Ego te absolvo


Diese Stadt atmet Sünde. Sie dringt durch ihre Poren wie der Geruch von Knoblauch und Tabak. Sie tropft von den Dächern und sammelt sich in den Straßen. Auch wenn der Regen noch so ungestüm hernieder prasselt, mag er sie nicht fort zu waschen. Die Bewohner dieser Stadt haben sich vom Herrn abgewandt, dessen Diener ich bin und dessen Wort ich hier verkünde. Manche der Frevler kommen in meine Kirche zur Beichte und der Herr leiht ihnen durch mich sein Ohr. Sie bereuen und ihnen wird genommen ihrer Missetaten Last.

Was ich hier tue, ist nicht recht, denn es verletzt das Gebot zur Verschwiegenheit über dieses heilige Sakrament. Und doch kann ich nicht anders als aufzuzeichnen der Lästerlichen Taten, die begingen eine der Todsünden, deren es sieben sind an der Zahl. Der Herr möge mir diese Verfehlung vergeben, soll sie doch dazu dienen, seine Geschöpfe zu warnen vor des Teufels dunkler Macht.

Der Dämon, der Giacomo heimsuchte, war „Luzifer“ genannt. Er verführte ihn zur Hochmut, auch als Stolz oder Eitelkeit bekannt. Als Giacomo im Beichtstuhl niederkniete, war er edel gewandet. Seine Stimme war erst fest, wie die von jemandem, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen, später wurde sie leiser.

Giacomo wurde als Kind einfacher Eltern geboren, und in ebensolchen Verhältnissen wuchs er auf. Allerortens herrschte Mangel, Mangel an ordentlichem Schuhwerk, Mangel an Schulmaterialien, auch Mangel an Essen. Giacomo war es gewohnt, dass sein Magen knurrte. Seine Schulkameraden verspotteten ihn, weil er die Kleidung seines älteren Bruders auftrug, was nicht zu übersehen war: Die Hemdsärmel waren zu lang, die Hosenbeine umgestülpt, manche Flecken waren noch sichtbar, Stoffteile überdeckten Risse. Da legte Giacomo einen unseligen Schwur ab: „Ich werde es zu etwas bringen und ihr werdet vor mir kriechen.“ Ausgenommen von dieser bösen Prophezeiung sollte sein gleichaltriger Freund Luigi sein, der im Nachbarhaus mit seiner Mutter lebte, die taub war, und seinem Vater, der trank. Der trank und Luigis Mutter schlug, wenn er getrunken hatte. Die dann tierische Laute von sich gab unter seinen Fäusten. Die sich nie traute, die Polizei zu rufen, aus Angst vor noch härteren Schlägen. Wenn Luigis Vater heimkam in der späten Nacht, stank das Vorzimmer sogleich nach billigem Fusel. Und Luigi lag im Bett, schlafend, vorgetäuscht oder echt. Bei einem seiner seltenen Besuchen in Luigis Eltern´ Wohnung sah Giacomo zum ersten Mal Kakerlaken. Sie flitzten über den Küchenfußboden, wendig und zu schnell, um sie zu erschlagen. Und im Keller, wo verdorbene Lebensmittel lagerten, hausten Ratten. Als Luigis Mutter ihn einmal schickte, von dort Polenta zu holen, Giacomo war gerade bei ihm, um ihm beim Lernen zu helfen, kehrte er zurück mit einer frischen Bisswunde am Arm. „Was hat dich denn da gebissen?“, fragte Giacomo. Luigi antwortete nicht. Eine Maus konnte es nicht gewesen sein, die ist zu feige, als dass sie beißt, ein Katzenbiss ist runder, und für den eines Hundes war die Wunde zu klein. „Es war eine Ratte“, erklärte ihm Luigi.

Jahre später, als sie sich wohl noch hie und da trafen und sich besprachen, doch die Flüsse ihrer beiden Leben bereits begonnen hatten auseinanderzulaufen. Luigi hatte eine Lehre als Maurer angefangen, so geschickt er mit seinen Händen war, so schwerfällig war er in seinen Gedanken. Giacomo besuchte die Oberstufe eines katholisch geführten, strengen und angesehenen Gymnasiums. Besonders in Mathematik, Physik und Chemie tat er sich hervor, er hatte ein Gespür für Zahlen, und auch in Musik. Er spielte das elektrische Piano in einer Musikkapelle und für seine regelmäßigen Auftritte erhielt er eine nicht unbeträchtliche Anzahl an, damals waren es noch Lire. Nun war er gut angezogen und verströmte den Duft eines dezenten Rasierwassers, nicht den von Maschinenöl, der seinem Vater Marcello anhaftete, wenn er von der Schichtarbeit in der Fabrik nach Hause kam. Nachdem Giacomo maturiert hatte, studierte er an der örtlichen Fakultät Bauwirtschaft und Ökonomie. Er erhielt ein Begabtenstipendium, und mit dem Geld, das er zusätzlich als Musiker verdiente, konnte er es sich leisten, von zuhause auszuziehen. Anfangs nahm er sich nur ein Zimmer in der geräumigen Stadtwohnung einer älteren Dame, doch bald schon reichte ihm das nicht mehr, Klosett am Gang, Gemeinschaftsdusche, Küchenmitbenutzung. Er hatte einen gebrauchten Fiat-Pritschenwagen erstanden und verrichtete nebst seinem Studium gemeinsam mit zwei Helfern kleine Handwerksarbeiten. Er war sehr fleißig und er lernte. Er lernte, wie man Böden betoniert, lernte, wie man Fassaden errichtet, wie man Fenster und Türen einsetzt. Er zog in eine kleine Mietwohnung, die er so geschmackvoll, wie es ihm seine Finanzen erlaubten, einrichtete. Er kaufte ein zweites Nutzfahrzeug, stellte drei neue Gehilfen ein. Er expandierte. Als er sein Studium beendet hatte, war er bereits ein stadtbekannter Bauunternehmer. Inzwischen hatte er geheiratet, Lucia, das schönste Mädchen, das er kannte, und war Vater einer Tochter und eines Sohnes geworden. Mit seiner Familie lebte er in einer säulenbesetzten Patriziervilla in einem noblen Teil der Stadt. Er arrangierte sich, mit Behördenvertretern, die Geld haben wollten für die Erteilung von öffentlichen Aufträgen, mit Vereinigungen von Kriminellen, die ebenfalls einen Obolus forderten und auch bekamen, und dafür versprachen, seine Geschäfte nicht zu stören, mit Mitbewerbern, wenn es darum ging, die Preise hoch zu halten. Aus Giacomo war ein geschmeidiger Mann geworden. Zu seiner Ursprungsfamilie hatte er den Kontakt abgebrochen, er wollte nicht an die kärgliche Zeit seiner Kindheit und Jugend erinnert werden. Wenn seine Mutter Sophia anrief, nur um zu fragen, wie es ihm denn so ergehe, und seine Frau den Hörer abhob oder eines seiner Kinder, ließ er sich verleugnen, hieß es, er sei nicht da. Er kaufte sich einen Ferrari, den er perlmuttfarben lackieren ließ. Er stellte zur Schau, was er hatte. Teure Uhren, feinster Zwirn, Manschettenknöpfe, Einstecktuch. Seht her, ich bin jetzt wer! Eines Tages bat sein alter Freund Luigi, zu ihm vorgelassen zu werden. Sie hatten sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Luigis Frau war krank und er hatte drei Kinder zu versorgen. Er bewarb sich um eine Stelle als Maurer. Giacomo richtete ihm über seine Sekretärin aus, er sei in einer Besprechung. Der Personalleiter führte mit ihm ein kurzes Gespräch. Luigi wurde nicht eingestellt. Als er den Brief mit der Absage erhielt, die Frau war im Krankenhaus, die Kinder im Kindergarten und in der Schule, nahm er einen Strick und erhängte sich. Erst viel später erfuhr Giacomo davon. Er hatte es nicht erwartet, aber doch riss diese Nachricht seine Seele entzwei. Er besann sich des Spruches in der Heiligen Schrift, der da lautet: „Weil der Gottlose Übermut treibt, muss der Elende leiden.“ Und so kam er zu mir, als reuiger Sünder.

„Ego te absolvo“, sprach ich zu ihm am Schluss, Gotteskind Giacomo, ich spreche dich los von deinen Sünden. Der Herr würde ihn empfangen in seinem Reich dereinst, denn Giacomo tat nun Buße. Nicht die Buße des Aufsagens von Gebeten, die ich ihm auftrug, sondern die, dass ihm Luigi erschien in seinen Träumen, am Strick baumelnd und von Ratten zerfressen.

In dieser Zeit ist es schwer geworden, den Verlockungen der Sünden nicht zu erliegen. Die Welt ist eine kleinere geworden. Es gibt Flugzeuge, Fernsehen und das allesumspannende Datennetz. Viele Gesetze wurden gelockert. Es fehlt an Respekt. Wenn ich die Messe lese, hebe ich des Öfteren die Hände in die Höh und rufe: „Kehret nicht ab vom Weg, den der Herr hat für euch bestimmt. Widersteht den Versuchungen, die wie Steine auf ihm liegen. Lasst Hilfe angedeihen den Bedürftigen. Dann werdet ihr eintreten in sein jenseitiges Land.“ Meine Gemeinde hat an Lebensjahren zugenommen. Wenn Junge zu mir kommen, sei es nicht aus dem Wunsch ihrer Eltern, wiegt die Schuld meist schwer, die sie in der Beichte bei mir abzuladen trachten. Wenn die alten Weiblein mich aufsuchen, ist es oft nur, um mit jemandem zu reden. Ihre Nachkommen haben sich von ihnen entfremdet. Meist sind es nur kleine Sünden, die sie mir vortragen. Huldigen sie Mammon, dem Dämon des Geizes, ist das häufig nur in geringem Maße und dadurch oft begründet, dass im Kriege sie aufwuchsen, wo es an allem fehlte, und also lernten, Zeitungen statt Klosettpapier zu verwenden, und somit auch zu verstehen. Der Geiz ist eher den Älteren vorbehalten, Mammon zeigt sich jedoch auch in der Gestalt der Habgier, die gerade in letzter Zeit wird als minder verwerflich angesehen. Dennoch ist sie es. Was der Reiche nimmt, ist von den Armen. Der Reiche wird reicher und der Arme bleibt arm, wenn er nicht sogar noch mehr verliert.

