die Mädchen keine Modelshows, sie waren nur einfach noch nicht ganz richtig müde gewesen. Und die Geschichten, die er ihnen vorbrachte, waren wirklich nicht besonders gut. Er verwendete viel Altbekanntes, die Geschichten waren langweilig, Fehler waren drin. Es langte nicht, um die Kinder träumen zu lassen. In der Gruppe war Kobold Nummer vierzehns Unvermögen nicht so aufgefallen, aber jetzt, wo er auf sich alleine gestellt war, war es unübersehbar. Seine Kollegen berieten sich, und einen Chef gab es ja auch, und sie kamen zu dem Entschluss: Kobold Nummer vierzehn wird ausgesondert, in die Arbeitslosigkeit entlassen. 

Aber Kobold Nummer vierzehn war ein Kämpfer, obwohl er nicht so aussah. Einer, der auf der Fensterbank von Felix´ Zimmer saß und eigentlich sehr sympathisch wirkte. „Du Kind“, begann der Kobold wieder, „ich hätte da noch eine weitere Geschichte, die ist wirklich was Besonderes. Du bist doch sicher neugierig, wie sie geht. Bist du doch, nicht?“ Der Kobold hatte ja jetzt keine Freunde mehr, überlegte Felix, der Einzige, der nun für ihn da war, war er. Also, klar war er neugierig, wie sie geht. „Ist gut, Nummer vierzehn, lass hören.“ 

„Ja, nun“, begann der Kobold, er räusperte sich, „da war ein Sternenkind, das lebte sehr weit weg von hier, sein Vater und seine Mutter hatten sich auf andere Bahnen begeben. Es war ganz alleine, und ihm war langweilig.“ „Sehr gut, Nummer vierzehn“, unterbrach Felix, „das kann ja eine wirklich super Geschichte werden.“ Der Kobold freute sich, grinsend zeigte er seine langen und schiefen gelben Zähne, während Rotz aus seiner Knollennase lief, im Weltraum ist es nämlich kalt. „Aber, sag mal“, fuhr Felix fort, „was liest du eigentlich so?“ „Naja, Weltraumgeschichten, Gruselromane und so“, sagte der Kobold. „Sonst liest du nichts?“, fragte Felix nach. „Doch, Zeitungen, ich bin gerne gut informiert.“ „Aber keine Märchen, oder?“ „Nein“, musste der Kobold zugeben. „Da gibt es echt supergute, von Andersen oder orientalische Märchen. Die solltest du dir mal ansehen“, erklärte Felix. „Wenn du meinst“, so richtig überzeugt war der Kobold nicht. „Soll ich jetzt mit meiner Geschichte weitermachen?“ „Klar, ich freu mich ja schon drauf, wie sie weitergeht. Nur etwas würd ich gern von dir wissen: Du erzählst den Kindern also immer Weltraumgeschichten oder etwas, wovor sie sich gruseln sollen. Was ist, wenn einem Kind Weltraumgeschichten nicht gefallen oder, besonders bei Mädchen, es bei Gruselgeschichten so sehr Angst kriegt, dass es gar nicht einschlafen kann?“, erkundigte sich Felix. „Nun ja“, der Kobold schien nachzudenken, er bohrte dabei einen Finger in die Knollennase, „vielleicht sollte ich da etwas verbessern. Ja, aber jetzt erst mal werde ich dir meine Geschichte weitererzählen. Du freust dich ja schon darauf.“ 

Die Geschichte fuhr so fort, dass das Sternenkind sich Spielkameraden suchte, andere Sternenkinder natürlich, die aber viel schwerer als es selbst waren, wodurch sich die Achse ihrer Galaxie verschob und sie alle aus ihr herauspurzelten. 

