Autobahn


Eben war er noch woanders,
der Tag ging und die Nacht kam,
was passierte, wusste er nicht mehr,
nur, dass er jetzt hier war.

Es war wieder Tag,
und er saß in einem Auto,
das er nicht kannte.
Er fuhr geradeaus und lange Kurven,
flache Anstiege und geringe Gefälle,
meistens war es eben.
Niemand leistete ihm Gesellschaft,
doch da waren vor, hinter, neben ihm
tausende, tausende von Autos.
Alle strebten sie in dieselbe Richtung.
Alle fuhren sie auf der Autobahn.

Welches Ziel hatte er?
Er hatte keines.
Er hatte nur eine Absicht,
und die hieß: weg!
Jeder Kilometer, den er sich von seinem Ursprungsort entfernte,
ließ ihn freier atmen.
Noch reichte es nicht für Glück,
doch nach mehr als tausend davon, und als der Tag sich senkte,
spürte er ein kleines Stück von Zufriedenheit in sich.

Er wollte an einem Parkplatz stehenbleiben
und sich für die Nacht zurechtmachen,
da fiel ihm auf:
Er war gar nicht müde.
Er hatte auch keinen Hunger und keinen Durst.
Nichts war auch da, um ihn zu stillen,
kein Waser, nichts zu essen, keine Zigaretten.
Wo war der Drang zu rauchen?
Er war nicht vorhanden.
Weder Brieftasche noch Handy hatte er bei sich.
Und hätte er im Kofferraum nachgesehen,
wäre da auch kein Koffer gewesen.

Also folgte er weiter den roten Lichtern.
Der Mond kletterte über den schwarzen Himmel,
und sie wurden spärlicher,
wie auch die weißen, die sich ihm näherten
und hinter ihm in der Nacht verschwanden.

Er sah auf die Spritanzeige.
Der Zeiger stand ganz rechts,
dabei hatte er nicht getankt,
und würde es wohl auch nie müssen.

Er fragte sich nicht, was er tat.
Er war für ihn selbstverständlich,
keine andere Tätigkeit auszuüben
als eben diese hier:
auf der Autobahn Auto zu fahren.

Der Morgen kam, und der Wind wurde stärker.
Möwen kreisten, viel Wasser war an Land.
Er roch das Meer, bevor er es sah.
Er erwartete das Ende der Autobahn und einen Hafen,
mit der Fähre überzusetzen und dann weiterzufahren.
Der Hafen kam, aber die Autobahn endete nicht.
Sie führte über das Wasser auf gewaltigen Stelzen.
Soweit sein Blick reichte, soweit stand sie,
und gewiss noch viel weiter,
wie eine gespannte Schnur.
Die er nun entlangfuhr,
unter sich den ungezähmten Atlantik.

Die Sonne kam und die Sonne ging.
Er zählte ihre Zyklen nicht.
Nie war ihm langweilig,
nie brauchte er eine Pause.
So wie es war, war es für ihn völlig normal,
nicht anders dürfte es sein.
Er war einer der ziehenden Fische,
der einzige von ihnen,
der Lungen statt Kiemen hatte.

Irgendwann nach langer, langer Fahrt
wurde das Wasser heller,
bald dann schwammen Kisten, Flaschen und anderer Unrat,
und wieder zogen die Möwen ihre Bahnen.
Die Fackelfrau begrüßte ihn,
hinter der lag die Hauptstadt der Welt.
Die Autobahn durchschnitt sie.
Er hielt nicht, aber er drosselte das Tempo,
um möglichst viele Eindrücke zu fangen.
Die Häuser waren höher, die Menschen bewegten sich schneller.
Sie wirkten zielgerichteter.
Als Reisender sieht man nur die Oberfläche,
doch das könnte es sein.

Es folgten Weizenfelder
in einem schier endlosen Gelb.
Seine Zufriedenheit stieg,
er überschritt die Schwelle zum Glück.
Es ging nach Norden.
Nach weiteren Erdendrehungen
lag das Land weiß von Schnee,
und was Wasser war, war nun Eis.
Doch er fror nicht,
obwohl die Heizung nur auf niedrigster Stufe lief.

Wieder durchmaß die Autobahn ein Meer,
die Beringstraße.
Die Schiffe, die nebenher fuhren,
waren wie große Tiere,
die alles brachen, was sich ihnen in den Weg stellte.
Diesmal begehrte die See nicht auf,
denn sie war gefangen in einer glasierten Schicht.

Nach Süden nun führte der Weg des Asphalts.
Die Stimmen aus dem Radio
klangen wie ein Lied ohne Anfang und Ende.
Er machte nie Halt,
doch es gab auch nicht viel, weshalb es sich gelohnt hätte.

In einem Bogen zog sich das graue Band
wieder nach Westen,
in die Steppe und durch sie hindurch.
Wo kein Baum stand,
und nichts war außer Gras und Pferden, Pferden.
Wo kaum Ortschaften waren,
und es die Reise eines Tages war von einer zur anderen.

Die Tage kamen und die Nächte gingen,
und es war einerlei, wo er sich befand.
Es war öd und es war trostlos.
Sein Glück war wieder dahin,
und kein Bissen von Zufriedenheit war mehr übrig.

Er würde fahren, bis er wieder zuhause wäre,
bis zum Ende seines Traums.
Sein Schlaf würde weichen
und die Wirklichkeit neu beginnen.

 


(Johannes Tosin)