Von Mammon besessen war Davide, der ganz in Schwarz gekleidet war, als er zu mir kam. Das Schwarz jedoch trug er nicht als Zeichen der Trauer, sondern weil er dies als modisch empfand. Er sah jünger aus als er war, seine Falten waren geglättet. Seine Schuhe waren unziemlich teuer und seine Hände manikürt. War er wirklich bereit, Reue zu zeigen ob seines liederlichen Lebenswandels? Zu Beginn seines Erzählens war ich mir nicht sicher, doch in seinem weiteren Verlauf wusste ich, er war es. Davide stammte aus Friaul, wo die Berge schroff sind und die Flüsse nur Rinnsale in gewaltigen Betten. Er ergriff den Beruf seines Vaters, der Schneider war. Von klein auf half er in seinem Atelier. Die Näherinnen wussten um seinen Sinn für das Schöne und ließen ihn Knöpfe aussuchen und Stoffe bestimmen. Er stellte auffällige und passende Variationen von Farben und Materialien zusammen. Es bereitete ihm viel Freude, insbesondere Frauen gut aussehen zu lassen, obwohl sein körperliches Interesse mehr galt dem eigenen Geschlecht. So gewann er viele Kundinnen aus besseren Kreisen. Seine Fertigkeiten wurden weiterempfohlen. Er konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Nachdem sein Vater in Rente gegangen war, übersiedelte er nach Mailand, die Stadt der alta moda, und nannte sich nun „Designer“. Er entwarf Kollektionen anstelle von Einzelanfertigungen. Er schneiderte nicht mehr selbst, sondern verlegte sich auf das Zeichnen von Entwürfen, in dem er sich als sehr kunstfertig erwies. Bald schon defilierten Mannequins von bekannten Agenturen für sein Haus. Vor den Schauen wurden sie aufwändig zurechtgemacht, von Stylistinnen geschminkt und die Nägel lackiert, der Friseur hieß jetzt „Hairdresser“, was bedeutete, dass er war dreimal so teuer. Davide war in der Glitzerwelt angekommen, wo wichtiger ist der Schein als das tatsächliche Sein. Die Mannequins waren so knochig wie langbeinig und sie hatten stets blendende Laune zu versprühen, wenn sie auf den Laufsteg traten. Dem wurde nachgeholfen mit fingerdicken Straßen von Kokain, und dazu tranken die Frauen Champagner. In dieser Branche sei dies gang und gäbe, und Davide, Mensch vielerlei Laster, naschte gern mit. Geschickt gliederte er sich ein in diese Gesellschaft, die vor Oberflächlichkeiten nur so strotzte und er lernte, und das sehr rasch, dass Geld Macht bedeutet. Und davon konnte er nie genug kriegen, von der Macht, die des Geldes bedarf. Also raffte er zusammen, wessen immer er habhaft werden konnte, wenn es günstig zu erstehen war. Mittlerweile war er ein weit über die Grenzen des Landes bekannter Modeschöpfer geworden, was ihm erlaubte, die Preise für seine Kreationen sehr hoch anzusetzen. Die auch bezahlt wurden, gerne von älteren wohlhabenden Männern, die sich erhoffen, somit die Liebe von attraktiven jungen Frauen erkaufen zu können, was natürlich ein Trugschluss war, denn bestenfalls gab es dafür seelenlose Körperlichkeit, zu einem horrenden Gegenwert. Häufig war Davide bei Auktionen zugegen, wo er günstig Häuser ersteigerte, deren Besitzer zwangsexekutiert wurden. Manche der Häuser richtete er instand und veräußerte sie gewinnbringend weiter. Er war ein so gewiefter Geschäftsmann wie begabter Künstler. Er sammelte antike Uhren und legte sich einen stattlichen Keller zu von erlesenen Weinen. Er kaufte einige Oldtimer-Wägen, mit denen er Rennen fuhr, hinauf die Serpentinen der Berge und wieder hinunter, mit Lederhelm und Motorsportbrille, an seiner Seite zumeist eine seiner Modelle. Er hatte keine Beziehungen zu den Frauen, sie waren nur Beiwerk, um andere neidisch zu machen. Und das mit Erfolg. Um seine Triebe zu befriedigen, nahm er sich Männer, kaum älter als zwanzig. Meist waren das einige seiner Dressmen. Im Pool seiner im griechischen Stil gehaltenen Villa, die ihm als Firmensitz diente, badeten sie, nackt. Von seinem Arbeitsraum aus sah er ihnen durch Panoramafenster zu. Wer ihm besonders gefiel, den ließ er über seinen Assistenten zu sich bringen. War er ihm zu Willen, durfte er am kommenden Tag über den Laufsteg flanieren. Davide wurde nicht glücklich dabei, doch sonnte er sich in seinem Einfluss, daran, etwas zu bewegen. Seine Freundesschar war zahlreich, so zahlreich wie die eines erfolgreichen Mannes, die keinen Wert hat und von ihm abfällt, wenn sein Stern am Sinken ist. Speichellecker, Bücklinge, die taten, was immer er von ihnen verlangte. Davide war nicht so naiv, um über diesen Umstand nicht Bescheid zu wissen. Daher trachtete er stets, seinen Besitz zu mehren. Hohe Gehälter wollten gezahlt werden, um seine Lakaien gütlich zu stimmen, und Geschenke, um Liebhaber jung an Jahren an sich zu binden. Er wurde rücksichtsloser in seinem Geschäftsgebaren. Er trieb Konkurrenten in den Ruin, indem er prominente Anwälte beschäftigte, die vor Gerichten ihre Behauptungen durchzusetzen vermochten, sie stählen seine Schnittmuster oder verletzten sonstwie seine Rechte. So charmant er zu seinen Kunden war, so aufmerksam den Wünschen der seiner Mode tragenden Damen und ihrer männlichen Gönner, so erbarmungslos gegenüber seinen Mitbewerbern war sein Verhalten. Sie hassten ihn dafür aus tiefsten Herzen. Je älter er wurde, desto mehr besaß er an geldwerten Mitteln, doch das Glück kam ihm abhold. Denn das Wohlbehalten seiner Geschicke war eines auf Sand gebaut, die die erste Flut des grimmigen Meeres schwemmt hinfort. Dies wurde ihm klar vor Augen geführt, als sein innig verehrter Vater in seiner Heimat starb und nur wenige aus dem Dorf zu seinem Begräbnis erschienen. Wohl waren es so einige, die gekommen waren in schwarzen Anzügen und selbigfarbenen Krawatten, doch waren das jene, die von seinem Geld abhingen, und ihre Beileidskundgebungen waren nicht echt. Da beschlich Davide die Einsicht, die falsche Abzweigung genommen, den Weg, den der Herr ihm vorgezeichnet hatte, verlassen zu haben und sich auf einem Pfad zu befinden, der ihn geradewegs in die Arme des Antichristen geleite. Er tat gut daran, meine Nähe zu suchen und seinen mannigfachen Sünden abzuschwören. Als er den Beichtstuhl verließ, war er weit weniger stolz und dafür erhellt von des Herrn Gnade. Erst war es der Anfang, doch wenigstens hatte er erkannt die Schändlichkeit seiner Taten und würde sich nun in mehr Demut üben, statt in Pracht zu schwelgen. Sein Haupt war gesenkt, als er wieder ging. Hatte er wieder zu seinem Herrn gefunden? Jedenfalls hat er seine Sünden bereut, derer die schwerwiegendste war, das er „eilte, reich zu werden“, wie Salomo verkündete.

Wahrlich, kann ich sagen, diese Welt ist eine unbarmherzige geworden, in der der weniger mit Geistesgaben Befähigte muss härter um sein Brot arbeiten, als dies früher war der Fall. Die Götzen sind allgegenwärtig, die heutzutage angebetet werden. Die Verlockungen sind größer und die Sündhaftigkeit tiefer. Wer nun zu seinem Herrn sich bekennt, gilt alt altbacken, als nicht recht fähig, sein Diesseits zu bewältigen, dessen Wert gemessen wird an der Anzahl von Gütern. Es ist der immerwährende Tanz und das goldene Kalb, um viele derer, begleitet von Ausschweifungen, die als zeitgemäß gelten, als Zeichen eines „Ich kann mir das erlauben, denn ich bin oben und du nicht“. Stets predige ich, dass es vonnöten ist, diesem Treiben Einhalt zu gebieten, sich in sich zu kehren und achtzugeben, dass der den Menschen gottgegebene Funken nicht erlischt, doch immer weniger sind es, die meinen Worten lauschen, und die es doch tun, verstehen mich oft nicht. Meine Position ist heut eine mindere geworden, meine Stimme hat geringeres Gewicht. Und doch will ich denen, die an mich als Vertreter des Herrn glauben, sein ein guter Hirte, der sie führt zur Erkenntnis und in die Gefilde des Lichts. Glaubt mehr, ihr Gotteskinder, und hinterfragt weniger, beliebe ich zu verkünden, denn bloß der Glaube knüpft das Band, das sich in selbstloser Liebe wiederfindet.

Die nächste Todsünde ist eine weitverbreitete, man ist sich ihrer Schwere heute kaum mehr bewusst. Auch mir, ich muss es gestehen, flüsterte ihr Dämon Asmodeus ihre Verlockungen ins Ohr. Ich gab ihnen auch nach, in den Zeiten, als ich noch war ein junger Mann. Nachdem ich mich für das Wirken eines Priesters entschieden hatte, entsagte ich ihren, so schwer es mir auch fiel. Da ich selbst gelegentlich, wenn auch selten, diesem Laster frönte, bringe ich etwas an Verständnis gegenüber demjenigen auf, der diese Sünde begeht. Ich denke, als Diener seines Herrn ist es auch wichtig, sich den gegenwärtigen Gegebenheiten anzupassen, sonst erscheinen die Predigten wie ein Relikt aus der Vergangenheit, das heutzutage keine Gültigkeit mehr besitzt. Wenn Burschen im Beichtstuhl niederknien und berichten, sie trieben Onanie, soll ich ihnen erzählen, sie würden davon imbezil und erlitten Rückenmarksschwund? Das glaubt nun niemand mehr. Dennoch bleibt die Wollust eine schlimme Sünde, die sich nicht nur darauf beschränkt, mit dem Körper der Triebe Verlangen zu stillen, die der Geist erweckt. Sie äußert sich auch allgemein in Genusssucht und in ausschweifendem Gebaren. Denn nicht soll es sein, wie der Prophet Jesaja einst verkündete: „Wiewohl jetzt, siehe, ist´s eitel Freude und Wonne, Ochsen würgen, Schafe schlachten, Fleisch essen, Wein trinken und ihr sprecht: „Lasset uns essen und trinken, wir sterben doch morgen!““ Zwar bin ich der Meinung, dass das diesseitige Leben ist mehr als eine Vorbereitung auf das jenseitige, doch sollte man stets walten lassen Maß und Ziel.