Keine schlechte Geschichte für jemanden, der Weltraumabenteuer sehr gern mag. Felix gefiel sie. Er hatte ja auch einen Plastikastronauten auf seiner Kommode stehen. Gut möglich, dass der Kobold sich genau deshalb Felix zum Üben ausgesucht hatte. „Eine gut ausgedachte Geschichte war das, Nummer vierzehn, mit einem schwungvollen Ende“, sagte Felix. „Schwungvolles Ende, haha, ja genauso kann man es nennen“, freute sich der Kobold und schlenkerte ganz aufgeregt mit seinen Beinchen. Felix hatte sich mit dem Kopf zurück in den Polster gelegt, er war wieder sehr müde geworden. Er wollte ja dem Kobold nicht den Spaß verderben und erzählte ihm darum nicht, dass wahrscheinlich nicht einmal er gut träumen würde, wenn darin dicke Sterne ins schwarze All plumpsten. „Du, Nummer vierzehn, ich würde jetzt gerne weiterschlafen, das macht dir doch nichts aus, oder?“, sagte er. „Nein“, erwiderte langgezogen der Kobold, „nicht so richtig jedenfalls. Ich warte einfach hier, und wenn du wieder munter bist, legen wir wieder los, ja?“ „Nein, nein, nein, hör zu, ich habe für dich eine viel bessere Idee. Da in meinem Regal stehen einige Märchenbücher. Die kannst du gerne lesen, solltest du sogar, du musst das als Weiterbildung sehen. Du kannst auch ruhig das Leselicht anmachen, stört mich nicht – so“, schlug Felix vor, das „So“ sagte er nur ganz leise, denn ein wenig störte ihn das Licht doch. „Sehr interessant“, sagte darauf der Kobold, „sag mal, Kind“, er wusste ja nicht, dass der Bub Felix hieß, er hatte sich ja nie bei ihm vorgestellt, „sind das alles deine Bücher, kannst du denn schon so gut selber lesen?“ „Sie gehören meiner großen Schwester, früher hat sie mir oft daraus vorgelesen, oder die Mama, der Papa auch, aber der hat nicht so viel Zeit, inzwischen kann ich sie schon gut selber lesen, ich brauche halt ein bisschen länger, den Zeigefinger brauche ich nicht mehr“, erklärte Felix. „Klingt nach einem guten Schulsystem in deinem Land“, sagte der Kobold. „Sag mal, wo ist sie denn, deine Schwester?“ „Sie schläft nebenan.“ „Dann könnte ich doch gleich bei ihr weitermachen! Du weißt ja: Ich brauche Training.“ „Nein, nein, lieber nicht, Nummer vierzehn, sie mag lieber Mädchengeschichten. Mach´s dir lieber gemütlich und blättere ein paar Bücher durch“, sagte Felix zuerst recht hastig, dann betont entspannt und zum Schluss zeigte er Daumen-hoch. Der Kobold zeigte ebenfalls Daumen-hoch, seine Finger waren wirklich sehr groß und ziemlich faltig. Er blieb auf der Fensterbank sitzen und sah Felix zu, der wieder in den Schlaf fiel.

 Was hatte er denn zu verlieren?, er hatte ja nicht einmal etwas zu tun, als arbeitsloser Geschichtenerzähler, überlegte der Kobold. Ich könnte ja wirklich, warum denn nicht? Ja, ich tu´s. Er hüpfte auf den Boden, ging ganz leise, um Felix nicht zu wecken, zum Regal, machte das Leselicht an, fischte sich eines der fettesten Bücher heraus, ging in den Schneidersitz und begann zu lesen. 

„Tausendundeine Nacht“. Scheherazade, die dem König jede Nacht eine Geschichte erzählte und versprach, sie morgen fortzuführen, und sie so fesselnd gestaltete, dass der König ganz begierig darauf war, ihr Ende zu erfahren, dass er darüber vergaß, dass er sie ja eigentlich morgens hinrichten wollte. So verfuhr Scheherazade tausendundeine Nächte, sie blieb am Leben, gebar dem König drei Kinder, der am Schluss glücklich war, und sie auch. Das war wirklich die hohe Kunst des Geschichtenwebens, erkannte der Kobold. Hätte er das auch so gut gekonnt, hätte es an seinem Arbeitsplatz keine Probleme gegeben. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, dachte er, fischte ein anderes Buch aus dem Regal und las weiter. Dazu ist zu sagen, dass der Kobold sehr viel schneller las als ein Mensch, er war ja auch keiner. Er las „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen. Wunderbar, besser geht es kaum mehr. Er las seine „Die Prinzessin auf der Erbse“, „Das hässliche Entlein“, besonders für nicht sehr hübsche Mädchen geeignet. Dann kam er zu den Märchen von den Gebrüdern Grimm. Die schienen dem Kobold als nicht mehr zeitgemäß. Und, als der Nachthimmel sich langsam heller färbte, las er noch „Die kleine Meerjungfrau“ und „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Andersen. Er war schwer beeindruckt und beeilte sich, wieder auf die Fensterbank zu klettern und im Himmel zu verschwinden, bevor es taghell wurde. Hoffentlich noch rechtzeitig genug, nicht dass jemand den Kontrast seines Körpers bemerkt hatte. 