Und doch gibt es auch sie, die Wollust in ihrer reinsten Form, als fleischliche Begierde, die dem einen Freude bereitet und des anderen ist sein Leid. Der Mann, der diese Missetat begangen hatte und mich aufsuchte, um von ihrer Schändlichkeit reingewaschen zu werden, ist kein Unbekannter in dieser Stadt, darum nenne ich ihn „Luca“, obschon sein Name anderslautend ist. Auf Zeitungsbildern sieht man Luca oft in meiner Kirche die Messe besuchend, doch in Wahrheit war er selten nur mein Gast. Luca ist Vertreter einer christlich-sozialen Fraktion und buhlt damit um Wählerstimmen. Mir soll es recht sein, wenn ich dadurch an Öffentlichkeit gewinn, ich weiß, auch Eitelkeit ist eine schwere Sünde, doch bin auch ich nicht ganz von ihr gefeit. Nie würde ich mir anmaßen, ich sei unfehlbar, drum taugte ich auch nicht zum Nachfolger Petri. Diesmal waren keine Kameras zugegen, als Luca in den Beichtstuhl trat. Sein Antlitz war soll Sorge ob seiner Lasterhaftigkeit. Er suchte die Nähe seines Herrn, dass dieser ihm vergebe die wahrliche Liederlichkeit seiner Tat. Er begann stockend, dass er eine Frau habe, die er liebe und um keinen Preis verlieren wolle, ganz anders, als er sich bei seinen Auftritten in der Menschenmenge gewohnt präsentierte. Sogleich spürte ich, dass der, der da vor mir kniete, der wahre Luca ist, als reuiger Sünder, und nicht der, der politische Ansichten verkauft. Er traf das Mädchen erstmals im Hause eines Waffenfabrikanten. Gedehnt und von langen Pausen unterbrochen sprach er zu Anfang, er tat sich schwer, sich mir zu offenbaren, dann schleuderte er zwischendrin Sätze nur bruchstückhaft aus seinem Mund heraus, als wollte er sein Bekenntnis möglichst schnell hinter sich bringen. Und ich staunte nicht schlecht, wusste ich doch nicht, dass solche Verquickungen zwischen Wirtschaft, Halbwelt und Politik tatsächlich bestanden, ich hatte sie stets für Gerüchte gehalten. Luca hatte seinem Chauffeur freigegeben und war selbst gefahren. Er hatte den Dienstwagen im Innenhof geparkt, er war von der Straße aus nicht ersichtlich. Luca hatte für den Fabrikanten, der sich um Embargos nichts scherte und seine tödliche Ware auch in Krisengebieten verkaufte, Lobbying betrieben, und er war gekommen, um seinen Lohn dafür zu kassieren. Er sei beileibe nicht der Einzige seiner Zunft, der solche Dienste gegen bare Münze leiste, versicherte Luca mir. Er speiste mit dem Fabrikanten, Reis und Hummer und Meeresfrüchte. Neben seinem Gedeck lag ein Kuvert prall gefüllt mit Hundert-Euro-Scheinen. Dazu tranken sie Portwein und Chianti und später Cognac. Die Gattin des Fabrikanten war nicht zugegen, Kinder hatte Luca nie dort gesehen, vielleicht gab es keine, oder der Fabrikant hielt sie bewusst fern, um sie zu schützen. Dafür saßen vier Damen an einem Tisch. Der Fabrikant winkte sie her. Sie nahmen Platz auf einem Sofa Luca gegenüber. Sie waren sehr verschiedentlich. Gemein war ihnen lediglich, dass sie alle spärlich bekleidet waren. Eine war groß mit einem eher herben Gesicht, blonden Haaren und langen Beinen, schon ein wenig älter, dafür sicher sehr erfahren. Eine andere kleiner mit schwarzer Kurzhaarfrisur, in etwa Mitte zwanzig, mit üppigem Busen und einem ebensolchen Po. Die Dritte war eher androgyn, sehr schlank, mit Haaren braun wie Augen, von nicht leicht zu schätzendem Alter, womöglich Anfang dreißig. Die Letzte war mehr Mädchen noch als Frau, ihr Haar war rötlich lang und Sommersprossen bedeckten ihre nahezu elfenbeinweiße Haut. Was in ihrem Ausschnitt zu sehen war, würde noch reifen. Sie war die Einzige, die Luca nicht direkt ins Gesicht blickte. Sicherlich noch nicht lange war sie in diesem Metier tätig. „Wie heißt du?“, fragte sie Luca. „Valentina“, kam zur Antwort. „Setz dich doch zu mir, Valentina“, sagte Luca, „oder hast du etwa Angst?“ Das Mädchen, das sich „Valentina“ nannte, lächelte unsicher, sie schien nicht so recht zu verstehen. Lucas Hand machte eine einladende Bewegung. Etwas umständlich stand sie auf und setzte sich an Lucas rechte Seite. Ihre Heimat war nicht die seine, sie lernte Lucas Sprache erst. Sie war barfüßig und trug ein knappes Kleid, das weiß war und grün wie auch ihre Augen. Ihr Mund war voll und sehr rot geschminkt. Huren küssen nicht, dachte Luca, doch Valentina tat es doch, nachdem sie sich in eines der Schlafzimmer im Haus des Fabrikanten zurückgezogen hatten und sie sich vor ihm entblößte. Ihr ranker Körper wirkte, was sie gewiss nicht war, jungfräulich. Im Spiel der Sinne vergaß Luca die Dekaden, die zwischen ihnen lagen. Als sie sich wieder anzog, fragte Luca sie nach der Nummer ihres Mobiltelefons. Sie gab sie ihm. „Bitte ruf nicht du mich an, warte, bis ich mich melde“, sagte ihr Luca beim Abschied. „Ja sicher“, entgegnete sie und lieh ihm nochmals ihren Mund, auf dass er ihn küsse. Nicht er war der Jäger. Sie war die Jägerin und hatte ihn eingefangen mit einem Schmetterlingsnetz. Immer wieder rief er sie an, immer häufiger wurden ihre Treffen. Seiner Frau gab er vor, er hätte berufliche Verpflichtungen, Politik betreiben und Geschäfte machen in steter Verschränkung, von seinen sündigen Geschäften wusste Annabella, von seinem restlichen Treiben hatte sie nicht den Schimmer einer Ahnung. Zunächst fuhr er mit Valentina zu einfachen Pensionen auf dem Land, wo er weit mehr zahlte als den üblichen Preis für eine Nächtigung, um sich des Schweigens des Inhabers zu versichern. Selten blieben sie länger als einige Stunden. Zusätzlich zu ihrem Schandeslohn erbrachte er Valentina kostbare Geschenke, Fußkettchen, Armreifen, Colliers und Ringe und dergleichen mehr. Schließlich sorgte Luca für die Miete einer kleinen Wohnung, in der er Valentina unterbrachte, auch für die Einrichtung stellte er sämtliche Mittel bereit. Nach jedem Akt, der für ihn einer der Liebe war, für sie einer der bitteren Notwendigkeit, schmolz die Zahl seiner Lebensjahre wie Eis in der Sonne. Als er sie einmal fragte: „Wie alt bist du denn eigentlich?“, erwiderte sie ihm: „Neunzehn, bald schon werde ich zwanzig.“ Glaubte Luca ihr, oder glaubte er ihr nicht, ich weiß es nicht. Von ihrer Gestalt her mochte sie kaum älter als fünfzehn sein. Ich denke, es spielte für ihn keine wichtige Rolle. Eines Nachts, er lag gerade mit Annabella im Bett, läutete sein Mobiltelefon. Die anrufende Nummer war unterdrückt. Luca nahm das Gespräch an. „Du Hurensohn“, erschallte eine Stimme mit einem harten östlichen Akzent, „du weißt wohl nicht, wie alt Valentina ist, nicht? Sie ist erst vierzehn.“ Luca entgegnete nichts, er ging rasch ins Bad. „Ich will dir eine Chance geben, du Bastard“, fuhr die Stimme fort, „gib mir 100.000 Euro und ich halte den Mund.“ Luca atmete schwer, er hatte begriffen, fragte nur: „Wann und wo?“ „Morgen um zehn Uhr nachts in Valentinas Wohnung“, war die Antwort. Luca besorgte das Geld von einem in einem Zwergstaat gelegenen ihm gehörenden Nummernkonto, dessen Existenz Annabella nicht bekannt war. Er übergab es dem Mann, der klein war und muskulös und goldbehängt. Valentina saß daneben und sagte zu Luca: „Du bist doch ein echter Idiot.“ Plagten ihn nun Gewissensbisse und seines Herzens schiere Not, dass er mich aufsuchte und mir dies erzählte, oder war er wirklich gewillt, den rechten Weg des Herrn wieder zu beschreiten und der Sündhaftigkeit wieder abzuschwören? Ich will zweiteres als Wahrheit erkennen, denn ich will das Gute in des Herren lehmgeformten Geschöpfes sehen, doch meine Stimme hat Luca verloren, jemanden wie ihn wähle in Zukunft ich sicherlich nicht.

Wir sind dekadent geworden. Unsere Lebensführung ist vergleichbar mit der des spätrömischen Reiches, nur technikgläubig scheinbar fortschrittlicher. Die alten Orgien sind nun Partys. Aus Wein, Weib und Gesang wurde, Sex, Drugs and Rock ´n´ Roll. Die Arbeitszeiten werden ständig verkürzt, ohne dass der allgemeine Wohlstand in unseren Breiten eklatant leidet. Wohl sind erste Welle der Krise ersichtlich, doch es wird noch dauern, bis sie sind hoch getürmt. Die Bequemlichkeit hat um sich gegriffen. Wir haben nun viel freie Zeit, die wir doch nicht nutzen, um uns mit des Herrn Wunsch an uns auseinanderzusetzen, dass wir nur seien ein Glied in dieser Welt, wenngleich das einzige vernunftbegabte, doch wir treiben es, wie es uns gefällt, behaften uns mit Sünden mannigfacher Art. Sagt mir, wer ist denn heute noch bereit, die Heilige Schrift zu lesen und sie für sich zu deuten? Wer hält sich unbedingt an des Herrn Gebote? Wer lauscht noch seinem heilsbringendem Wort? Die wenigen, die dem Herrn noch folgen, gelten gemeinhin als blauäugig naiv und als nicht gegenwartsbezogen. Den Zeitgenossen des Mittelalters, das auch das dunkle wird genannt, gälten wir heute als Riesen, denn klein war damals ihr Wuchs, doch sind wir es nur an des Leibes Gestalt, nicht von unseres Geistes Sinnen und Trachten. Was dennoch einen Funken der Hoffnung in mir entzündet, ist, das eine namhafte Zahl von bedeutenden Wissenschaftlern, vorrangig Mathematikern und Physikern, an die Existenz eines überirdischen Wesens glaubt, manche nennen es „Gott“, da in ihren Berechnungen zu viele Variablen fehlten, als dass sie zu einem Ergebnis kämen, das erkläre die Gesetze der Himmelsmechanik. Auch wenn das All war zu Beginn bloß ein Ball von unendlicher Dichte und unfassbarer Temperatur, wer bewirkte, dass dieser auseinandertrieb und uns Myriaden von Sonnen schenkte? Und was war vorher gewesen? Nur durch die Anwesenheit unseres gütigen Herrn lassen sich sämtliche Theorien zur Entstehung der Welt schlüssig beweisen. Der Gedanke seiner Händen Schöpfung widerspricht nicht den Naturgesetzen. Er macht diese erst möglich.

Offenherzig gesprochen, kann ich mancher Art von sündigem Treiben in begrenztem Ausmaß an Erkenntnis nachvollziehen. In diesem bestimmtem Falle meine ich das des Zornes, weniger das seine frevlerische Wirkung ausübend zu entfachen, als vielmehr sein Gefühl in mir zu spüren. Mag es mir auch Ungemach bereiten seitens meiner im Glauben verbundenen katholischen Würdenträger, ich stehe dazu, dass ich den Unmut meiner in den Suren des Korans ihre Erhellung findenden Brüder und Schwestern denen gegenüber, die ihnen rauben wollen ihrer Erden Öl und sie als steinzeitlich bezeichnen, einiges abgewinnen kann. Nicht finde ich es recht, dass diese Wut sich entlädt in Anschlägen mit Sprengsätzen geführt, denn meist sind die, welche am unmittelbarsten darunter leiden, jene, die es am wenigsten haben verdient, doch findet die Furie der Anhänger der Lehre vom flammenden Schwert, die nicht anders als wir Christen auch Kinder Gottes sind, gegen manche Mächte des Westens auch in meinem Denken Platz. Nur sollten sie ihre Muezzins nicht so laut rufen lassen, und wenn sie die Anhängerschaft zu Taten der Vergeltung verlangen, sich von ihnen abkehren. Die Schar derer, die leben, wie es dem Propheten Mohammed gefiele, ist inzwischen zahlreicher als die von uns Katholiken, und ihr Glauben ist fester. Sie respektieren die Gebote, die ihnen ihre Religion auferlegt, strenger. Meine geistlichen Kollegen mögen mich rügen, wenn ich laut es ausspreche, also schreibe ich es leise: Die Glaubensgemeinschaft des Islam kann uns Katholiken in ihrer Fürchtigkeit vor dem Herrn durchaus als Vorbild dienen. Ihr Zorn ist mir begreiflich, doch ist er mir zu jäh. Er mündet in Vergeltungssuch und in der Bedürftigkeit, Rache zu nehmen. Dieser Überschwang des Herzens vermag auch verführen zu sündhaften Handlungen, nicht nur Güte wohnt inne im Herzen, sondern auch Ingrimm und Hass. „Wenn ihr zürnt, dann lasst euch von eurem Zorn nicht zu Unrecht verleiten. Räumt ihn aus, ehe die Sonne untergeht“, steht sinnigerweise geschrieben in der Heiligen Schrift. Doch wenn Satan, des Zornes Dämon, zu einem Menschen spricht, dann werden seine Taten nehmen einen sündigen Verlauf.

So war es Massimo ergangen. Sogleich, als ich ihn sah, erkannte ich, dass er ein Gescheiterter war. Er hatte das Gesicht eines Trinkers, aufgequollen, von teigigem Teint, unzählige Äderchen waren bläulich geplatzt. Seine Hände zitterten leicht, wie Laub im Wechselwind. Die Kleidung, die er trug, war einfach, das Sakko an den Ärmeln abgestoßen, die Schuhe waren ausgetreten, er hatte sie frisch geputzt, wenigstens sie sollten glänzen, wenn schon seine Seele es nicht mehr tat. Er habe lange gezögert, den Weg zu mir anzutreten, begann er, doch schließlich habe er sich dazu aufgerafft, um die Last seiner Sünden abzustreifen und seinem Herrn Ehrerbietung zu erweisen. Massimos Vater richtete sich selbst, als der noch ein Kind war. Seine Mutter versank in schweren Trübsinn und konnte nicht mehr recht für ihn sorgen. Sie gab ihn zu ihrer Mutter, die damals war eine boshafte und harte alte Frau, die enttäuscht war vom Leben. Massimo wuchs unter ihren Schlägen und andauernden Kränkungen auf. Er versuchte vieles, um ihre Zuneigung zu erlangen, doch ohne jeden Erfolg. Die Wohnung war winzig. Massimo hatte keinen eigenen Raum, er schlief im Wohnzimmer. Das Geld war knapp. Spielzeug, und das nur wenig, bekam Massimo nur an seinen Geburtstagen und zu Weihnachten. Seine Kleidung erhielt die Großmutter größtenteils geschenkt. Auch wenn eine Kugel Eis billig war, für ihn war sie teuer. In der Grundschule fiel dies kaum auf, denn da hatten seine Kameraden Pausenbrote mit, so auch er, doch nach dem Unterricht in der Mittelschule, die er danach besuchte, es war eine bessere mit höheren Anforderungen, denn Massimo hatte einen hellen Kopf, gingen seine Kameraden gelegentlich zu eine der Piazze, um eine Cola zu trinken und um ein Panino zu essen, und er konnte sie nur begleiten, wenn ein andrer für ihn zahlte. Seine Schulkameraden trugen Markenkleidung und erzählten von den Berufen ihrer Väter, die hoch honoriert waren und meist auch der Gesellschaft dienlich. Massimos Gewand war schäbig und er hatte keinen Vater mehr. In der Oberschule dann wurde diese Diskrepanz eklatant. Nun ging er auf eine technische Gewerbeoberschule, er hatte die fixe Idee, später einmal sich ein eigenes Auto zu bauen. Seine Kameraden waren zumeist schnöselig, Fabrikantensöhne zuhauf, die später die Firma ihrer Väter erbten. Im ersten Jahr lernte Massimo noch fleißig, denn der Unterrichtsstoff interessierte ihn, doch dann wurde es ihm zu wenig an Freude, tagsüber in der Schule zu sitzen, abends die Hausübungen zu machen und des Nachts zu lernen. Jahrelang würde dies noch so weitergehen. Es fehlte ihm an süßen Genüssen. Manche seiner Kameraden hatten Freundinnen, sie fuhren mit Vespas umher, waren in der beginnenden Nacht häufig in Lokalen anzufinden. Massimo hatte all das nicht. Er hatte nur die Schule und sonst keinen Spaß. Nicht länger wollte er der Plebejer unter Patriziern sein, er wollte auch gehören zu ihrem Kreis, und das nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon bald. Er fing an, dem Unterricht fernzubleiben und seine Tage auf den Piazze zu verbringen, vornehmlich an dem, wo die zentrale Busumsteigestation sich befand, da traf er auf andere jugendlich Enttäuschte, die Bier aus der Dose tranken, Wein aus der Flasche und im nahegelegenen Park Haschisch rauchten. Bald schon war er einer von ihnen geworden. Die Busse brachten ständig neue Gesichter, alte Gesichter, junge Gesichter, Gesichter, die Abwechslung suchten und Vergnügen. So traf er auf Alfonso, der des gleichen Alters war wie er, dem langweilig war und der Abenteuer suchte. Alfonsos Eltern besaßen ein platzfüllendes Haus, das etwas schrullig anmutete, da ein Architekt es geplant hatte, der seine Sache nicht richtig verstand, inmitten eines weitläufigen Gartens in einem der besten Viertel der Stadt, der von Kirschbäumen bewachsen war und solchen mit Äpfeln und Birnen. Alfonsos Vater besaß eine Handelsfirma, der er auch vorstand. Er wollte, dass Alfonso ihm nachfolge, doch dem mangelte es an Interesse, er schrieb lieber Gedichte, manche zeigte er Massimo, die waren nicht mal so schlecht. Massimo konnte ihm bieten, wonach ihm der Sinn stand, Joints rauchen, Musik hören, nicht nur Bier und Wein, sondern auch Cocktails trinken. Massimo sorgte für die Zerstreuung, für die Alfonso hatte das Geld. Er nahm ihn mit zu sich nach Hause. Alfonsos Zimmer erschien Massimo riesig, im Garten stand ein Tischtennistisch und seine Mutter war blond und sah aus wie eine Göttin. Das Wichtigste jedoch war: Alfonso hatte eine Schwester, die hieß „Stella“, was nicht sehr passend war, denn sie war das Gegenteil von hübsch. Sie war gerade ein Jahr jünger als Alfonso, ihre Beine waren voller schwarzer Haare, sie wusste um ihre Hässlichkeit und redete daher nicht viel. Massimo erkannte seine Chance. Er umwarb sie und schließlich wurde sie schwach. Ihre Eltern hatten nichts gegen diese Beziehung, vielmehr waren sie froh, dass Stella wenn schon nicht einen Standesgleichen, dann besser irgendjemanden gefunden hatte. Massimo hielt sich an sie und unterdrückte sein Grausen, wenn sie mit ihm Liebe machen wollte. Er gab die Schule auf. Bald zogen er und Stella in eine Wohnung, die ihr Vater nicht für sie mietete, sondern gleich auf Stellas Namen kaufte. Er stellte Massimo als Bürokraft ein, der war ja nicht dumm, nur ungelernt. Massimo erledigte den Telefondienst und übernahm Arbeiten, mit denen die Sekretärinnen ihn betrauten. Währenddessen absolvierte Alfonso die Schule und maturierte, um danach Handelswissenschaften, er hatte sich besonnen und betrieb die Schreiberei nur noch nebenher, an der hiesigen Universität zu studieren. Die Jahre kamen, die Jahre gingen, aus Massimo war ein Rezeptionist und Bürodiener geworden, Alfonso hatte sein Studium bald schon beendet. Massimo wusste, er bräuchte eine Absicherung und hatte sich darum stets bemüht, Stella ein Kind zu zeugen, doch dieser Segen wollte sich nicht einstellen, Massimos Mühen waren umsonst. Die Konjunktur ebbte ab, die Geschäfte der Firma liefen schlechter. Der Vater zog sich zurück in die Pension und Alfonso, der mittlerweile akademische Weihen erhalten hatte, übernahm die Firmenleitung. Er war nun nicht mehr so unbedarft wie früher, er führte die Firma mit harter Hand. Bald schon erkannte er, dass Massimos Stelle eine nicht notwenige war. Und Stella wollte unbedingt Kinder, die Massimo ihr nicht konnte bescheren. Sie sah zwar nicht gut aus, doch ihr Vater hatte ihr Besitztümer überschrieben und leistete ihr eine monatliche Zahlung, darum hatte sie Geld. Dieser Umstand sprach sich herum und sie brauchte nicht lange, um einen neuen Mann zu finden. Dieser war wohl viele Jahre älter als sie, doch sah man es ihm nicht an. Ihm war klar, worauf es ankam, und das Glück war ihm beschieden. Stella wurde von ihm schwanger. Ihr heimliches Verhältnis ließ sich nun nicht mehr verbergen. Sie trennte sich von Massimo, sie trug ihm schlichtwegs auf, sie war nicht gerade geschickt im Umgang mit Gefühlen, die gemeinsame Wohnung binnen kurzer Zeit zu verlassen. Nun sah auch Alfonso keine Notwendigkeit mehr, ihn länger zu beschäftigen. Massimo zog in etwas, was mehr ein Loch war als eine Wohnung. Um seine Schwermut zu bekämpfen, begann er Bier und Magenbitter zu trinken, anfangs nur wenig, doch es wurde täglich mehr. Zorn stieg in ihm auf, gar nicht auf Stella, die hatte er nie hoch geachtet, aber auf Alfonso, der wohl der Geschäftsführer der Firma war, doch nicht ihr Besitzer, der war sein Vater. Alfonso war mittlerweile verheiratet und Vater zweier Kinder. Und Massimo, der wusste von Verfehlungen von Alfons Seiten, von Seitensprüngen mit Prostituierten, von illegalen Preisabsprachen mit Konkurrenten, von unversteuerten Geldern, die er nach Liechtenstein transferierte, von gelegentlichem Kokainkonsum, wenn er sich schlecht fühlte. Er tat alles, um Alfonso zu schaden, setzte jeden Hebel, dem er habhaft werden konnte, in Bewegung. Er rief Alfonsos Frau an und berichtete ihr in allen Einzelheiten, welchen Genuss dieser bei anderen Frauen verspürt hatte und welche Dienste sie für ihn geleistet hatten. Er meldete sich bei der Wirtschaftspolizei, beim Finanzamt und beim Drogendezernat. Wenn diese Stellen seinen Behauptungen keinen Glauben schenken wollten, legte er die Anonymität ab und nannte seinen Namen, so voller Hass war er und gierig nach Rache. Alfonso erlitt nicht so viel Unbill, wie es angemessen gewesen wäre. Meist gelang es ihm sich herauszureden, die Vorwürfe seien haltlos und es fehle an Beweisen. Er kam ziemlich ungeschoren aus dieser misslichen Situation heraus, zahlte lediglich einige zehntausend Euro an Steuern nach, nur seine Frau wusch ihm ordentlich den Kopf, doch auch seine Ehe hatte weiterhin Bestand. Massimo hingegen fiel dafür tiefer und tiefer, er hielt sich mit Tageslöhnerdiensten als Tankwart, Putzhilfe und Tellerwäscher über Wasser, bis er schließlich überhaupt keiner Tätigkeit mehr nachgehen konnte, da er bereits zu schwitzen begann nach einer Stunde ohne Alkohol und seine Hände unkoordinierte Bewegungen vollführten. Ein von Vergeltungssucht zerfressener Mann, der nun zu mir beichten kam. Da er Reue zeigte, erlöste ich ihn im Namen des Herrn. Seine Gnade möge ihm zugetan sein, dem Fehlgeleiteten, dem, der schon verloren hatte, bevor er hatte gespielt.