Die nächste Nacht lag Felix total erledigt in seinem Bett, da hörte er, denn es war so laut, dass er es hören musste: „Hallo.“ Der Kobold war wieder da, auf seinem üblichen Platz auf der Fensterbank. „Du, Kind“, sagte er, „das war echt ein toller Tipp mit den Märchen. Sehr schön sind die, und das ohne belehrend zu wirken. Mal was ganz Neues für mich. Ich habe dazugelernt. Willst du hören?“ „Uhhh“, Felix hatte gerade ein halbes Auge offen. Er war mit dem Papa und einem Freund den ganzen Tag Fahrrad fahren gewesen. Von Nummer vierzehn hatte er aber niemandem erzählt. Der blieb sein Geheimnis. „Was, du willst nicht?“, des Kobolds Stimme klang enttäuscht. „Doch, doch, mein Freund“, sagte Felix schnell, der Kobold grinste, als Felix Freund sagte, „natürlich bin ich spitzengespannt, was mich jetzt von dir erwartet. Leg los.“ 

„Es ist die Geschichte von einem Großstadtbuben, der, gegen seinen Willen natürlich, seine Eltern wollten es, bei einer Karawane mitmacht. Ohne Handy, ohne PSP, ihm ist stinkfad und kochend heiß dazu. Außerdem hat er ständig Angst, von seinem Kamel herunterzufallen, was aber nicht passiert, er hält sich sicher oben. Dafür sieht er, wie der Wind die Dünen formt, lernt, wie lebenswichtig Wasser ist, und klarer als in der Wüste ist der Nachthimmel nirgendwo“, der Kobold legte eine Pause ein, um Luft zu holen. „Das macht zehn Punkte von zehn möglichen, Nummer vierzehn. Das ist echt eine Geschichte, mit der jeder etwas anfangen kann und die ganz bestimmt schöne Träume gibt“, machte ihm Felix Mut und meinte es dabei sogar ehrlich. „Meinst du wirklich, Kind“, der Kobold spielte ein wenig schüchtern mit seinen großen Fingern. „Felix, ich heiße Felix“, warf Felix ein. „Aha, Felix, du bist mein Glück, meinst du wirklich, dass ich es wieder schaffen könnte, dass die mich da oben wieder aufnehmen?“ 

„Weißt du was?“, schlug Felix vor, „wir üben gemeinsam noch ein bisschen. Du erzählst mir Geschichten und ich träume dazu. Wenn ich tief und fest schlafe, dann hat es geklappt. Du gehst dann einfach wieder rauf und probierst dein Glück. Vergiss aber nicht, deine Bewerbungsunterlagen zu aktualisieren, bevor du dich vorstellst. Du schaffst das, Nummer vierzehn.“ Nicht ganz uneigennützig hatte Felix diese Rede geschwungen, denn er wollte endlich weiterschlafen. Der Kobold war begeistert, aber auf eine ruhige Art, er hatte inneren Mut gefasst. „Machen wir das, kleiner Felix. Ruh dich aus und höre mir zu. Ich fange jetzt mit meiner Geschichte an: 

Es war einmal und ist nicht mehr, lang ist es her, ein Mädchen, das in einem Dorf lebte, das von einem feuerspeienden Drachen bedroht wurde …“ 

Felix schnarchte bereits, leise nur, so leise, wie es kleine Kinder eben tun. 

Der Kobold erzählte die Geschichte fertig, während Felix´ Brustkorb hoch- und niederging wie ein Ballon, der ein klein wenig aufgepumpt und dem dann wieder Luft abgelassen wurde, und das Ganze immer wieder. 

Die nächste Geschichte handelte von einem verwunschenen See. Wenn man in seinem Wasser untertauchte, vergaß man, wer man war. 

Felix träumte dabei seltsame Dinge und fühlte sich sehr wohl dabei. 

Die danach folgende Geschichte spielte im Himmel, in dem es aber viel lustiger zuging als im biblischen. Vor allem war viel mehr erlaubt. 

Felix schlummerte selig und lachte einmal auf im Schlaf. Der Morgen graute bereits. Der Kobold schrieb noch einige Papiere voll. „Danke, lieber Felix“, sagte er noch, bevor er im Himmel verschwand, der gerade noch nicht zu hell war. 

In der nächsten Nacht kam kein Kobold mehr. 

Schade irgendwie, dachte Felix, aber dafür kann ich jetzt durchschlafen. Und als er dann träumte, hörte er da nicht eine leise, ihm bekannte Stimme, die klang wie aus einem Radio?: „Hallo, hier ist Nummer vierzehn, ich habe da eine Geschichte für euch.“


(Johannes Tosin)