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“, beliebe ich den Gläubigen zu vermelden. Kaum einer sündigt nicht, und das täglich, und eine Sünde kommt selten allein. Häufig sind sind sie miteinander verwoben, Zorn geht ein mit Neid, Hochmut kommt des Öfteren mit Geiz, Wollust schließt gelegentlich Gula mit ein, im Sinne der Maßlosigkeit. Wir Kinder Gottes sind seinem Ebenbild nicht gerecht, so vollkommen er ist, so unfertig sind wir. In dieser materialistischen Welt, in der wir angelangt, wird sein Wort nicht mehr gern gehört. Was als Sünde er bezeichnet, ist heute geradezu Etikette. In besonderem Maße trifft dies auf die Habsucht zu. Die Werbung uns vermittelt, was dein Nächster besitzt, soll auch sein das Deine. Der Wert der Menschen wird an ihrem Besitz und ihrem Einkommen gemessen. Verdienst du viel, wird dich der Bankangestellte mit freundlichen Worten umgarnen. In meiner Kirche und jeder anderen mir bekannten ist das anders, jeder Betende hat denselben Stellenwert. Was zählt, ist seine Wohlerzogenheit, seine Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit zu lieben, seinen Nächsten und den Herrn, ohne dafür Liebe zu verlangen. Der Gottgefällige gibt, was er hat, bis er steht mit leeren Händen da. Dafür sei ihm die Zuneigung seines Herrn beschieden und die von Warmherzigen. Der Herr ist in allem, in jedem Staubkorn und in jedem Stern, er ist unendlich klein und er ist unendlich groß. Nicht umsonst hat er uns ausgestattet mit Vernunft. Wir sind die Einzigen, die ihn können begreifen. Manchmal denk ich fast, er war schon müde, als er hat uns erschaffen. Zunächst war ja alles noch in Ordnung gewesen, doch als Eva aß vom Baum der Erkenntnis, ging der Ärger richtig los.

Menschen essen, Tiere fressen, das ist der Unterschied. Der Verfall an Sittlichkeit mag man gut an der Kultur des Essens bewerten, zu viel, zu schwer, zu fett und heutzutage zu „schnell“, was den Hunger stillt nur für kurze Zeit. Die Völlerei ist nicht nur sündhaft, sie ist auch ganz profan ungesund. Sein Dämon Beelzebub hat nun leichtes Spiel. Der Herr der Fliegen, so klein er auch sei, ist gar ein Mächtiger in des Teufels zahlreicher Schar. Die Gefräßigkeit hat geschaffen einen profitablen Wirtschaftszweig, der insbesondere für Frauen, wenn der Sommer ist im Anzug, Programme bereitstellt bestehend aus Leibesübungen und Diäten gegen bares Geld. Was sie dadurch an Leibesfülle verlieren, nehmen sie später zumeist wieder zu. Beelzebubs Süßholzgeraspel verleitet nicht nur zu frevelhaftem Verhalten, es macht auch dick. So rate ich meiner Gemeinde zu beherzigen des Lukas´ Spruch, der da lautet: „Hütet euch, dass eure Herzen nicht mit Völlerei, Trunkenheit und den Sorgen dieses Lebens beschwert werden.“ Beherzigten ihre Mitglieder diese Worte, würde nicht nur ihr Leben ihnen leichter fallen, sondern auch ihr Gewicht.

Diesmal war es eine Frau, die bei mir erschien, um ihrer Sünde abzuschwören. Sie war zwar zu dick, Beelzebub hatte sein Werk an ihr gründlich verrichtet, doch ihr Gesicht wies auf eine selten vorkommende Ebenmäßigkeit. Sie war eine Schönheit, immer noch. Ihr Name war „Giulia“. Sie ging einer Arbeit als Lehrerin in einer Grundschule nach und sie lebte in geordneten Verhältnissen. Ihr Ehemann Alessandro war Monteur und daher viel auf Reisen und selten zuhaus, Giulias Liebe zu ihm erfuhr dadurch jedoch kaum eine Minderung und sie hielt ihm die Treue, obwohl sie so manches Angebot erhielt, das sie jedes Mal ausschlug. Der gemeinsame Sohn Lorenzo war im Alter eines Heranwachsenden. Giulia zeigte mir ein Foto von ihm, das sie in ihrer Brieftasche verwahrte. Er sah aus wie seine Mutter, das gleiche dunkle, dichte, gekräuselte Haar, die gleichen braunen Augen, derselbe wellige Mund. Lorenzo ging in die Schule, seine Noten waren nun schlechter als früher, denn jetzt interessierte er sich mehr für andere Dinge, mit Freunden ins Kino gehen, Mädchen aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. Was ihm seine Jugend versprach, wollte er für sich verwenden. Er half aber auch in der Schulbibliothek, las viel und schrieb spannende Geschichten. Er hätte weit ungünstiger sein können für Giulia, als es um sie stand. Wenn da nur nicht diese vermaledeite zügellose Esserei gewesen wäre. Giulias Redefluss, der hörbar der erfahrene war einer Frau, die von berufswegen viel sprach, rann nicht mehr so gleichmäßig dahin, als sie von ihren eigenen Belangen erzählte, Stromschnellen waren zeitweilen ihn ihm drin, dann wieder stand das Wasser ihrer Worte fast still. Den wenigsten fällt es leicht, ihre Missetaten dem Herrn zu offenbaren. Doch tun sie es, damit er vergibt ihnen ihre Schuld. Giulia war stets beschäftigt, sie verrichtete ihre berufliche Arbeit, sie holte Lorenzo von der Schule ab, kochte und lernte dann mit ihm, kümmerte sich um den ganzen Haushalt, auch wenn im Haus Reparaturen anstanden, leitete sie diese in die Wege, wenn sie sie nicht gleich selbst erledigte. Alessandro war ja meist nicht zugegen. Um dieser andauernden Belastung gewachsen zu sein, aß sie, und das meistens nachts. Sie stand vom Schlaf auf, noch traumverloren, ging in die Küche und suchte nach Lebensmitteln, die möglichst süß den Gaumen ausfüllten. Waren keine solchen Leckereien im Haus, stopfte sie sich Haselnusscreme oder bloße Marmelade in den Mund. Überall lagen angebrauchte Löffel verstreut. Den Ameisen war das eine Freude. Sie kamen in langen Straßen, um die Speisereste wegzutragen. Giulia hatte dann noch mehr Mühe, da sie die Ameisen wieder aus dem Hause schaffen musste. Ihr Körper dehnte sich und wurde schwabbelig. Besonders sommers schämte sie sich seinetwegen. „Nächsten Sommer werde ich wieder meine alte Figur zurückhaben“, sagte sie sich daraufhin zum Trost. Sie bemühte sich darum, sie strengte sich wirklich an, schmolz der Schnee im Garten und ging der Winter zur Neige, schrieb sie sich in Fitnessstudios ein und probierte alle nur erdenklichen Diäten. Sie nahm wochenlang nur weißes Brot und Milch zu sich oder ausschließlich Kartoffeln, tagsüber, oder sie aß Trennkost, jedem Versprechen der Erlangung von Schlankheit schenkte sie Glauben. An Neumondtagen fastete sie ausschließlich. Das Problem waren die Nächte. Da vermochte sie regelmäßig nicht, den Versuchungen zu widerstehen. Der Tage Lohn machten die Nächte wieder zunichte. Alessandro fielen diese üblen Gewohnheiten seiner Frau auf, er versteckte die Speisen, die Giulia besonders gerne aß. Doch nützte es herzlich wenig, denn wenn Giulia keine Schokolade fand, dann aß sie eben Nüsse. Sie konsultierte deswegen auch einen Arzt, der ihren Blutzuckerspiegel untersuchte, doch der erwies sich als normal. Als sie einmal einen Termin in ihrer Bank wahrgenommen hatte, stand eine Schale voller Bonbons auf dem Tisch ihres Beraters. Es war ein wichtiges Gespräch, das sie führte. Während sie sprach oder zuhörte, fischte sie ständig neues Zuckerwerk heraus. Als sie ging, war die Schale zur Hälfte geleert. Sie tat vieles, um sich Beelzebubs Einflussnahme zu entziehen, doch gar war er eine der vielen Fliegen, die nun die Küche bevölkerten, nebst Motten, die auseinanderstoben, wenn man die Kästchen öffnete, in denen Feigen und Datteln lagerten, in seiner leibhaftigen Gestalt. Die Knie taten ihr weh und die Hüften und die Füße, wenn sie im Unterricht nur wie gewöhnlich auf und ab ging. Schuld dran war ihre Fülligkeit. Sie dachte sogar an die Möglichkeit einer Liposuktion. Jedes Mittel wäre ihr recht gewesen, um sich selbst im Spiegel zu gefallen. Trotz ihrer barocken Maße war sie eine begehrenswerte und reizvolle Frau, aber das sahen zwar die Männer, doch nicht sie. Unternahm sie mit Alessandro einen Schaufensterbummel, wurde sie traurig, wenn sie all die schicken Kleider sah, die in ihrer Größe nicht waren verfügbar. Bei jedem Geschäft verdüsterte sich ihre Laune mehr. Sagte ihr Alessandro, sie sei bezaubernd und ihre runden Formen stünden ihr gar nicht so schlecht, was der Wahrheit entspricht, auch ich mag es zu bezeugen, vermeinte sie nur doppelzüngige Schmeicheleien zu erkennen, um sie zum Spiel der Körper zu verführen. Verlor sie zwischendrin dann doch etwas an Gewicht, waren stets scheinbar wohlmeinende Kolleginnen zur Stelle, die ihr rieten, beim Abnehmen achtzugeben, denn so litte das Gesicht. Dabei sah sie doch so fabelhaft aus, dass auch ohne Schminke sie konnte verlassen das Haus, und auch so war sie der hellste aller umliegenden Sterne. Sie konnte sich gut durchsetzen, sie war eine starke Frau, nur gegenüber den Einflüsterungen des Teufels zur Gefräßigkeit verleitenden Dämons war sie machtlos. So was sie denn in meine Kirche gelangt, suchend den Beistand ihres Herrn und seiner Worte Trost durch meinen Mund. Und ich tat, was sich meiner strenggenommen eigentlich nicht geziemte, ich machte ihr ein Kompliment. Was mag sie sich daraufhin wohl gedacht haben? Ein Mann Gottes, fürwahr, aber doch eben ein Mann? Dies mag wohl sein, denn als sie mich verließ, umspielte ein Lächeln ihre Lippen.

Auch ich bin nicht gefeit vor den Verlockungen der lieblichen Körperlichkeit. Manchmal passiert es eben doch, dass ich mich ihrer erinnere. Ich spüre nun des Herrn strafenden Blick, doch die Gedanken daran sind stets schön.

Unsere katholische Lehre von des einen einzigen Gottes bezeichnen nun viele als weltfremd und nicht auf der Höhe ihrer Zeit. Ich sage euch, sie nicht das Erste und sehr wohl das Zweite. Jene, die dies rufen, wollen nur verführen zu Habsucht, Genusssucht, Maßlosigkeit und Neid, und sie stellen diese dar als die neuen Werte. Die Wirtschaftsordnung baut zum guten Teil darauf auf, Konsumlust zu erwecken. Wer denn außer wir Vertreter dieser unserer Religion erhebt denn noch seine Stimme, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten? Die Wirtschaftstreibenden unternehmen gar vieles, diese unsere gottesgefällige Stimme zu schwächen, sie möglichst unhörbar zu machen für eure lauschenden Ohren. Was früher war schlecht, soll heut sein recht. Kauft doch, ihr lieben Bürger, sammelt Reichtümer an und gewährt euren Herzen, dass sie sich verhärten, denn wer wenig besitzt, hat es nicht besser verdient. So sprechen ihre zahllosen Münder. So sprach auch die Schlange dereinst im Paradies. Manche meiner geistlichen Brüder werden in Misskredit gebracht, die Seiten der Zeitungen sind voll von Aussagen ehemaliger Ministranten und Zöglingen, die von des Priesters Hand an ihrer Hose berichten. Wohl ist mir bekannt, dass manche der Wahrheit entsprechen, auch Männer der Kirche sind vor Verfehlungen nicht gefeit, doch diese Anschuldigungen treten auf mit immenser Wucht. Wir Geistliche werden als Lüstlinge dargestellt, als Sklaven unseres Fleisches. Seid ihr euch denn nicht dessen bewusst, dass jeder Journalist froh ist, wenn er hat ein Thema, über das er kann schreiben? Bemerkt ihr denn nicht, dass dies zum guten Teil sind konzertierte Aktionen, um die Gläubigen aus dem Schoße der Kirche zu treiben?

Was ebenfalls Sorgenfalten auf meine Stirn zeichnet, ist der wachsende Einfluss der Freikirchen. Sie leisten Versprechungen, die kein Gott kann je erfüllen. Sie betreiben Ablasshandel, dem unsere Kirche schon vor Jahrhunderten hat abgeschworen. Ihre Anhänger verteilen Broschüren, sie gehen von Haus zu Haus. Ich muss ihnen zugutehalten, dass wenigstens sie glauben an das Vorhandensein unseres einzigen Herrn und dass ihre Regeln oft sogar strenger sind als die unser katholischen Kirche. Doch was sie häufig nur begehren, sind eure geldwerten Mittel. Wisst ihr denn wirklich, ob die Kirche, für die sie um Kollekten bitten, jemals tatsächlich wird erbaut? Wer wahrhaft spürt des Herrn Allmächtigkeit, ihm gewährt Ehrerbietigkeit und ist bemüht, gemäß seinen Geboten sein diesseitiges Leben zu fristen, der tut am besten daran, in unserer Kirche das Heil zu erlangen, welches der Herr ihm der Tage und Nächte gnädig beschert.

Wir heutzutage Geborenen waten in Sümpfen von Sünden. Beginnt es zu regnen, bin ich erfüllt von Angst, der Herr möge gar nicht mehr wieder die Sonne am Himmel erscheinen lassen. Stets predige ich, verharrt nicht in steter Monotonie, erkennt die Sünde also solche, folgt nicht wie Ratten blindlings dem Flötenspieler, öffnet eure Herzen und lässt den göttlichen Atem hinein.

Als einer der mächtigsten Einflüsterer dieser Moderne ist wohl Leviathan zu bezeichnen, der Dämon des Neides, der Missgunst und der Eifersucht. Er ist der, der den Konsumenten lässt kaufen, der düstere, der aus dem Wasser kommt. Seine Worte sind von der Temperatur eines guten Weines, von des Hades teuflischer Bedacht, und sie klingen süßer als türkischer Honig. Ihr, die ihr diese Erde bevölkert, kommt nicht umhin, sie in der Tage Verlauf ständig zu hören, Leviathans Verführungskunst ist seit Urzeiten gerühmt, doch seid euch dessen im Klaren, dass wenn ihr ihnen lässt folgen Taten, die ihm mögen gefallen, dies die Abkehr von des Herrn Wunsch an euch bewirkt. „Ein gütiges Herz ist des Leibes Leben; aber Neid ist Eiter in den Gebeinen“, sagte schon der Prophet Salomo, und wie wahr, er hat bis heute Recht.

Francesco, mein nächster auf Abwegen Geratene, war den Verlockungen dieses Wasserdämons verfallen. Sein Mund war verkniffen und seine Augäpfel wanderten rastlos hin und her. Er war ein Getriebener. Neid isst die Seele. Bei ihm konnte man sehen, dass dies ist wirklich wahr. Seine Kleidung war korrekt, obschon sie den Eindruck machte, als sei sie nicht teuer, grauer Anzug von der Stange, aus unbehandeltem Stoff, weißes Hemd ohne Etikette, dunkelblaue Krawatte. Schmucklos und unauffällig, seinem Beruf entsprechend, der der eines Finanzbeamten war. Er war sich seines Unrechts bewusst. In höflicher Rede bat er mich, ihm die Beichte abzunehmen, denn er wolle Sühne zeigen und wieder des Herrn schützende Arme um seinen Leib spüren. Ich wies ihn an, im Beichtstuhl niederzuknien, auch ich nahm darin Platz. Er begann zu erzählen, für einen Sünder wohl recht abgeklärt, in des breiten Stromes ruhigen Flusses.

Francesco war ein durchschnittlicher Mann, der mit einer durchschnittlichen Frau und einer durchschnittlichen kleinen Tochter in einem durchschnittlichen Haus, schon recht weit auf dem Lande, welches er geerbt hatte, lebte. Keine anmutigere Frau hatte sich über einen längeren Zeitraum mit ihm abgeben wollen, und auch keine mit höheren Geistesgaben gesegnete. So hatte er mit Sara vorlieb nehmen müssen. Am besten an ihr gefiel ihm noch der Name. Er hatte sich einen Buben gewünscht, den er „Claudio“ genannt hätte, nach seinem früh verstorbenen Vater, zu dem er eine enge Bindung gehabt hatte, der mit ihm Fahrradausflüge unternommen hatte, mit ihm baden gegangen war, gemeinsam hatten sie am Strand Sandburgen erbaut, sie waren in Museen und Bilderausstellungen gewesen, und Vater hatte ihm oft aus Bilderbüchern vorgelesen, doch zur Welt kam ein Mädchen, das sie auf den Namen „Claudia“ tauften, als Kompromiss. Als Francesco noch zur Schule ging, wollte er später Carabiniere werden, denn das Wort eines Carabiniere hat Gewicht, einem Carabiniere macht man so leicht nichts vor, so fand er. Ein Carabiniere blickt streng und übt Macht aus, indem er zu strafen vermag, und der weiße Pistolengurt sieht doch so vornehm aus. Doch für diesen Dienst, erkannte er später schmerzlich, war er zu wenig sportlich, seine Lungen fassten nicht genug Luft und seine Beine waren nicht kräftig genug, um allein den Teil der Aufnahmeprüfung für die Akademie im Dauerlauf zu bestehen. Wohl legte er die Reifeprüfung ab, doch für ein Studium reichte seine Gedankenkraft nicht. Er fand eine Stelle als Sachbearbeiter in der Vertriebsabteilung einer mittelgroßen Firma, die Spritzgussmaschinen und die dazugehörigen Werkzeuge erzeugte und in viele Länder dieser Welt verkaufte. Sein in der Schule gelerntes Englisch war leidlich, er hatte keine entsprechende Ausbildung, daher mangelte es ihm an technischem Geschick, in wirtschaftlichen Belangen war er bewanderter, er kalkulierte exakt die Gestehungskosten und erstellte komplizierte Rückzahlungspläne, doch da er auch das Zehn-Finger-Systems an der Computertastatur nicht beherrschte, war sein Arbeitstempo zu gering, um zeitgerecht die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Noch während der Probezeit luden sie ihn zum Gespräch. Der Inhaber der Firma war anwesend, der Leiter der Personalabteilung und der des Vertriebes. Alle waren sie gehüllt in feinstes Gewand. Der Firmeninhaber trug gar Manschettenknöpfe und ein lilafarbenes Einstecktuch, Francesco wusste um seinen Maserati, der direkt neben dem Eingang des Firmengebäudes stand und um die Sträuße von Rosen, die er die Sekretärinnen besorgen ließ, um sie seiner jeweiligen Geliebten zu schenken. Die Anzüge aller dreien saßen auf Maß, das Schuhwerk war dezent und teuer. Sie hatten ernste Mienen aufgesetzt und eröffnetem ihm ohne vieler Umschweife, er sei den Anforderungen dieser Position doch offensichtlich nicht gewachsen und daher würden sie sich von seiner Person trennen, heute sei sein letzter Arbeitstag. Keiner rechte ihm zur Verabschiedung mehr die Hand. „Euch werde ich es noch zeigen. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt“, dachte Francesco bei sich, als er die gläserne Tür zum Eintritt, der nun für ihn ein Austritt war, hinter sich schloss. Diese Rachegelüste indes vermochte er nicht zu befriedigen, wohl wusste er von unsauberen Geschäften und von Überweisungen unversteuerter Gelder auf Bankkonten in Steueroasen, doch lagen ihm keine Beweise vor und so waren ihm die Hände gebunden. Die freie Wildbahn des gierigen Wirtschaftslebens war nicht das Richtige für ihn, das war ihm klargeworden. Einer von Francescos Onkeln war Beamter, und er riet ihm, sich bei der Finanzverwaltung zu bewerben, die Arbeit dort sei zwar nicht allzu gut bezahlt, doch wäre es eine Stelle, die verspräche Sicherheit. Francesco zögerte ein wenig, er wälzte Gedanken, sich selbständig zu machen, die er jedoch bald wieder verwarf, denn es fehlte ihm nicht nur an Kontakten, sondern auch an der dazu erforderlichen Risikobereitschaft. Also, was bliebe ihm übrig, er hielt keine speziellen Fähigkeiten inne und sein Kopf war nur von einem mittelmäßigen Licht, er schrieb den Bewerbungsbrief. Sein Onkel intervenierte, und sie stellten ihn ein. Er war nun Finanzbeamter im örtlichen Armt, versorgt, doch es reichte nur für Ravioli und nicht für Krabben. Sein Zuständigkeitsbereich war jener der Steuerprüfung, vor allem bei Firmen, bei Einzelunternehmungen bei denen den Besitz innehaltenden Privatpersonen. Er teilte sich mit einem älteren Kollegen ein Büro, das war mit furnierten Spanplatten eingerichtet, die Jalousien waren schmutzig und die Fenster ebenso, sodass kaum je Sonnenlicht drang herein. Das typischste Geräusch war das Gluckern der Kaffeemaschine, gefolgt von dem leisen des Papierumschlagens in den Akten. Der Kollege, der ihn einarbeitete, gab ihm den Ratschlag mit auf den Weg, „es gemütlich angehen zu lassen, wir sind ja schließlich ein Staatsbetrieb“. Eines Abends bei einem Kaffeehausbesuch lernte er Sara kennen, sie saß verloren in einer Ecke und las ein Modejournal. Sie war zwar weder besonders attraktiv noch übermäßig hellsichtig, doch war sie die Beste, die ein Mann in seiner Position für sich gewinnen könnte. Sie wurden ein Paar, durchlebten auch sinnesfreudige Zeiten von Muscheln Suchen am Meer, von ausgelassenem nächtlichen Ausgehen und sich einen Schwips antrinken, von Almwanderungen und kristallklarem Wasser, mit dem aus Quellen sie sich labten. Sie schlossen den Bund der Ehe, doch mit den Jahren schwanden die Farben und an ihre Stelle setzte sich dumpfes Grau in verschiedenen Schattierungen. Als Claudia geboren wurde, war dies wieder ein Farbklecks, der aber bald wieder weggewischt wurde von dröger Monotonie. Im Amt durchforstete Francesco Steuererklärungen und die ihnen zugehörigen Berge von Ordnern, er besuchte auch die Firmen in deren Räumlichkeiten, um vor Ort die Bücher zu prüfen. Und wenn er dort in meist abgesonderten Kammern saß, die aus nicht viel mehr als aus einem Schreibtisch und einer Lampe bestanden, und er nicht mal ein Glas Mineralwasser annehmen durfte, um nicht als korrupt zu gelten, und wenn er ins Freie sah und dort den geparkten blankpolierten Lancia Thesis des Unternehmers erblickte, dann erinnerte er sich des Versprechens, dass er anlässlich seiner damaligen Entlassung gegeben hatte, und er fragte sich, warum er denn nur einen von Rostbeulen verunzierten Alfa 146 fuhr. Dann forschte er nach wie besessen, er rekonstruierte die Flüsse von Geldern, solange, bis er Ungereimtheiten fand, er blieb sogar auch ohne Überstunden zu verrechnen an dem ihm zugeteilten Tisch sitzen, er beantragte Verfügungen zur Öffnung von Konten. Er wies den Unternehmern Unrechenschaftsmäßigkeit nach. Er ließ sie Steuern nachzahlen, war es ihm möglich, zeigte er sie auch gerichtlich an. Er genoss es, wenn die hübschen jungen Sekretärinnen aufgebracht wie Wespen durch die Büros schwirrten und sich Sorgen um den Fortbestand ihrer Arbeitsplätze machten. Er war der Hecht im Karpfenteich. Sein letzter Fall, bevor Francesco sich zu mir bemühte, war die Prüfung der Einnahmen-Ausgabenrechnung eines Hoteliers. Er mietete sich inkognito ein, blieb zwei Nächte. Als er die Zahlung beglich, erhielt er keinen Nachweis ihrer. Nach Ablauf einer Woche kehrte er wieder, diesmal von Amts wegen. Er drehte die Bücher des Hoteliers vollkommen um, er nahm seine Geschäftstätigkeit regelrecht auseinander. Die Summe, die er als nachzuversteuernde errechnete, war eine horrend hohe. Der Hotelier war nicht nur gezwungen, den Konkurs anzumelden, er musste auch eine Gefängnisstrafe wegen Untreue antreten. Er verlor nicht nur sein Hab und Gut, sondern auch seine Freiheit. Was Francesco nicht gewusst hatte jedoch war, dass von den beiden Kindern des Hoteliers eines gelähmt im Rollstuhl saß und das andere war von Blindheit geschlagen. Vor zwei Jahren hatte er seine Frau, die an Krebs gelitten hatte, beerdigt. Die Kinder waren nun ohne ihren Vater und wurden fortan in einem schäbigen staatlichen Waisenhaus untergebracht. Das stand eines Tages in der Zeitung, die Francesco am Frühstückstisch las. Er schämte sich und vermeinte zu sehen des Herrn anklagenden Finger, der auf ihn gerichtet war. Um sich von seiner Seelennot zu erleichtern, sprach er nun zum Herrn durch mein Ohr. Der Hecht war nun am Angelhaken des Fischers, er lag im Trockenen und schnappte nach Luft. Doch er brachte Wasser, um zu überleben, also vergab ich ihm im Namen des Herrn und warf ihn somit wieder zurück ins Meer.

So viele Jahre schon verrichte ich mein Werk als Priester und die Zahl der Beichten, die ich bereits abnahm, kann sich messen mit der der Sterne in der Milchstraße, und trotzdem geht es mir nahe, was ich da höre, ich bewundere wirklich die Güte des Herrn, dass er all den Sündern vorbehaltlos vergibt, wenn sie nur bereuen. Zum guten Teil liegt es ja auch an der Menschen jetztwärtigen Lebensführung, dass sie sich in Sünden verlieren. Das Angebot ist schier größer geworden, wie die Menge der Waren in einem Kaufhaus. Alles geschieht schneller, alles geschieht rascher, allein das Tempo der Schritte der zur Arbeit Eilenden ist ein beschleunigtes gegenüber dem vor Generationen. Wir arbeiten mit Computern, statt miteinander in Kommunikation zu treten. Die Entfremdung voneinander steigt. Und der lebendige Mensch ist bald nicht mehr wert als die von Software abgebildete Figur. Der Herr hat keine eigene Facebook-Seite. Hätte er eine, wie viele Freunde hätte er wohl? Unsere Gedanken sind voll von Zahlenwerk und Buchstabenkombinationen, Bankomat- und Kreditkartencodes, Passwörter für das Log-in zu Webseiten. Die sozialen Netzwerke laufen der atmenden menschlichen Gemeinschaft den Rang ab. Wir sind ständig angespannt und fühlen uns so unter Druck, dass wir dankbar jede Abwechslung annehmen, die nur allzu oft eine mit Sünde behaftete ist. Die Lichter dieser Stadt sind der Nächten so hell, dass man viele der Sterne, die da sind, nicht mehr erkennt. Wie soll man denn Ruhe finden in der allgemeinen Hast? Mehr Kontemplation ist vonnöten, mehr Muße, mehr Andacht. Kaum einer nimmt sich noch die Zeit, mehrmals täglich zu beten. Immer mehr werden es, die nicht mehr gedenken des Herrn, die sich nicht scheren um seine Gebote und in Sünden schwelgen, die sie nicht als solche erkennen. Harre ein, Mensch, und besinne dich. Wer glaubst du denn, hat dich gemacht, wenn nicht der Herr? Findest du nicht, dass du ihm dafür etwas schuldig bist, und sei es auch nur deiner hellsichtigen Gedanken Wahrhaftigkeit? Trachte danach, dich seines Ebenbildes als würdig zu erweisen und verschwende nicht die Kraft deines Geistes, die Spannung deines Fleisches an unsinnige Taten, die gar frevlerisch sein mögen. Der Herr sei dein Hirte, der dich geleite auf Wegen, die mit deinem Zutun werden führen zur Glücksseligkeit. Nur wenn du ihm bereitest Gefallen, wirst du nach deiner hiesigen Zeit eintreten in sein Reich. Wie viele wenige Jahre sind das doch gegenüber der unermesslichen Ewigkeit. Du brauchst kein Mobiltelefon, um zu deinem Herrn zu sprechen, es langt, einfach an ihn zu denken. Auch wenn deine Lippen sich nur tonlos bewegen, wird er jedes deiner Worte verstehen.

Nun ist mein Sündenkatalog bald abgearbeitet. Nur eine der als die des Todes bezeichneten fehlt noch, die sich „Acedia“ nennt, die der Trägheit des Herzens, worunter man Faulheit versteht, aber auch Gleichgültigkeit. Ihr Dämon heißt „Belphegor“, und er erscheint gerne in der Gestalt einer jungen Frau. „Gehe hin zu Ameise, du Fauler, siehe ihre Weise und lerne“, sagt die Heilige Schrift. Belphegor kümmert das nicht. Er stellt das Schlaraffenland dar als dein Ideal, in dem unter schattigen Bäumen du sitzest und deinen Mund offenhältst, auf dass gebratene Tauben hineinflögen. Auch legt er Dunkelheit in deine Seele und macht schwer dein Gemüt. So erhob er seine lockende Stimme zu Paolo, der nun neben mir im Beichtstuhl kniete. Seine Worte trug ich weiter zum Herrn. Ich bin sein Ohr und sein Mund.

Ich sah Paolo sofort an, dass er neu in der Stadt war, denn er trug einen dünnen Pullover unter der Weste. Die Weste war sehr weit geschnitten, da er ein sehr beleibter Mann war, spöttische Zungen würden gar sagen, er sei kugelrund gewesen. Seine Heimat war ein Bergbauernhof in der Emilia-Romagna. Er war der älteste Sohn, hatte den Hof jedoch nicht geerbt, denn Belphegor war ihm schon in der Jugend zur Seite gestanden, der Vater hatte davon gewusst, nicht zu verheimlichen war es gewesen, dass Paolo Krankheiten vorgetäuscht hatte, um der Arbeit auf den Feldern und im Stalle zu entgehen, und nach seinem Tode fiel der Hof seinem jüngeren Bruder Gennaro zu. Wahrscheinlich war es so gut gewesen, denn Paolo hätte ihn wohl am Kartentisch verspielt oder in Wirtshäusern durchgebracht oder seinen Wert in die zarten Hände reizender Konkubinen gelegt. Paolo war zeit seines Lebens ein rechter Müßiggänger. „Kommt der Tag, bringt der Tag“, war seine Devise. Vielleicht hatte es damit begonnen, dass er seinem Vater eröffnete, er wolle eine Lehre als Elektriker absolvieren, was den Vater wütend machte. Er ließ es nicht zu, Paolo sei dazu bestimmt, Bauer zu sein, und damit basta. Häufig beliebte Paolo zu klagen, er habe seinen gewünschten Beruf nicht ausüben dürfen und auch der Besitz des Hofes wurde ihm verwehrt. Kann sein, dass es noch früher geschah, dass er Belphegors Drängen nachgab und ihm das sein Rückgrat brach, als sie von der mittelgroßen Stadt, Paolo war damals noch keine zehn, in der sie geachtete Leute waren, ein Onkel hielt das Amt des Bürgermeisters inne, auf den Hof zogen, den der Vater erworben hatte, denn ihn dürstete nach eigenem Besitz, dessen Boden bestand aus mehr Steinen denn aus fruchtbarer Erde. Ab diesem Zeitpunkt jedenfalls lernte er in der Schule nicht mehr recht und fing stattdessen an, groben Unfug zu treiben. So platzierte er einen Spiegel unter dem Pult der Lehrerin und schrieb während der ersten Pause, in der die Lehrerin die Klasse verließ, die Farbe ihrer Unterhose mit Kreide an die Tafel, die nicht immer weiß war, sonst wäre es ja auch kein Spaß mehr gewesen. Wohl gab sich Paolo Mühe, in Hochsprache mit mir zu sprechen, doch war die breite Mundart des Volkes seiner Region nicht zu überhören. Er war ein Fremdkörper in dieser Stadt, er passte nicht in sie hinein. Nicht nur, dass seine Kleidung war unpassend und sein Dialekt war von weither, es fehlte ihm auch an Distanz. Hielt er sich in einem der zwei Dörfer zu Fuße des Berges, auf dem sein heimatlicher Hof befand, auf, kannte er alle und jeden, und er pflegte, sie unaufgefordert anzusprechen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und schließlich selbst zu erzählen. Selten waren sie in Eile, also befassten sie sich mit ihm, und waren sie es manchmal doch, dann nahmen sie sich destotrotz die Zeit, wenigstens einige Worte mit ihm zu wechseln. Hier in der Stadt war dies nicht üblich. Doch dennoch redete er hier ihm wildfremde Menschen an, als wären sie langjährige Bekannte gewesen. Auch als er in meinen Gesichtskreis trat, sagte er: „Grüß Gott, Monsignore, schön Sie zu sehen. Ich habe da einiges auf dem Herzen, von dessen Last ich mich erleichtern möchte.“ Ich war Paolo bis dahin noch niemals begegnet und ich weiß, er meinte es nicht so, doch ich fand sein Auftreten als wenig respektvoll gegenüber mir als Vertreter des Herrn. Ich bedachte ihn mit einem scharfen Blick und Paolo wurde sogleich noch kleiner, als er ohnehin schon war, doch zu seiner Erleichterung sagte ich dann: „Komm, mein Sohn, ich lade dich zur Beichte.“ Während er nun kniete und erzählte, merkte ich, dass seine Art war keine unverfrorene, sondern nur eine wenig glückliche. Von der Schwere seines Herzens war des Anfangs nichts zu bemerken, doch nun vermeinte ich sie geradezu an meinem eigenen Leibe zu spüren, das zentnerschwere Gewicht, das Paolo in die Tiefe zog. Mal brach seine Stimme, mal riss das Band der von ihm gesprochenen Sätze. Seine Unsicherheit war klar ersichtlich. Sein zur Schau gestellter Übermut wich der Verzweiflung, die ihm zueigene Erdverbundenheit als Knecht seines Bruders der Unruhe des Geistes. Belphegors Stimme weist auf viele verschiedene Facetten und Tonlagen. Acedia ist eine weitgespannte Sünde, jetzt traten sie alle zu derselben Zeit bei Paolo ein. Eine handwerkliche Fachausbildung blieb ihm also verwehrt, er wurde des Vaters Gehilfe im Sägewerk, die liebste Arbeitszeit war ihm jene der Pausen, und er half gezwungenermaßen bei der Bewirtschaftung des Hofes, wobei er stets eine Tätigkeit, die heute nicht vonnöten war, verschob auf morgen. Als der Vater starb, fehlte ihm endgültig eine strenge Hand und er verbrachte seine Tage im Bette liegend und fernsehend, zwischendurch stand er auf, um etwas zu essen. Kurzzeitig verdingte er sich als Bauarbeiter, die Firma baute Straßen in einem anderen Teil des Landes. Schaute der Vorarbeiter weg, legte Paolo die Schaufel gleich zur Seite. Eines Tages rief seine Mutter bei der Firma an, um Paolo etwas mitzuteilen, und da erfuhr sie, dass er schon längst nicht mehr für sie tätig war, statt zur Arbeit zu gehen, hatte er sich ein Zimmer in der nahen Stadt gemietet und, wenn die Mutter dachte, er läge müde im Bett in einem Lager am Rande der Baustelle, verbrachte die Nächte in Gasthöfen. Wobei Paolo sich gut auskannte, das war über den Wuchs der Bäume, so arbeitete er zeitweilig als Holzfäller für wohlhabende Waldbesitzer, der Lohn war recht niedrig, doch Kost und Logis waren frei. Einmal war einer seiner Kollegen unachtsam gewesen, hatte den Keil von der falschen Seite in den Baum geschlagen, dieser fiel um und streifte Paolos Rücken. Er war zwar nicht allzu schlimm versetzt, doch es langte für eine Versehrtenrente. Nun hatte er nicht dessen viel, aber doch genug Geld, um denen ihm bedeutsamen Wirtshausbesuchen ständig zu frönen. War er jemandem nicht bekannt, erzählte er ihm abenteuerliche Geschichten über seine Person, er sei Großgrundbesitzer und verfüge über eine hunderte Hektar große Eigenjagd. Kam er dann anschließend wieder nach Hause, wurde aus seiner Fantasiewelt die wirkliche, in der er zu nichts nütze und lediglich geduldet war. Seine Mutter hielt stets über ihn ihre schützende Hand, womöglich nur deshalb, weil er ihr ähnlich sah, vielleicht erkannte sie auch die Versäumnisse ihres seligen Mannes, Paolos Vaters, und glaubte, Paolo darum ein sorgloses Leben nahezu frei von jeder Arbeit ermöglichen zu müssen. Doch als die Mutter starb, jagte ihn Gennaro vom Hof. Er zog in diese Stadt, die für ihn zu groß war, die ihn wohl schlucken würde, doch nicht verdauend in sich aufnehmen, sondern ihn wieder ausspucken. Und nun kniete er und sprach zu mir von seiner Not. Die schlimm war und nagte an seiner Seele wie an einem Stück Brot.

Als er geendet hatte, sprach ich aus die Formel, nicht die des Zauberers, sondern die des himmlischen Herrn: „Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.“ Und noch während er das Haus des Herrn verließ, dass ich mit meiner Kraft und meinem Glauben ausfülle, hörte ich ihn das Ave Maria beten, das zur Sühne ich ihm auftrug: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Paolos „Amen“ erreichte nicht mehr mein Ohr, da war die Tür zu meiner Kirche bereits wieder geschlossen. Wieder hatte ich eine Seele den Klauen des Teufels entrissen.

Und zum Dank an den Herrn sprach auch ich nun das Vaterunser: „Vater unser im Himmel! Geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Ich endete mit dem „Amen“.

Welche Schönheit liegt doch in diesen Worten und welche Pracht. Ich habe diesen nichts mehr hinzufügen.

Übrigens, mein Name ist „Gabriele“. Ich hoffe, ich bin ein würdiger Statthalter seiner auf Erden.


(Johannes Tosin)